2020
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Vermittlung , Performance , Aktivismus , How-to , Schreiben
Experimente lernen, Techniken tauschen

HOW TO

RADIKALE PLANUNG

1. Bilde eine Gruppe

2. Nehmt euch Zeit (egal wie viel, Hauptsache der Rahmen ist fix)

3. Findet ein Problemder vage begriff des Problems wird im text
genauer bestimmt werden und das feld beschrieben, aus dem Probleme kommen
können / gekommen sind.

Um die Suche zu erleichtern, nehmt einen Text, ein aktivistisches Projekt,
ein Kunstwerk oder eine Handlung und sucht darin das Problem.
Vorsicht: das Offensichtliche ist oftmals
nicht das interessanteste Problem, sondern
meist schon ein gelöstes.

4. Benennt die Bösung
Anstatt eine Lösung des Problems zu erarbeiten,
wird eine Lösung benannt (erfunden).
Ihr Name (und auf den kommt es an) dient als
Operator für den weiteren Entwurfsprozess.
Der Name darf nicht geändert werden.
Nehmt den Namen nicht zu wichtig.
Maximale Dauer der Namenfindung beträgt 5 Minuten. seid strikt!
Statt eines Begriffs, darf die Lösung auch aus
einem Bild, einer Zeichnung, etc. bestehen.
Stellt sicher, dass es etwas ist, auf das ihr
euch im weiteren Prozess schnell beziehen könnt.

5. Analysiert eure Lösung
Was muss die Lösung können / bewirken?
Welche Geschichten erzählt sie, welche Bilder entwirft sie?
Welche Eigenschaften muss sie haben?
(auch aus sicht derer, die nicht teil eurer Gruppe sind (Sorge)).
Auch eine scheinbar gemeinsame Lösung artikuliert sich oftmals für
jede*n ganz unterschiedlich.
(Verschwendet keine Zeit darauf zu bestimmen, was die Lösung ist).

6. Entwerft einen Lösungsweg
Verbindet die spekulative Lösung mit dem hier und Jetzt.
Macht das spekulative spekulativ-pragmatisch.
nutzt dafür alle Entwurfstechniken, die ihr kennt und die euch zur
Verfügung stehen:
> Notieren, Collagieren, Simulieren,
Zeichnen, Modellieren, Berechnen,
Träumen, Proben, Schreiben,
Skalieren, Filmen, Montieren,
Ordnen / Systematisieren, etc.
Stellt sicher, dass ihr nicht einfach das Problem als Lösung genommen habt.
Lösungen sind nicht einfach Idealzustände ohne Probleme, sondern Teil eines Prozesses.
Wenn euer Ergebnis das Problem gelöst hat, war das Problem schlecht.
Finde eine neue Lösung.

7. Lasst die Lösung offen
• Am Ende habt ihr viele Lösungen für viele andere Probleme gefunden, das reicht.



Radikal Planen kann jede*r. Im Seminar, in der Lesegruppe, bei der Probe, im Studio, bei der politischen Aktion, bei der Textlektüre. Man braucht nicht viel – nur viele. Denn planen macht man nicht allein. Eine Gruppe sind viele, Kommilitonen*innen wie Freund*innen, Künstler*innen und Genoss*innen, Kolleg*innen und zufällige Bekanntschaften können zu vielen werden. Sogar man selbst kann zu vielen werden. Doch wie macht man das gemeinsame Planen zum radikalen Planen?

Radikal zu planen bedeutet einerseits das Planen zu affirmieren, anderseits das zu Planende von der Planbarkeit zu befreien. Radikales Planen ist zukunfts- aber nicht zielgerichtet. Allzu oft führt die Abkehr von dem Phantasma einer umsetzbaren Zielgerichtetheit zu einer Absage an jegliche Form der Gestaltung und Einflussnahme auf die Zukunft. Das Denken zieht sich dann auf eine reine Kritik des Bestehenden zurück, während Handeln komplett zum Erliegen kommt. Wie ist also ein in die Zukunft gerichtetes Denken und Handeln möglich, das über seine eigenen Ziele hinausgeht, statt hinter diese zurückzufallen?

Fred Moten und Stefano Harney nennen dies in ihrem Buch Die Undercommons »flüchtige Planung« (2016): »In den Undercommons des sozial reproduktiven Bereichs sind die Mittel, das heißt die Planer_innen, immer noch Teil des Plans. Und der Plan besteht darin, in einem gemeinsamen Experiment die Mittel zu erfinden, das in jeder Küche, auf jeder Hinterhof-Veranda, in jedem Untergeschoss, in jedem Korridor, auf jeder Parkbank, auf jeder improvisierten Party, in jeder Nacht lanciert wird.« (2016: 87) Planen wird bei Moten und Harney zu einer existentiellen Praxis, eine die sich nicht vom Leben der Planenden trennen lässt. Mit ihr verändert sich der Plan wie die Planung selbst. Oder noch einfacher ausgedrückt: Mit ihr verändert sich das Ganze. »Planung in den Undercommons ist keine Aktivität, es ist nicht Fischen oder Tanzen oder Unterrichten oder Lieben, sondern das unaufhörliche Experiment mit der zukünftigen Gegenwart von Lebensformen, die solche Aktivitäten ermöglichen.« (2016: 87).

Planung ist – solange sie radikal und flüchtig bleibt – die Möglichkeit im Lernen über das Lernen hinauszugehen. Was als Lerngruppe beginnt, kann als Kollektiv enden. Eine Probe kann zu einem Aktionstraining werden. Wer am Anfang nur den Text verstehen will, plant am Ende eine Besetzung.

Punkt 3 des radikalen Planens lautet: »Findet ein Problem«. Das ist nicht leicht. Es ist immer schwerer als die Lösung, und die ist schon nicht leicht. Denn leichte Lösungen sind meist langweilig. Schwierig wird es vor allem, weil es – so schreibt es Henri Bergson – ›wahre‹ und ›falsche‹ Probleme gibt. Die schwierigere Aufgabe ist es also, »das Problem zu finden und es infolgedessen richtig zu stellen, als es zu lösen.« (2008: 66, Herv. i. O.). Es ist dabei vor allem das Verhältnis zur Lösung, das ein richtig gestelltes Problem von einem falschen unterscheidet. Letzteres impliziert seine Lösung schon, hält diese im Verborgenen verdeckt und es »bleibt nur noch die Aufgabe übrig, sie zu entdecken.« (Bergson 2008: 66, Herv. i. O.) Neues hat hier keinen Platz. Da auch das Stellen des Problems Teil des Planungsprozesses ist, wird so dessen Radikalität verhindert. Geplant wird hier das, was bereits zu Beginn bekannt ist und lediglich ausgeführt werden muss. Proben im Studio, deren Ergebnis bereits im Kopf der*s Regisseur*in vorhanden ist, sind dabei ebenso durchdrungen von falschen Problemen wie Textlektüren, deren Lesart
vorgegeben
wird. Doch die Hoffnung bleibt, denn jede*r, die*der schon mal im Probenraum stand oder im Seminarraum saß, weiß: Ohne Veränderung funktioniert Planung nicht. Immer wieder kommt es zu Anpassungen, Missverständnissen, Umdeutungen, neuen Ideen und ganz anderen Wegen. Planung befindet sich immer auf Abwegen und ›wahre‹ Probleme kommen zum Vorschein. ›Wahre‹ Probleme evozieren genau die Formen der Planung, die diese Veränderungen befeuern und den Prozess somit radikal machen. Sie rufen – so Bergson – »etwas ins Dasein, was vorher noch nicht war« (2008: 66). Etwas Neues wird produziert. Dieses Neue – und das macht den Akt der Planung so zentral – wäre jedoch ohne die Planung nie entstanden.Dieser Aspekt wird von Bergson vor allem in der zweiten Satzhälfte hervorgehoben, die lautet: »es wäre auch möglich, daß sie niemals erfolgt wäre.« (2008: 66).

Da sich das ›wahre‹ Problem nicht in seiner Lösung erschöpft, sondern vielmehr zur Erfindung immer neuer Lösungen drängt, ist es die Technik (oder Taktik?) der radikalen Planung, der Lösung nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken (Punkt 4). Es geht um Planung, nicht um den Plan (Lösung). Der Prozess des Planens darf nicht verwechselt werden mit einem Strom zufälliger Ereignisse. In der Planung sollen gerade jene Probleme gefunden werden, die den Prozess und die gesamte Situation auf unvorhersehbare Weise verändern. Unvorhersehbarkeit bedeutet jedoch keineswegs Zufall. Weder die Lösung noch das ›wahre‹ Problem entstehen ›von selbst‹ (das hieße: durch Zufall). Um sie zu finden, bedarf es des Akts der Planung und nicht einfach eines Plans.

Radikales Planen ist lernen im Entwurf. In jedem Akt der Vermittlung, des Teilens, des gemeinsamen Denkens findet Planung statt. Sie ist – so ließe sich vielleicht sagen – der undercurrent des Lernens. Als Opfer von Verstehen-Wollen und Können-Müssen, wird Planung allzu oft verdrängt und zum unbeachteten und ungewollten Teil des Prozesses. Als kollektive Technik steuert die radikale Planung dieser Dynamik entgegen. Sie ist der Einsatz von Techniken zur Veränderung des Bestehenden. Bei ihr sind zwei Eigenschaften der Technik zentral: Erstens ist die Technik auf die Produktion von Möglichkeit und nicht auf Beherrschung (mastering) gerichtet. Zweitens – und damit einhergehend – verschiebt die Technik das Bewertungssystem der Planung: Nicht die Erfüllung vorgegebener Ziele, sondern die Erschaffung von Unvorhergesehenem, bilden die Wertsysteme radikaler Planung.

Als Technik unterscheidet sich die Planung von Handlungen, die durch ihre Ungerichtetheit auf Freiheit und Kreativität setzen. Diese Handlungen fallen nur allzu oft in individuelle Gewohnheiten zurück, Neues oder Kollektives entsteht dann kaum. Die Techniken der radikalen Planung dienen dem Durchbrechen von Gewohnheiten und der Umlenkung von Denken und Handeln.

So wie das radikale Planen eine Technik der Vielen ist – eine Technik, die viele beteiligt und die selbst vervielfältigt – so operiert sie immer auch im Zusammenspiel mit anderen Techniken. Versuche im Studio mittels radikaler Planung zu verfahren. Es wird keine fünf Minuten dauern und jegliche Prozesse werden versandet sein. Versuche einen Text mittels radikaler Planung zu diskutieren. Allein dafür sind mindestens die Techniken des Lesens, des Sprechens und des Zusammenkommens notwendig. Nur einige werden davon intentional eingesetzt, andere sind habitualisierte Techniken des Alltags. Über die wenigsten denken wir nach, wenn wir sie verwenden. Und so ist die radikale Planung nicht einfach eine Technik, sondern operiert immer transversal: Sie ist eine Technik des Vielen. Sie ist selbst ein Zusammenspiel intentionaler und nicht-intentionaler Techniken. Womit sich auch das eingangs aufgeworfene Problem der Zielgerichtetheit und das damit verbundene Verständnis von Techniken als mastering erledigt haben.

Spekulation ist integraler Bestandteil jedes Planungsprozesses, oder, anders formuliert: Planen ist eine Form der Spekulation. Unterscheiden lassen sich die Weisen der Spekulation wiederum durch ihre Gerichtetheit. Bilden sie eine gerade Linie zwischen Problem (falsch) und Lösung, oder gehen sie von einem Problem (wahr) aus, ohne bereits die Richtung der Lösung (math.: den Lösungsweg) zu kennen? Die Kunst radikalen Planens setzt nun den Planungsprozess in Gang, ohne jedoch die Richtung vorzugeben, in die er verlaufen soll. Wie kann man einen Prozess am Laufen halten, ohne seine Koordinaten zu bestimmen? Die Lösung der radikalen Planung ist einfach. Punkt 4: Benenne die Lösung. Wichtig ist dabei: Nimm sie nicht zu wichtig. Der Name ist erstmal alles. Nur wenn die Lösung zu einem Platzhalter degradiert wird, ist ihr Einfluss auf den Lösungsweg gering genug, um diesen spekulativ zu halten. Ihr Zweck ist doppelt (was ihre Wichtigkeit jedoch nicht steigert): Erstens, dient sie dazu, den Prozess in Gang zu setzen und zu vermeiden, dass er in seiner eigenen Antriebslosigkeit kollabiert. Zweitens, sollen andere vorschnelle Lösungen verhindert werden, die im Planungsprozess den Weg und die Sicht verstellen. Natürlich ist dies ein gefährliches Verfahren, und das Risiko, dass die Lösung vom Namen zur Richtung und damit zu wichtig wird, ist hoch. Geschwindigkeit ist eine gute Vorsichtsmaßnahme: Bloß nicht zu lange bei der Lösung verweilen, sie ist ein schwarzes Loch. (Punkt 4b ist daher nicht zu unterschätzen: Wer länger als nötig verweilt, wird ins Loch der Lösung gerissen.)

Spekulation treibt die Planung vom Problem in die Zukunft. Doch dies bedeutet nicht, die Umstände hinter sich zu lassen. Bereits die Problemstellung situiert den Lösungsweg in einer konkreten Situation. Diese ist genauso wichtig wie das Spekulieren. Denn merke: Planen ist wie Fliegen, es funktioniert nur im Zusammenwirken von Flugbahn (Spekulation), Start- und Landeplatz (Situation) (Whitehead 1987: 34). Erst durch Spekulation und Situation wird Planung radikal und verliert sich nicht im beliebigen Spiel der Gedanken. Jede Konfrontation mit dem Material unserer Arbeit hilft dabei – sei es ein Text, der eigene Körper, ein Instrument, die politische Situation oder das Studio mit seinen Wänden. Dies alles sind materielle Situationen, von denen aus und mit denen wir planen. Sie führen zum Denken und Handeln, ihre Kräfte gilt es – wie Isabelle Stengers schreibt – in der Planung aufzunehmen: »Es geht hier darum, ›der Situation die Macht zu geben, die uns zum Nachdenken anregt‹, in dem Wissen, dass diese Macht immer eine virtuelle ist, dass sie aktualisiert werden muss. Die relevanten Werkzeuge, die Werkzeuge zum Denken, sind dann diejenigen, die diese Macht der Situation angehen und aktualisieren, die sie zu einem besonderen Anliegen machen, mit anderen Worten, uns nachdenken und nicht wiedererkennen lassen.« (Stengers 2005: 185, Übers. G. E.)

Während Stengers die Kräfte der Situation für den Prozess der Planung hervorhebt, ist ihre spekulative Kraft zugleich immer auch transsituativ: Sie nimmt die Kräfte der einen Situation auf, um sie in einer anderen wirksam werden zu lassen (wobei nicht zu vergessen ist, dass ›Situation‹ nicht einfach etwas Gegebenes ist, sondern immer erst im Akt der Planung entsteht – Situation und Spekulation sind in der Planung ko-emergent). Denken und Handeln zu situieren, bedeutet somit nicht einfach es in einer gegebenen Situation zu verorten, sondern spekulativ von einer Situation auszugehen, die durch die Planung erst entstehen wird. Das Ausgehen-von wird damit zu einem Spekulieren-mit: Mit der Situation planen, sie als immanenten Teil der Planung verstehen
und nicht als das zu planende Objekt (Ziel, Lösung, Endprodukt). Auch wenn (oder gerade weil) die Situation am Ende eine andere sein wird, ist der Prozess der Planung ihr nicht äußerlich. Planung ist nur in dem Sinne situativ, in dem sie zum prozessualen Teil des planerischen Denkens und Handelns wird. Situation ist ein Prozess und kein Ort.

Erin Manning nennt diesen Akt situativ-spekulativer Planung eine »kleine Geste«: »Das Minoritäre ist nicht im Voraus bekannt. Es reproduziert sich nie in seinem eigenen Bild. Jede kleine Geste ist auf singuläre Weise mit dem betreffenden Ereignis verbunden. Sie ist dem Akt immanent: Das macht sie pragmatisch. Aber die kleine Geste überschreitet auch die Grenzen des Ereignisses und berührt die unaussprechliche Qualität ihres Mehr-als: Das macht sie spekulativ. Die kleine Geste arbeitet im Modus des spekulativen Pragmatismus« (2016: 2, Übers. G. E.). Spekulativer Pragmatismus ist ein anderes Wort für die situative Spekulation der radikalen Planung. Pragmatisch ist dabei seine Bezogenheit – sei es auf die Situation, sei es auf die Effekte, die sie evoziert und evozieren wird. Radikale Planung ist wie der spekulative Pragmatismus niemals losgelöst, seine Prozesse – so ungerichtet sie auch sind – sind den Situationen immanent.

In der radikalen Planung, verstanden als kollektiver Prozess – sei es im Seminar, in der Probe oder im Gespräch mit Freund*innen – ist Erfahrung eine zentrale Form der Situierung. Von der Erfahrung zu berichten, sie in den planerischen Prozess einzubringen, sie als Situation für das gemeinsame Handeln zu verstehen, ermöglicht es zu vermeiden, dass die Situation auf das Hier-und-Jetzt reduziert wird. Erfahrungen zu artikulieren und gemeinsam über sie zu sprechen ist transsituativ. Dabei geht es nicht um das Auflösen der gemeinsamen Situation in das Nebeneinander individueller Positionen. Erfahrungen sind nämlich nicht nur transsituativ, sie sind auch transindividuell. Von ihnen und mit ihnen zu sprechen ist Teil zahlreicher Techniken und Methoden, die vor allem von feministischen Gruppen siehe hierzu den Beitrag der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe / Inga Zimprich in diesem Band , von Afroamerikaner*innensiehe hierzu bell hooks, weiter unten im Text sowie von Personen of Color siehe hierzu den Beitrag von Berndt / Bogojević in diesem Buch  in universitären und aktivistischen Kontexten eingefordert wurden. Zugleich wurde die Situierung durch Erfahrung, gerade aus einer weißen, männlich, sich selbst als unmarkiert wahrnehmender (und die eigenen Erfahrung als allgemeine Wahrheit begreifende) Position heraus, immer wieder mit dem Argument bekämpft: Erfahrung würde als Autorität ›missbraucht‹ werden, die jegliche Denk- (und somit Planungs-)Prozesse verunmöglichen würde. In Bezug zu der Kritik an dieser vermeintlichen »authority of experience«, und durch die Auseinandersetzung mit ihren eigenen pädagogischen Praktiken als afroamerikanische Professorin, schreibt bell hooks: »Jetzt beunruhigt mich der Begriff ›Autorität der Erfahrung‹, da ich mir sehr wohl bewusst bin, wie er verwendet wird, um zum Schweigen zu bringen und auszuschließen. Dennoch möchte ich einen Ausdruck haben, der die Besonderheit dieser in der Erfahrung verwurzelten Wissensweisen bekräftigt. Ich weiß, dass Erfahrung ein Weg sein kann, um zu wissen, wie wir wissen, was wir wissen, und dass sie uns darüber informieren kann. Obwohl ich mich gegen jede essentialistische Praxis wende, die Identität auf monolithische, ausschließende Weise konstruiert, möchte ich die Macht der Erfahrung als Standpunkt nicht aufgeben, auf den sich die Analyse oder die Formulierung von Theorien stützen kann«. (1994: 90, Übers. G. E.) Anstelle einer vermeintlichen »Autorität der Erfahrung« geht es hooks in ihrer pädagogischen Praxis um eine »Leidenschaft der Erfahrung [passion of experience]« (1994: 90, Übers. G. E.). Erfahrung ist zentraler Aspekt einer situiert operierenden Planung, doch sowie eine Situation nicht einfach gegeben ist, so ist auch das Einbringen der Erfahrung in den Prozess der Planung von diesem abhängig. Leidenschaft beschreibt hier gerade jenen Willen mit Erfahrung zu planen und die Erfahrung Teil des Planens werden zu lassen: Eben nicht nur als Teil der Situierung, sondern auch als Teil der Spekulation. Hier geht es nicht darum, Erfahrungen festzuschreiben oder als bereits festgeschriebene zu begreifen, sondern gerade eine Leidenschaft dafür zu entwickeln mit ihnen zu arbeiten: Erfahrungen werden selbst zu Techniken der Planung gemacht. Nur so wird die Planung radikal. Denn wenn Erfahrung oftmals als persönlich, individuell und das Gegenteil von (Planungs-)Techniken gesehen wird, dann geht es hier gerade darum Erfahrung und Technik gleichermaßen zu affirmieren: Planung wird zur Technik Erfahrungen aufzunehmen, sie zu kollektiven Prozessen zu machen und mit ihnen gemeinsam zu denken und zu handeln – oder wie bell hooks über ihre Arbeit im Seminarraum schreibt: »Ich frage sie, welcher Standpunkt eine persönliche Erfahrung ist. Dann gibt es Situationen, in denen persönliche Erfahrungen uns davon abhalten, den Gipfel zu erreichen, und so lassen wir sie los, weil sie zu schwer sind. Und manchmal ist der Berggipfel mit all unseren Mitteln, sachlich und bekenntnishaft, schwer zu erreichen. Dann sind wir einfach nur da, um gemeinsam zu begreifen, die Grenzen des Wissens zu spüren, gemeinsam zu verlangen und uns nach einem Weg zu diesem höchsten Punkt zu sehnen. Selbst diese Sehnsucht ist ein Erkenntnisweg.« (1994: 92, Übers. G. E.)

Es sind dabei gerade die nicht-dominanten Erfahrungen, die, die nicht von der Mehrheit geteilt werden, die dazu führen, dass Planung verändert und nicht das bereits Bestehende verfestigt. Dies ist die Politik der radikalen Planung: nicht auf das Festigen der bestehenden Verhältnisse gerichtet, sondern auf eine Veränderung. Eine Veränderung, die minoritäre und dennoch kollektive Erfahrungen aufnimmt, und mittels derer kollektiv geplant wird.


In der radikalen Planung weiß man nie, wie die Pragmatik der Spekulation sich ausspielen wird. Welche Effekte werden evoziert und welche neuen Prozesse in Gang gesetzt? Und doch ist die radikale Planung nicht beliebig. Die Hinwendung zur Situation, in und mit der sie durchgeführt wird, ist immer auch verbunden mit der Frage der Sorge. In ihrer radikalen Form ist Planung die Sorge für ihre Situation und sie ist eine Sorge für die Erfahrungen aller beteiligten. Denn mit Erfahrungen spekulieren ist immer eine prekäre Angelegenheit und bedarf höchster Aufmerksamkeit, da sich diese in und mit der Planung verändern (können) (auch hier und im Anschluss an Whitehead: Dies betrifft sowohl menschliche wie auch nicht-menschliche Erfahrungen) (beachte dazu Punkt 5c). Zugleich ist es die Erfahrung – verstanden als affektive Bindung – die die Planung zu einem Akt der Sorge macht. Sorge – hier in ihrem feministischen wie spekulativen Sinne Maria Puig de la Bellacasas verstanden – kümmert sich um das, was noch nicht und gerade im Entstehen ist. Puig de la Bellacasa schreibt: »Tatsachen als Sachen der Sorge zu verstehen erfordert [...] darüber nachzudenken, wie die Dinge anders sein könnten, wenn sie Sorge generieren würden.« (2017: 172) Treffender ließe sich auch die hier vorgeschlagene Technik der radikalen Planung nicht fassen. Planen ist ein Akt der Sorge in und für die Zukunft. Situiert in der Erfahrung ist die radikale Planung nicht die Sorge für das, was bereits schon (auf dominante Weise) existiert, sondern für das, was »in den vorherrschenden Verständigungsweisen ›unwahrnehmbar‹« bzw. noch im Entstehen ist (2017 : 168). Diesen Werdensprozessen wendet sich das Planen zu, es affirmiert sie und stärkt sie mittels ihrer Techniken. In der Erfahrung ist die Politik der Planung von einem »Ethos der Sorge« geleitet, die in den Worten Puig de la Bellacasa in der »Verpflichtung, (sich) zu sorgen« besteht, bestimmt durch die »spekulative Anstrengung [...] zu denken, wie Dinge anders sein könnten« (2017: 183).

Literatur

Bergson, Henri (2008):
»Einleitung (Zweiter Teil)«, in: ders.:
Denken und Schöpferisches Werden,
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt,
S. 42–109.

Harney, Stefano / Fred Moten (2016):
Die Undercommons. Flüchtige Planung
und schwarzes Studium, Wien u. a.:
Transversal Texts.

hooks, bell (1994):
Teaching to Transgress. Education
as the Practice of Freedom. London /
New York: Routledge.

Manning, Erin (2016): The Minor Gesture.
Durham und London: Duke UP.
Puig de la Bellacasa, Maria (2017):
»Ein Gefüge vernachlässigter ›Dinge‹«,
in: Tobias Bärtsch, et al. (Hg.): Ökologien
der Sorge. Wien u. a.: Transversal Texts,
S. 137–188.

Stengers, Isabelle (2005):
»Introductory Notes on an Ecology of
Practices«, in: Cultural Studies Review 11,
Nr. 1, S. 183–196.

Whitehead, Alfred North (1987):
Prozess und Realität. Entwurf einer
Kosmologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.