2021
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Affekt , Schreiben , Differenz , Praxis , Klimawandel , Unterbrechung , Ökologie
Zukunft, gefaltet

OUT OF THE BLUE. ÜBERS UNTERBRECHEN

Wie beginne ich einen Text über das Unterbrechen, ohne mich
selbst sofort zu unterbrechen? Wie beginne ich ein Unterbre-
chen, anfangend unterbrechen, unterbrechend anfangen? Wie
kann ich das Unterbrechen schreiben, wenn das Schreiben selbst
eine Unterbrechung bedeutet? Einen Text nicht schreiben, son-
dern stottern? Man könnte aus dem Unterbrechen ein Verfahren
machen und schreibend immer wieder neu anfangen, immer
wieder unterbrechen, so wie Nietzsche einem Statement Batail-
les zufolge: »Er verfuhr nach Einfällen, in alle Richtungen seine
Fähigkeiten ausspielend, sich an nichts bindend, immer wieder
anfangend, nicht Stein auf Stein setzend.«Georges Bataille, Die innere Erfahrung, München: Matthes & Seitz 1999, 45.

Natürlich ist es kein Zufall, dass Bataille
an dieser Stelle ausgerechnet Nietzsche erwähnt, den Pionier
dessen, was Blanchot einmal als »die fragmentarische Schrift«
bezeichnet hat;Maurice Blanchot, »Nietzsche und die fragmentarische Schrift«, in: M.B., Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, hg. von Marcus Coelen, Zürich und Berlin: diaphanes 2010, 179–206. folgt man diesen Überlegungen, hätte man also
zwei Schreibweisen, zwei Ästhetiken des Anfangens, eine »Stein
auf Stein setzende«, systematische Schreibweise, die irgendwo
anfängt, einen Stein hinzusetzen und die mit jedem nächsten
rechnet
, eine berechnende Schreibweise, und dem gegenüber
ein unberechenbares Schreiben, »nach Einfällen, in alle Richtun-
gen seine Fähigkeiten ausspielend, sich an nichts bindend«, das
immer wieder neu anfängt, bis ...

... der Rechner klingelt. Während ich an
einem Oktobermorgen die ersten Sätze über das Anfangen
schreibe, werde ich unterbrochen. Ein Video-Anruf einer Freun-
din, die gerade eine beunruhigende medizinische Nachricht
erhalten hat. Ich nehme an, was ich so früh nur selten mache, um
meinen Schreibfluss nicht zu unterbrechen. Das Video-Gesicht
der Freundin in groß, ich in einem kleinen Fenster oben rechts
darüber. Während ich eben noch über etwas anderes schrieb,
erscheine ich plötzlich selbst; mein Gesicht setzt mich mir aus, ich
muss mich plötzlich selber sehen, meine nur mühsam verborgene
Unzufriedenheit über den Anruf, mein Annehmen, die Unterbre-
chung – und das auf dem gleichen Screen, auf dem ich gerade die-
sen Text über das Anfangen anfange.

Wir reden über ihren Fall, in dem es noch
nichts Definitives gibt. Alles noch vorläufig, alles noch aufgescho -
ben, die schlechte Nachricht noch nicht eingetroffen. In meinem
Text über das Unterbrechen unterbrochen werdend, erinnere ich
mich an einen anderen Text von Blanchot mit eben diesem Titel,
»Unterbrechung«Maurice Blanchot, »Unterbrechung«, in: ebd., 171–178., in dem er auf die Unterbrechung, die Pause
und die Vakanz hinweist, die jedes Gespräch ermögliche: Ein
Gespräch bestehe nicht aus den positiven Worten, die zwischen
zwei Gesprächspartnern ausgetauscht werden; die Bedingung für
diese Worte sei die negative Leerstelle, die entsteht, wenn ein*e
Sprechende*r ende, damit der oder die andere beginnen kann, die
Vakanz, in die ich meine Worte überhaupt erst einbringen und
ein-tragen kann: Ein Gespräch ist eine Aneinanderreihung von
Brüchen, es beruht nicht auf der Kontinuität der Worte, sondern
auf ihrer Diskontinuität und Unterbrechung.

Auch wenn diese konstitutive Brüchigkeit
des Gesprächs gewöhnlich nur bemerkt wird, wenn Störungen
auftauchen, z. B. wenn eine*r den oder die andere*n unterbricht,
tritt sie in unserer technischen Kommunikation aktuell unver-
mittelt in den Vordergrund: Auch wenn mein Gespräch mit D.
glatt läuft, kann die Verbindung jederzeit unterbrochen werden,
schließlich sehe ich kein Gesicht, sondern Pixel auf einem Screen,
die jeden Moment wieder durcheinandergewirbelt werden kön-
nen, ich höre die technische Übertragung einer Stimme, die jeden
Augenblick unterbrochen werden kann.

Was im Dialog einigermaßen glatt läuft,
artet in jeder Video-Konferenzschaltung mit mehr als zwei Teil-
nehmenden regelmäßig in den Videokonferenz-Slapstick dieser
Tage aus: Jedes Gespräch beginnt mit dem digitalen Stottern des
›Hört Ihr mich? Seht Ihr mich?‹, mit den Selbstvergewisserun-
gen von Sprechenden, die ihre Rede nicht unterbrechen müssen,
damit andere sprechen können, sondern deren Rede andauernd
technisch gestört und zerlegt wird, bevor überhaupt irgendeine
Sprache möglich wird: Kaum ein Gespräch ohne dauernde tech-
nische Unterbrechungen, ohne dass Teilnehmende rausfliegen
oder gemutet werden; zerhackte Pixel, zerbrochene Stimmen,
unterbrochene Gespräche allerorten; Gespräche, die nicht aufhö-
ren, nicht zu beginnen, weil sie aus einer Folge von Unterbrechun-
gen bestehen, weil sie auf einer digitalen Kondition beruhen, die
selbst Unterbrechung ist.

D. erzählt mir über unsere technische Ver-
bindung kurz die Befunde, die noch weiterer Klärung bedürften,
so ein Befund könne ja jederzeit das Leben verändern, out of the
blue
, sagt sie mit Schweizer Akzent ... Die Formulierung klingt in
mir, erzeugt eine Resonanz in mir – ja richtig, ich hatte neulich
den Abend einer hereinbrechenden Septembernacht auf einem
Berliner Häuserdach verbracht, an dessen Geländer die Künstle-
rin Marié Nobematsu-Le Gassic auf blauem Baunetz einen Schrift-
zug anbrachte.Im Rahmen der Intervention being with der weißensee – kunst-hochschule berlin am 17. September 2020 für die »Manifesta 13«, Marseille Musée Regards de Provence & Lobe Block Berlin, https://www.instagram.com/p/CE8-O6gFjVK/ (25.12.2020). Auf der blauen Bahn standen in blauen Lettern
dieselben Worte: Out of the ... wobei das Wort blue nicht mehr
auf dem Blau erschien, die Wendung brach mittendrin ab, ohne
Erklärung: Weil der Betrachter oder die Betrachterin es selbst auf
dem blauen Stoff ergänzen sollte, so dass sein oder ihr imaginäres
Wort blue in Gedanken an die Stelle des abwesenden Wortes blue
treten sollte? Handelte es sich um ein Spiel zwischen Anwesenheit
und Abwesenheit in der Berliner Dämmerung, in der die Präsenz
des Tages abnahm und die der Nacht zunahm? Wollte die Künstle-
rin Überlegungen über das Verhältnis zwischen Wort und Inhalt,
Signifikant und Signifikat anregen, die man frei nach Wittgen-
steins Bemerkungen über die Farben oder Maggie Nelsons Bluets
anstellen konnte? Die man anstellen konnte unter einem nun
vollends hereingebrochenen Berliner Nachthimmel, der nicht
aufhörte, immer tiefer zu werden, womit der Schriftzug immer
undeutlicher wurde?

Meine Aufnahme des Schriftzugs wurde
jedoch bald unterbrochen, und zwar durch mich selbst: Meine
Lektüre stockte, wie der Schriftzug selbst stockte, weil ich plötz-
lich nicht mehr wusste, was das Idiom out of the blue bedeutet.
Die Bedeutung des Vertrauten war mir entfallen, der Gedanken-
fluss wurde unterbrochen. Ich suchte Hilfe bei der Künstlerin, die
mir erklärte, man würde das Idiom im Deutschen am ehesten mit
›aus heiterem Himmel‹ übersetzen, was ebenfalls auf das Über-
raschende und Unvorbereitete von out of the blue hinweise. Noch
während ich überlegte, was die Plötzlichkeit der Wendung ›aus
heiterem Himmel‹ mit der Plötzlichkeit meteorologischer Verän-
derungen zu tun haben könnte – wie zum Beispiel, wenn man
die Wendung ›aus heiterem Himmel ...‹ mit ›... zog plötzlich ein
Gewitter auf‹ fortsetzen würde –, klärte mich die Künstlerin über
den Anlass ihrer Arbeit auf: Ihr Interesse an der Wendung out of
the blue sei von einem Text der britischen Autorin Deborah Levy
geweckt worden, aus dem sie auf einem Flyer die folgenden Zeilen
zitiert:

I was thinking about the phrase ›out of the blue‹.
It was so thrilling to think about the blue that
things came out of. There was a blue, it was big and
mysterious, it was like a mist or gas and it was like a
planet but it was also a human head which is shaped
like a planet.
Deborah Levy, Things I Don’t Want to Know, London: Penguin 2014, 51.

Ja, was war dieses »große und mysteriöse«
Blau des heiteren Himmels, aus dem die Dinge zu uns kommen,
jenes neblige oder gasförmige Nichts, in das wir hineinleben? Die
Zukunft, das Schicksal, das Nichtwissen? Ein großer gnostischer
Abgrund tat sich auf unter der blauen Bahn, hinter der es steil
abwärts ging. Dass der heitere Himmel auch weniger numinose
Überraschungen zu bieten hat, darüber klärte die nächste Seite
des Flyers auf. Dort stand der vergleichsweise schlichte Satz:

Out of the blue someone asked me where I was from.

Dieser Satz stand dort ohne Anführung und
musste also von der Künstlerin selbst stammen. Spricht die Künst-
lerin hier von sich? Von einem Moment, in dem sie aus heiterem
Himmel gefragt wurde, woher sie sei? Als ich sie später danach
frage, teilt sie mir Folgendes mit:

I realize now that I was referring to situations from
when I was in America, where I was born and raised.
Growing up, I was asked where I was from quite
frequently. When I came to Germany, knowing that
my belonging was conditional, perhaps temporary,
and ultimately, a choice, the tension of being asked
where I was from in America began to reveal itself.
The work and my reaction to the text is about being
forced to question your own belonging in a place
where you are supposed to belong – when you think
you belong until someone decides otherwise by asking.
The moment when someone else questioning your
belonging shifts your own sense of belonging.
Out of the blue attempts to address the ›unprepared
suddenness‹ of being asked such a question, and
while being in the ›blue‹ out of which the question
came, one is forced to reconstitute herself. A big and
thrilling and mysterious blue can also be confusing
and painful.

Die Künstlerin berichtet von einem klas-
sischen Moment des othering, in dem sie gegen ihren Willen
zur Anderen wurde und sich selbst in Frage stellte; von einem
Moment, in dem die naive Unbedarftheit des blue plötzlich seine
Schleier lüftet und in etwas Schmerzhaftes umschlägt, das aus
heiterem Himmel blitzhaft auf uns einschlägt. Aus Arglosigkeit
wird Bedrohung: Hat der heitere Himmel seine Unschuld ver-
loren? Lauern in heiteren Himmeln nur noch Unwetter, Stark-
regen und erbarmungslose Gottesurteile? Mich erinnerte das
Statement der Künstlerin an Diskussionen, die ich vor einigen
Semestern mit Studierenden eines Seminars mit dem Thema
Herkunft
geführt hatte; lebhaft hatten wir debattiert, ob die
Frage ›Wo kommst Du her?‹ so rassistisch sei, wie es Tausende
Internet-Einträge nahelegen.
Auch D.s out of the blue hatte einen Moment
bezeichnet, in dem sie in der Unschuld eines Morgens kalt erwischt
wurde und ein mysteriöses Blau plötzlich in eine definierte Aus-
sage umschlug: in eine Nachricht. Die ultimativ schlechte Nach-
richt ist natürlich die des eigenen (oder eines anderen) Todes:
Die Nach-Richt als das Eintreten des ultimativ Unerwarteten, das
die Welt in ein Davor und ein Danach einteilt, wonach sich eine
Richtung ändert, die Veränderung einer Richtung nach etwas, das
Nach-Richten, sich nach etwas Richten oder das Gerichtetwerden
nach etwas: die Unterbrechung, nach der alles anders sein kann.

Aber wenn nach einer Unterbrechung alles
anders sein kann, wenn eine Nach-Richt die Richtung ändern
kann, wenn ich nach einer Nachricht gerichtet werden kann, wie
kann man, wenn das Andere plötzlich in den Text tritt, noch das
Selbe
schreiben? Oder anders gesagt, wie kann man das Andere,
das eine Unterbrechung bringt, im Text unterbringen, wie kann
man es in einen Text eintreten lassen? Wie kann ich die Disrup-
tion eines Anderen im Text zeigen, das ebenso sehr in einer Todes-
nachricht bestehen kann wie in einem Video-Anruf, nach dem ich
nicht so weiterschreiben kann wie zuvor? Wie kann ich dieses
Enden und diese Endlichkeit in einen Anfang einschreiben?

Ich schreibe D., nachdem ich den Video-
Anruf beendet hatte, dass ich ihr für die morgendliche Unterbre-
chung dankbar sei. Sie schreibt zurück: »freut mich, unterbre-
chung, die nicht stört, sondern inspiriert ...«. Tatsächlich hatte
ich in meinem Ärger über das Unterbrochenwerden das Inspi-
rierende einer Unterbrechung vollkommen aus den Augen verlo-
ren: Was einen mit jedem Anruf, mit jeder E-Mail, mit jeder Text-
Message treffen kann, ist nicht nur die Aggression anderer oder
die eigene Apokalypse, es ist auch eine inspirierende Unterbre-
chung: die Verkündigung (der Engel). Aber wie kann ich beide,
die angenehme und die unangenehme Unterbrechung, den heite-
ren und den bedrohlichen Himmel, in einen Text einführen und
in Theorie überführen? Wie kann die Theorie das Heitere oder
unerwartete Bedrohliche fassen? Wie kann ich das Andere, Uner-
wartete und Unterbrechende in meinen Text einladen, statt es zu
überschreiben? Wie kann eine Ästhetik oder Poetik des Unter-
brechens aussehen? Wie kann die Theorie »nach Einfällen [ver-
fahren]«, wie Bataille über Nietzsche schrieb, »in alle Richtungen
[ihre] Fähigkeiten ausspielend, sich an nichts bindend, immer
wieder anfangend, nicht Stein auf Stein setzend«?

Ein Ansatz könnte sein, das Statement buch-
stäblich zu verstehen und das Begehren nach einer prozessualen
Ästhetik, die nicht Stein auf Stein setzt, zu materiali-
sieren. Das geschieht in einem von Tim Ingolds letzten
Büchern in einem Kapitel mit dem Titel On Building a
House
, in dem er moderne und vormoderne Theorien
des Bauens kollidieren lässt und diese Frage nach Bau-
weisen von Häusern auf die Frage nach Bauweisen der
Theorie kopiert. Er konfrontiert die westliche archi-
tektonische Tradition von Alberti bis heute, die er auf
ein geplantes Bauen hinauslaufen lässt, mit anderen
Traditionen, in die auch Ungeplantes und Unerwarte-
tes Eingang finde. So kommt er zu seiner Differenz zwi-
schen einem ungeplanten, prozessualen building und
einem geplanten, architektonischen building a house,
bei dem man immer schon wisse, was herauskomme.
Eine Ausnahme bildeten »great medieval buildings«,
die laut Ingold nicht gebaut wurden »like puzzles from
pre-cut pieces but as patchwork quilts. As patches are
sewn into the quilt, so stones are added to the building
piecemeal, each shaped and, if necessary, reshaped so
as to fit the space prepared for it by previous ones.«Tim Ingold, Making: Anthropology, Archaeology, Art, Architecture, London: Taylor & Francis 2013, 54.

Wie können wir eine bunte
Patchwork-Theorie machen, eine auf das Aktuelle auf-
merksame Theorie, die stückweise vorgeht und asso-
ziiert, anstatt immer schon das Ganze vor Augen zu
haben? Müsste nicht die ästhetische Theorie derjenige
Bereich der Theorieproduktion sein, der diese Verfah-
ren der ästhetischen Moderne und der nichtwestlichen
Kulturen, die von der westlichen Moderne verdrängt
wurden, wieder einführt und neu erprobt? Eine Ästhe-
tik erprobt, in der die Theorie nicht wie in Vitruvs
ratiocinatio
dem praktischen opus zuvorkommt, oder
in der wie bei Alberti die lineamenta die structura
vorwegnimmt? Wie gelangt die ästhetische Theorie
auf das Level forschender Künste und aktueller techno-
sciences
, die beide, nach einem Statement des von
Ingold zitieren David Turnbull, auf »site-specific,
contingent and messy practices«David Turnbull, »The ad hoc Collective Work of Building Gothic Cathedrals with Templates, String, and Geometry«, in: Science, Technology and Human Values 18 (3), 315–340, hier 332. beruhen? Wie kann eine
Ästhetik der Disruption aussehen, die messy, durchlässig und
porös genug wäre für das Aktuelle und Unerwartete, das out of
the blue
kommen mag und die aber dennoch das Perspektivische
und Intelligible einer Theorie hat, die auf das reagieren kann, was
aus heiteren Himmeln auf uns kommt?

KONFIGURATOR II

Regeln für die Würfel II.1–II.4: Für jede der 6 Kategorien
(A–F) wird je einmal gewürfelt. Das sog. »Iactum«, d. h. das
Würfelergebnis, muss in der Ausführung verarbeitet werden.
Pro Iactum ist eine Streichung erlaubt.Vgl. in diesem Band auch die Regeln für den Beitrag »Exnovation. 42 Würfelwürfe«, S. 122.

WÜRFEL II.1

A) Anschluss (thematisch)
1 = reibungslos, Kerngedanken weiterentwickelnd
2 = reibungsarm, aber mit mehr Drive
3 = reibungsarm, einen Nebengedanken in den
Fokus rückendFokus rückend
4 = holprig, bemüht
5 = digressiv (Kulturgeschichte der Farbe Blau)
6 = zusammenhangboykottierend

B) Anschluss (stilistisch)
1 = maximal kohärent
2 = kohärent mit Irritationsmomenten
3 = moderat kohärent (mit stärker werdendem
Hang zur Metonymie)
4 = allmählich ins Poetische übergehend
5 = Bruch (präteritalnarrativ)
6 = harter Bruch (psychotisch)

C) Heterolinguistische Irruptionen
1 = Englisch
2 = Französisch
3 = Chinesisch
4 = Norwegisch (Bokmål)
5 = Esperanto
6 = C++

D) Absurditätsgrad
1 = 1
2 = 2
3 = 3
4 = 4
5 = 5
6 = 6

E) Futurologischer Einwurf
1 = Glaskugel
2 = I Ging
3 = Tarot
4 = Azorenhoch
5 = die Zahl Pi
6 = die Wirtschaftsweisen

F) Gewährsperson
1 = Bifo Berardi
2 = Paul B. Preciado
3 = Donna Haraway
4 = Nietzsche
5 = Schopenhauer
6 = Merkel

IACTUM II.1

A3 = reibungsarm, einen Nebengedanken
in den Fokus rückend; B2 = kohärenter Anschluss mit Irritations-
momenten; C2 = Irruptionen: Französisch; D6 = Absurdität 6;
E6 = Wirtschaftsweisen; F6 = Merkel

AUSFÜHRUNG II.1

Analysen von Browserchroniken einzel-
ner User*innen zeigen, dass eine ästhetische Möglichkeit darin
besteht, den Zufall systematisch anzuwenden, sei es durch den
Zufallsknopf der Wikipedia, sei es durch einen Onlinewürfelwurf,
dessen Augen das Unberechenbare, das algorithmisch Ambiva-
lente und das Chaos des Künftigen kalt reflektieren. Ist doch der
Zufall, das, was uns zufällt, geradezu ein Verwandter des blauen
heiteren Himmels, aus dem unerwartet das Gewitter hervorbricht
und unsere Vorgänge auf den Feldern unter diesem blauen Him-
mel umwandelt. Der Zufall liefert uns dem Ungeplanten und dem
Unkontrollierten aus, dem Schwerintegrierbaren und dem Sper-
rigen, er durchkreuzt die Prognosen der Wirtschaftsweisen und
die Wetterberichte, Kriegsstrategien, Fluchtwege und Spazier-
gänge. Wer ins Blaue fährt, wer also nicht weiß, wohin der Weg
führt, setzt sich lustvoll dem Zufall aus. Das Blaue kann demnach
gewissermaßen als Geburtsort des Zufalls verstanden werden, als
Bezeichnung für ein unkartographiertes Terrain, in das ich mich
begebe, um die Wahrscheinlichkeit des Unerwarteten systema-
tisch zu erhöhen.Wenn wir eine derartige ästhetische Praxis als
einen Weg begreifen, dann ließen sich unsere architektonischen
Methoden des Stein-auf-Stein-Legens und des Patchwork noch
einmal umformulieren. Das planvolle Vorgehen, Schritt für Schritt,
geschieht auf einem Weg, den man gut kennt, den man deshalb
im Kopf vorausgehen kann. Im Altgriechischen gibt es dafür den
Ausdruck hodos. Der hodos verbindet bekannte Orte. Er kann so
stark reflektiert werden, dass er zum metahodos, zur Methode
wird. Der andere Weg, der ins Blaue führt und der noch nicht vor-
gezeichnet ist, der noch nicht gegangen wurde und den ich des-
wegen erst bahnen muss, dieser Weg ist im Altgriechischen ein
poros. Er führt ins Offene, ins Unkartographierte, in jenes Blaue,
aus dem mich das Unverhoffte trifft, wo das Unkalkulierte eintrifft
und mir zufällt. Ein solches Schreiben, wie in einen Tunnel hinein,
den Kafka gegenüber Gustav Janouch evoziert,Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, 349. ist wie der Aus-
druck andeutet: porös.

Wir können die Techniken, die sich bewusst
dem Zufall aussetzen, daher als ambivalente Methoden des poros
begreifen. Indem ich mich den Würfen des Zufalls aussetze, ist
mein Weg notwendigerweise porös für das Andere, das Sper-
rige des Zufalls. Der Zufall zwingt zum Abweg, zum Umbauen,
zum Abbrechen, zum Neu- und zum Umdenken. Er lenkt von den
gebahnten Wegen ab und zwingt uns selbst zur Bahnung. Die Bah-
nung ist ihrerseits ein psychischer Mechanismus, durch den der
Zufall in unsere Existenz eindringt:

On ne peut décrire l’origine de la mémoire et du
psychisme comme mémoire en général (consciente
ou inconsciente) qu’en tenant compte de la différence
entre les frayages (Bahnungen).
Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris: Les Éditions de
Minuit 1972, 19.

WÜRFEL II.2

A) Bahnungstheoretiker:
1 = Freud
2 = Derrida
3 = Exner
4 = Thermann
5 = Rotpeter
6 = Der Offizier aus der Strafkolonie

B) Zufallsexkurs
1 = zu Heisenberg
2 = zu Kalgomorov
3 = zur Random-Walk-Theorie
4 = über Rauschen
5 = über Zufall in der athenischen Polis
6 = zu Kleist

C) Gedankensprünge
1 = ungewollt
2 = flach
3 = nachvollziehbar
4 = anstrengend
5 = hoch
6 = wirr

D) Stilkontinuität
1 = ja
2 = nein
3 = Fake
4 = smooth, aber driftend
5 = anfangs gegeben, sich dann aber
ins Heideggerianische bohrend
6 = gebrochen

E) Blauton
1 = himmelblau
2 = ultramarin
3 = bluesblau (blue note)
4 = ägyptischblau
5 = blassblau
6 = schlumpfblau

F) Unterbrecher
1 = Telefon
2 = Corona
3 = ein Kind
4 = ein Unfall
5 = ein Nachbar
6 = ein Terrorist

IACTUM II.2

A4 = Thermann; B4 = Rauschen; C2 = flache
Gedankensprünge; D4 = Stilkontinuität smooth, aber driftend;
E5 = blassblau; F5 = Nachbar

AUSFÜHRUNG II.2

In seiner in mannigfaltiger Hinsicht bahnbre-
chenden Studie zu Kafkas TierenJochen Thermann, Kafkas Tiere. Fährten, Bahnen und Wege der Sprache, Marburg: tectum 2010. weist Jochen Thermann darauf hin, dass der poros als Schneise ins Ungewisse immer auch kom-
munikativ zu deuten ist. Mit Friedrich Kittler zusammengelesen,
könnte man also sagen, dass jede Schneise, die ins Dickicht der
Kommunikationslosigkeit geschlagen wird, selbst ein Medium der
Kommunikation ist, sei es nun ein Trampelpfad durch den Dschun-
gel oder eine Synapse, die durchs Hirn feuert. Jede Bahnung öffnet
eine Schneise durch das Rauschen, die ihrerseits wiederum Rau-
schen erzeugt. Erinnern wir uns ans kommunikative Dispositiv (im
Sinne von Baudry) der Videokonferenz im pandemischen Kontext.
Dass die Konferenz eine Rolle erfüllen sollte, die über die phatische
Funktion (Jakobson) hinausgeht, glaubt inzwischen nur derselbe
Schlag Mensch, der ehemals überzeugt war, dass die Kathoden-
strahlröhren des Fernsehers von Toten bevölkert seien. Zoom,
Skype, Jitsi, Hangouts
: Die Kanäle, die in der Pandemie heißlaufen,
laufen heiß, weil sie zum privilegierten Medium des Sichvergewis-
serns geworden sind. Ist mein Gegenüber da? Hört es mich? Hört
es sich? Sieht es mich? Dann gibt es mich noch. Auch wenn ich
im nächsten Moment festfriere oder in Pixelartefakte zergehe, ist
mit dieser phatischen Beglaubigung alles erreicht, was Videokon-
ferenzen erreichen können. The medium is the message und die
message
war noch nie so klar wie bei Zoom: Es gibt dich, man hört
dich, man sieht dich. Du kannst dich also getrost in bunte Pixelblö-
cke verwandeln. Die Schneise, die durchs Rauschen geschlagen
wurde, zergeht selbst wieder in Rauschen bzw. erzeugt ihr eigenes
Rauschen, sobald ihr Zweck ...

Das war die Klingel. Der alte Lippelt von
nebenan, der diesmal nicht nach einem Paket fragte, sondern nach
zwei Eiern für einen Eierkuchen. Er trug wie immer seine etwas
martialisch anmutende FFP2-Maske, was mich daran erinnerte,
dass ich vor lauter Konzentration aufs Schreiben – endlich war ich
drin gewesen! – ganz vergessen hatte, dass noch Pandemie ist.
Als ich den maskierten Lippelt vor mir sah, wurde mir nicht nur
meine eigene Unmaskiertheit bewusst, sondern darüber hinaus die
potenzielle Gefahr, die von mir für den Greis ausging, der mir mit
seiner zittrigen Hand ein Zeichen gab oder vielleicht war das auch
gar kein Zeichen an mich, sondern ein Vorbote seines Todes, medi-
zinische Semiotik und kommunikative Semiotik sind schließlich die
beiden Seiten einer und derselben Medaille. Um den alten Lippelt
nicht unnötig in einer potenziell mit infizierten Aerosolen gesättig-
ten Luft warten zu lassen, überreichte ich ihm mit etwas hektischen
Handgriffen meine heute früh erst erstandene 6er-Packung Bioeier.
Er sagte um Gottes willen, so viele brauche er doch gar nicht. Ich
sagte ihm: doch, die brauchen Sie. Und bleiben Sie zu Hause.

Zurück am Schreibtisch. Wieder habe ich
den Anschluss verloren, noch immer stecke ich im Anfang fest und
kann nicht aufhören anzufangen. Diese Unterbrechungen out of
the blue
gewinnen jedenfalls mit ihrer Häufung auch an Schärfe.
Ich weiß zunächst nicht, woher ich weiß, dass der Blauton, der
gemeint ist, wann immer etwas out of the blue erscheint, ein blas-
ses, ein Pastellblau ist. Woher ich das weiß, wird mir erst klar, als
ich einen Schluck von meiner schal gewordenen Apfelsaftschorle
nehme: Das out-of-the-blue-Blau ist blassblau, weil das die Farbe
des Pullovers des alten Lippelt war. Der klingelnde Nachbar ist
die Feststellung erscheint mir alles andere als banal – ein Topos
des Zerplötzenden. Das Unvorhersehbare wohnt nebenan. Und
immer wieder fragt es nach Eiern.

WÜRFEL II.3

A) Turn
1 = medienwissenschaftlich
2 = spatial
3 = linguistisch
4 = theologisch
5 = browserhistoriographisch
6 = philologisch

B) Zitat
1 = Aulus Gellius
2 = Thermann
3 = Schiller
4 = Ricarda Huch
5 = Dambudzo Marechera
6 = Knut Ebeling

C) Stilistische Entwicklung
1 = zurück zu Ebeling
2 = fort von Ebeling
3 = hin zu Beyoncé
4 = Richtung Collage
5 = stärker akademisierend (barock)
6 = betont lässig (mit Pop-Zitaten)

D) Durchsickernde Aktualität
1 = Trump
2 = Eröffnung des BER
3 = Islamismus in Frankreich
4 = Aktuelle Corona-Hotspots
5 = Champions League
6 = Europa League

E) Intermedialität
1 = URL
2 = Foto
3 = Kupferstich
4 = QR-Code
5 = Hörzu
6 = Youtube-Playlist

F) Fuck-up-Element
1 = Lippelts Eierkuchenrezept
2 = Aufstellung von Schachtar Donezk
3 = Popol Vuh
4 = Spiegel
5 = Dicke
6 = kein Fuck-up

IACTUM II.3

F5 = Turn: browserhistoriographisch;
B4 = Huch; C1 = zurück zu Ebeling; D6 = Europa League;
E6 = Youtube-Playlist; F1 = Eierkuchenrezept

AUSFÜHRUNG II.3

Es hat mich etwas länger als gewollt beschäf-
tigt, dass die Bitte um nachbarschaftliche Gaben mit irritierender
Ausschließlichkeit auf Eier (vgl. die Beispiele juristischer Kommen-
tare zum Sachdarlehensvertrag) beschränkt wird. Ich bin noch nie
nach einer Banane gefragt worden oder nach einer Wurst. Die einzige
nennenswerte Konkurrenz ist vielleicht eine Zwiebel. Ich gebe den
Gedanken aber auf. Er führt zu nichts. Die Eierfixierung im nachbar-
schaftlichen Austausch bleibt ein nichtssagender Fleck im Text.

Wenngleich die Koinzidenz metaphysische
Saugkraft hat. Durch die Unterbrechung wird Lippelts Eierbegeh-
ren zu einem Einbruch in einen Text, der sich von Anfang an dem
Brechen und Brüchigen – dem Unterbrechen, dem Einbrechen,
dem Bahnbrechenden, dem Zerbrechenden – aussetzt. Und ist
nicht das Ei das Brüchige schlechthin? Nachbar Lippelt hat damit
ganz ungewollt ein Textsymbol im Austausch für das Reale einge-
schmuggelt. Poröses Schreiben hofft darauf, dass die Worte out of
the blue
auf dem Weiß zerplatzen.

Das deckt sich durchaus mit den Erkenntnis-
sen der Browserhistoriographie. Denn wenn wir die Koinzidenzen
des Schreibens ausweiten, ist das Naheliegendste das benach-
barte Tab, das ist alles andere als Hexerei. Browserhistoriogra-
phisch sind solche Koinzidenzen als Nachbarn zu verstehen. Hier:
Die Fahrt ins Blaue
, eine Stummfilmkomödie aus dem Jahre 1919.
Der Liveticker von Lech Poznan gegen Standard Lüttich, der neben
dem im Internet Archive für eine Stunde ausgeliehenen offen auf-
geschlagenen Band 9 der gesammelten Werke Ricarda Huchs läuft,
während, als es noch 0:0 steht, der Satz markiert wird:

Wenn irgendein Absolutismus die Freiheit der Per-
sönlichkeit unterbindet, aus deren Unergründlichkeit
immer wieder Überraschendes hervorbricht, wenn
vor dem hellen Licht des Verstandes die Dämonen
Zufall und Wunder ein Land verlassen, verödet es.Ricarda Huch, »1848. Die Bürokratie und die Gegner in Österreich«, in: R.H., Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Wilhelm Emrich, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1968, 1154.

Die ganze Zeit läuft dabei eine Youtube-
Playlist von Neil Young: »My, my, hey, hey. Out of the blue and
into the black« – als mir Lippelt unbemerkt sein Eierkuchenrezept
durch den Türspalt zuschiebt.

WÜRFEL II.4

A) zentrale Nominalisierung
1 = das Nebeneinander
2 = das Gleichzeitige
3 = das Sich-Kreuzende
4 = das Sich-Verbindende
5 = das Sich-Gegenseitig-Auslöschende
6 = das Sich-Paarende

B) Intertext
1 = Coleridge: Kubla Khan (»The person from Porlock«)
2 = Pessoa: Das Buch der Unruhe
3 = Kafka: Tagebücher (das Immer-wieder-Anfangen)
4 = Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe
5 = Büchner: Woyzeck
6 = Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet

C) Browserhistoriographie
1 = Tabkookkurenzen
2 = Häufung
3 = Singularitäten
4 = Obsessionsverdacht
5 = Reenactment
6 = Löschforschung

D) Akzent
1 = hart
2 = weich
3 = französisch
4 = dänisch
5 = am Satzende
6 = am Satzanfang

E) Fußballweltgeschichte
1 = Michel Platini
2 = Maradona
3 = Pelé
4 = Garrincha
5 = Eusébio
6 = Frank Mill

F) Akademisierungstrieb
1 = schwach
2 = heuchlerisch
3 = vorhanden
4 = gebändigt
5 = souverän sublimiert
6 = enorm

IACTUM II.4

A5 = das Sich-Gegenseitig-Auslöschende;
B6 = Bleistiftgebiet; C4 = Obsessionsverdacht; D2 = Akzent:
weich; E3 = Pelé; F3 = Akademisierungstrieb vorhanden.

AUSFÜHRUNG II.4

Dass der vollgekritzelte Zettel, den Nachbar
Lippelt durch den Türspalt geschoben hat, ein Eierkuchenrezept
sein soll, habe ich mir, wie ich einräumen muss, nur ausgedacht.
Seine winzige, krakelige Schrift ist kaum zu entziffern. Sie erin-
nert an Walsers Aufzeichnungen aus dem Bleistiftgebiet, was auch
daran liegen mag, dass Lippelt mit einem stumpfen HB-Bleistift
schreibt. Die stumpfe Mine widersetzt sich jedenfalls der gedank-
lichen Schärfe. Weder die Schrift – als Vehikel – noch der Inhalt
als Vehikuliertes – tritt klar hervor. Ein Eierkuchenrezept kann
man weniger heraus- als hineinlesen. Denn: Wer stumpf schreibt,
schreibt unklar. Spitze den Stift an, und du spitzest die Gedan-
ken. Das ist mit Sicherheit kein Robert-Walser-Zitat, das kann auch
kein Robert-Walser-Zitat sein, denn Walser hatte einen stumpfen
Bleistift. Während ich diese Gedanken hin und her wälze, jage ich
meine letzten 24 Stunden Internetaktivität durch einen Scanner.
Das Ergebnis? Ein deutlicher Rechercheüberhang zur Farbe Blau.
Jeder Browserhistoriograph würde hieraus einen Obsessionsver-
dacht ableiten, und das wohl zu Recht. Das Ergebnis überrascht
mich jedenfalls nicht, das hätte ich auch ohne statistische Erfas-
sung gewusst. An zweiter Stelle erscheint überraschenderweise
Pelé. Das lässt sich erklären. Ich habe nämlich ein Pelé-Video
zugeschickt bekommen und angeklickt. Das Video war nicht son-
derlich spannend, ich habe vielleicht drei, vier, wenn’s hochkommt:
sieben Sekunden davon gesehen:


Im Hintergrund lief das aber weiter, das
Videofenster war nämlich auf lautlos. Und so liefen immer weiter
Pelé-Videos auf Youtube, während ich mich ganz anderen Sachen
widmete. Zum Beispiel dem Cluster »Beginnings / Anfänge«, das
nun an dritter Stelle erscheint. Als ich es visuell darstellen lasse,
erscheint mitten in der Konstellation, wie der Kopf des Kraken, ein
Zitat aus Edward Saids Beginnings, das ich schon ganz verges-
sen hatte, das sich aber nun – zusammen mit Lippelts Eierkuchen-
rezept, das keines ist bzw. das allenfalls aus dem Bleistiftgebiet
stammt – in einem gänzlich anderen Licht darstellt:

The greater the anxiety, the more writing appears
to be quotation, the more writing thinks of itself as,
in some cases even proclaims itself, rewriting.
The utterance sounds like-perhaps even is-a borrowing
from someone else. Prophecy is a type of language
around which this issue of originality perpetually lurks
in many forms: Is the prophecy absolutely authentic
and original?
 Edward Said, Beginnings. Intention and Method, New York: Basic Books 1975, 22.

Als Gegenleistung für die Eier, die ich Lippelt
geschenkt habe, wurde mir ein Brocken Erkenntnis zuteil. So lege
ich mir das zurecht. Auch wenn ich jetzt Hunger auf ein Schak-
schuka bekommen habe und mir die Zutaten fehlen. Muss jetzt
auch anders gehen. Mit Mehlschwitze. Ich suche auf chefkoch.de
nach Mehlschwitze und finde ein Rezept eines Users bzw.
einer Userin namens »crashlady«: Mehlschwitze, gelingsicher.
Bewertung: 4,6. Das wird schon hinhauen. Mach ich halt Schak-
schuka vegan. Denn meine Eier sind verbleistiftet.

Übergabewürfel

A) Ich
1 = Ichintensivierung
2 = Ichvermeidung
3 = Ichverkleidung
4 = Ichauslöschung
5 = Ichminimalisierung
6 = Ich zu Er / Sie / Es / Sier

B) Stimmung
1 = heiter
2 = düster
3 = noch düsterer
4 = trocken
5 = feuchtfröhlich
6 = kalt

C) Störfaktor
1 = technisch
2 = klimatisch
3 = intim
4 = gesundheitlich
5 = unbestimmt
6 = kognitiv

D) Einsatz von Adjektiven
1 = nachlässig
2 = pointiert
3 = übertrieben(,) blumig
4 = ausschließlich Partizipien
in Adjektivfunktion
5 = Adjektive nur in Zweierpaaren
6 = keine Adjektive

E) Wetter
1 = Gewitter
2 = Graupel
3 = Hitze
4 = Schnee
5 = Nebel (dicht)
6 = Niesel

F) Akademischer Gestus
1 = Parodie
2 = lässig
3 = ernst
4 = populärwissenschaftlich
5 = derridamimetisch
6 = elegant

RIEN À SIGNALER? KEINE BESONDEREN 
VORKOMMNISSE ODER: KEIN GLÜCKLICHER WURF
WIRD DIE SELBSTVERSCHULDETE WAHRSCHEINLICHKEIT ABSCHAFFEN

IACTUM ÜBERGABEWÜRFEL

A6 = Ich zu Er / Sie / Es / Sier, B6 = Stimmung kalt, C6 = Störfaktor
kognitiv, D2 = pointierter Einsatz von Adjektiven, E2 = Graupelwetter,
F1 = Gestus der Parodie

AUSFÜHRUNG

»Man nehme einen Begriff und behalte ihn bei, ganz unverbrüch-
lich, und dann unterstelle man die fortdauernde Identität dessen,
was er bezeichnet, auch wenn die Sache längst zerbröselt ist, weil
alle Bestandteile sich in Nichts aufgelöst haben oder ausgetauscht
wurden,« dachte das Kügelchen, als es klein, gräulich weiß und
empathielos die Scheibe des Dachfensters hinunterglitt, während
drinnen Gene Krupa seine Stöcke so hart auf die Toms prasseln ließ,
dass das Glas vibrierte (erstaunlicher Musikgeschmack übrigens für
jemanden im dem Alter, aber wenn schon ein Klümpchen Wasser-
moleküle wahrnehmen und denken kann, muss man das hier wohl
hinnehmen, dumm nur, dass ausgerechnet das in solchen Fällen übli-
che Körnchen Salz es direkt verdünnisieren würde), »... aber wer bin
ich, dass ich mich lustig machen dürfte, bei mir hat es ja auch nicht
zu Größerem gereicht, kein Impact, kein bleibender Eindruck, aber
trotzdem, soll der Mensch da drinnen doch gleich Graupen in seine
Pampe werfen, sind ja auch vegan, aber vielleicht kommt ja gerade
dabei das eine oder andere Körnchen Erkenntnis heraus« (man weiß
ja, wie das mit den Reiskörnern und dem Schachbrett funktioniert),
»kulinarisch oder wie auch immer«.

»Natürlich schenkt mir die Person da drin-
nen, die so innig mit Kochen beschäftigt ist, keinerlei Beachtung«,
dachte das Graupelkorn. »Wäre ein Ei an der Fensterscheibe gelan-
det, wäre das natürlich eine andere Geschichte gewesen. ›Das hat
mir doch gerade noch gefehlt,‹ hätte sie vielleicht gedacht, was ja
auch stimmt« – (jetzt läuft übrigens gerade »All shook up« von Elvis,
was ist denn das für eine Oldie-Playlist?) – »tja, mit so einem Ei auf
der Scheibe hätte Spotify eine ganz neue Bedeutung gewonnen, aber
selbst als solches erkannt, wäre es trotzdem kaum vom Eisregen in
der Pfanne gelandet, dirt is stuff out of place, right ? – schwer, gegen
dieses Prinzip anzukommen.«

Das plötzliche Auftauchen eines Eis aus alles
andere als heiterem Himmel wäre denn wohl auch kaum als Symp-
tom einer freundlichen, wenn auch ungeschickt deplacierten Unter-
stützung durch eine unbekannte Entität interpretiert worden, son-
dern als Akt der Aggression, die auf feindselige menschliche Agency
zurückzuführen ist, vielleicht auch in ihrer ironischen Ko-Inzidenz,
je sais bien, mais quand même, einer böswilligen höheren Macht
zugeschrieben würde. Koinzidenz, die nichts kompensiert, aus-
gleicht oder restituiert, sondern nur eine weitere ›Disruption‹ bringt.
Man nehme einen Begriff und staune, was er alles mit sich bringt:
weniger wie eine Zutat für ein neues Gericht, sondern eher wie ein
Spaghetto, an dessen auch ohne Carbonara klebrigen Fädchen Zeug
hängt, das man genauso wenig mit auf dem Teller haben wollte wie
von der Scheibe gekratzte Eier. Warum nicht einfach beim Unter-
brechen bleiben? Sicher, dis- wirkt radikaler als unter- oder inter-.
Unterbrechung suggeriert, dass es danach wieder weitergehen kann
und wird wie vorher. Dis- dagegen: die irreversible Zerstörung der
alten Ordnung, kein Zurück mehr. Spielen wir weiter Vorsilben
durch: ir-... – wie wäre es mit irruption, Invasion, Einbruch? Darum
ging es doch irgendwo an einem Anfang, der keiner sein wollte, der
alles Weitere ausgelöst hat. Und um Einfälle. Jemandem fällt etwas
ein, so reden die Menschen hier, das ist die Logik der Autonomie
und des Ingeniums. Aber vielleicht fallen die Ideen ja ein wie die
Hunnen. Oder schlagen ein wie Hagelkörner oder Meteoriten – dann
fällt einem wirklich etwas ein, nämlich das vertraute Gedankenge-
bäude. Vielleicht besser Spanisch: Se me ocurre algo, wörtlich: Mir
widerfährt etwas. Achtung, auf der Bahn Ihres Denkens und Han-
delns ist mit Gegenverkehr zu rechnen – und schon ist das schönste
disegno
kaputt. Unerwartete Gäste empfangen, auch und vor allem,
wenn sie keine Menschen, Götter oder deren altbekannte Emissäre
sind. Neue Gesetze der Gastfreundschaft – solange das beharrliche
Klopfen an der Tür, das Ihr seit Jahrzehnten überhört, noch das Haus
stehen lässt – und sich selbst nur wie Gäste oder Mieter benehmen,
nicht wie Eigentümer,Michel Serres, Le Contrat naturel, Paris: Flammarion 1992, 58ff.; ders., Le Mal propre. Polluer pour s’appoprier, Paris: Le Pommier 2008, v.a. 34ff., 74ff., 80ff. hört auf Euren weisen alten Gascogner,
auch wenn er jetzt als Objekt, aus dem Grab, zu Euch ruft. Ja, Euer
berühmter Anderer hat meistens gar kein Gesicht, jedenfalls keines,
das dem Euren gleicht. Aber ein Interface muss sich trotzdem finden
lassen, und sei es auch so wenig porös wie eine Fensterscheibe. Das
Unter- / Inter- der Brechung als das Zugrundeliegende des gemeinsa-
men Interesses. Meta- wie metaxy, das trennend Verbindende.»Deux prisonniers, dans des cachots voisins, qui communiquent par des coups frappés contre le mur. Le mur est ce qui les sépare, mais aussi ce qui leur permet de communiquer. Ainsi nous et Dieu. Toute séparation est un lien.« Simone Weil, La Pesanteur et la grâce [1947], Paris: Plon 2017, 228.

Tja, Disruption – auf welchem Feld hat der
Begriff Karriere gleich gemacht? Nicht da, wo sich Fuchs und Hase
gute Nacht sagen, sondern dort, wo die Ökonomie der Technologie
das Fell über die Ohren zieht, damit sie blindlings vorwärtsstürmt
und alles niedertrampelt. Digital(e) Disruption, Doppel-Di, fast so
schön wie Doppelklick und eng verwandt, jedenfalls braucht man
kein DeepL dafür, das ins Deutsche zu ›übersetzen‹.

Wäre es schlimm, diesen Faden zu verlieren?
Lauschen wir für einen Augenblick nicht nur dem gleichmäßigen
Prasseln meiner Niederschlagsgenossen, sondern den virilen Gesän-
gen des Vanguard Choir neodarwinistischer Jungunternehmer aus
dem Wissensepos Wikipedia:

»Das Wort Start-up wird in der Gründerszene
fast inflationär benutzt, doch nicht jedes junge und innovative Unter -
nehmen ist ein Start-up. Die Besonderheit, die ein solches ausmacht,
ist die Kraft zur Disruption. Ein Start-up muss eine disruptive Idee
besitzen, die dafür sorgt, dass bestehende Strukturen und Organisati -
onen aufgebrochen und im Erfolgsfall zerstört werden. Das ist jedoch
keineswegs negativ und destruktiv gemeint, sondern vielmehr positiv
und progressiv. Start-ups sollen durch neue, ganz besondere Konzepte
die bisherigen Produkte, Arbeitsweisen und Abläufe derart optimieren,
dass diese mangels Konkurrenzfähigkeit obsolet werden, untergehen
und verschwinden. Die Disruption soll alte Strukturen durch komplett
neue – meist einfachere oder bequemere, vor allem effektivere – erset -
zen. Eine disruptive Idee bedeutet nicht eine simple Weiterentwicklung
eines Produktes, sondern stattdessen eine komplette Neuentwicklung
mit ganz neuen Ansätzen, wodurch bestimmte Geschäftsmodelle und
sogar ganze Branchen obsolet werden. Durch Disruption schlägt Evo-
lution um in Revolution.«https://de.wikipedia.org/wiki/... (08.02.2021).

Echter Erfolg ist nur, wenn du eine Schneise
der Verwüstung vorzuweisen hast. (Manche meiner großen Hagel-
geschwister würden übrigens sofort zustimmen, wenn sie dazu ani-
miert würden). Oder handelt es sich hier doch eher um das Manifest
der »Anderen Schrecklichen Arbeiter«? Je mehr du zertrümmerst,
desto mehr baust du denselben Kram nach den gleichen Bauplänen
wieder und wieder, Jacques hatte immer schon recht. Fällt nur mir
Graupelkorn, unbeeindruckt und unterkühlt, auf, dass dieses Hohe-
lied der Obsoleszenz nur der mp3-Remix der alten Schumpeter-Leier
von der schöpferischen Zerstörung ist? Theorie der wirtschaftlichen
Entwicklung
, erschienen 1911, heyday der Avantgardetrunkenheit.
Drei Jahre später gab es dann ja schon ›schöpferische Zerstörung‹ à
discrétion
, da konnte sich der kalte Blick an der Schönheit der Gra-
natfeuer sattsehen. On ne peut pas faire d’omelette sans casser des œufs.

Dass Schumpeter nach den gleichen Mus-
tern denkt wie die Avantgarden seiner Zeit, ist jedenfalls nicht nur
mir Graupelkorn aufgefallen: Schumpeter inspiriert von den Futu-
risten
.Erwin Dekker, «Schumpeter: Theorist of the Avant-Garde. The Embrace of the New in Schumpeter’s Original Theory of Economic Development, in: The Review of Austrian Economics 31 (2018), 177–194.Aber vielleicht wird ja umgekehrt ein Knobelbecher draus.
Was, wenn die Truppen-Bewegungen dieser Ästhetiken der Disrup -
tion gar nicht so autonom vorangestürmt sind, sondern als eifrige
Franchisenehmer der Ökonomie jener Bourgeoisie hinterhergelaufen
sind, von der sie sich so vehement abgrenzen wollten? Futuristen und
Surrealisten als Jungunternehmer und Shareholder von future bonds,
man macht natürlich nicht in Standardobjekten, sondern in Aktien-
objekten.Luc Boltanski und Arnauld Esquerre, Enrichissement. Une critique de la marchandise, Paris: Gallimard 2017, 201ff., 355ff. Was nicht unterbrochen wird, ist das Prinzip dieser Dis-
ruption, ist die Kontinuität des rahmenden Systems der Ökonomie,
in der die Disruptionen auf Dauer geschaltet sind.

Ökonomie und Heilsgeschichte, Figural-
deutung inklusive. Schumpeter der Prophet, das Neue Testament
schreiben die Apostel der Start-ups. Aber wissen die wirklich, wo
sie den alten Wein holen, den sie da neu abfüllen? Oder ist das eine
geschichtsphilosophische List der ›Vernunft‹?

Habe ich jetzt den Faden verloren? Den
Anschluss? Aber leider habe ich den kommunikativen Anschluss zur
Person dort drinnen, die mittlerweile zu Abend isst, gar nicht erst
herstellen können. Kein Wunder, ich bin zwar eine diskrete Enti-
tät (wenn auch nicht mehr sehr lange am beheizten Fenster), aber
ziemlich unscheinbar und für den Menschen da drinnen doch nur
Hintergrundgeräusch, MilieugeschehenAngelehnt an Heiders Formulierung von »unwichtigen« Mediumvorgängen – Fritz Heider, Ding und Medium [1926], hg. von Dirk Baecker, Berlin: Kadmos 2005, 66ff., Schlechtwetter-Begleit-
erscheinung, aleatorisch auftretend. Eben kein Phänomen. Ein Wun-
der bräuchte es wohl, damit es anders verläuft – wie weit müsste das
gehen, damit ein Zeichen erkannt wird? Vielleicht ein zünftiger Tier-
regen aus heiterem Himmel? Frösche oder Fische (und wären diese
dann Müll oder Manna? If life gives you fish make bouillabaisse!). Oder
echte Katastrophen in Serie? Frösche, Blut, Heuschrecken, Mücken-
schwärme, Hagel, Finsternis. Was sie damals daraus gemacht haben,
ist leider auch nicht sehr ermutigend. Die Indizien einer ökolo-gischen
Katastrophe in einer Urszene der appropriation umgedeutet zu Zei -
chen dieses widerwärtigen Gottes, Zerstörung durch den ›Schöpfer‹,
der sich vornehmlich an Rache und Strafen ergötzt – und seine Anbe-
ter offenbar an Allmachtsfantasien der Feindvernichtung. Doppel-
klick-Kommunikation mit Gott, Kurzschluss zwischen Affekt und
Vergeltung. Ökologische Kriegsführung, damals im Spiegelstadium
der Religionsgeschichte imaginiert, demnächst vielleicht Realität:
Über Juan Baigorri Velar hat man noch gelacht (wenigstens außer-
halb von Argentinien).
Martín E. Graziano, »En busca de la máquina para hacer llover«, in: La Nación, 6.8.2016, [... siehe PDF] Aber jetzt diktiert China dem Niederschlag,
wo, wann und bei wem er fällt – oder eben ausbleibt.Vgl. etwa: Tristan Fiedler, »Warum China Milliarden in ein Programm zur Wetterkontrolle steckt«, Link; Florian Rötzer, »China plant gigantisches Wetterprojekt«,Link (11.2.2021); »Wetter steuern. China will regen über Tibet machen« Link (11.2.2021). Mit solchen Projekten wird der Weg zur Aneignung des Planeten bis zum bitteren Ende beschritten, den Serres aus gutem Grund so vehe ment kritisiert. Selbst blauer
Himmel nicht mehr out of the blue, sondern auf Bestellung zu Ehren
von Nation und Partei. Meteorologische Interventionspolitik, Wet-
tervorhersagen nach Fünfjahresplan. Hat Flüsse umzuleiten nicht
schon genug Unheil angerichtet? Die Antwort auf Zerstörung, die
blöderweise nicht besonders schöpferisch war, kann nur in größerer
schöpferischer Zerstörung bestehen! Die Störung des Klimas
beheben durch noch mehr Störung, aber ›kontrolliert‹. I sing the
planet cybernetic!

Aber weshalb sollte überhaupt jemand war-
ten auf unerwartete Zeichen ›aus heiterem Himmel‹? Out of the
blue
? Sonderbare Redensarten, erdacht von Menschen, für die es
sich von selbst versteht ist, dass ein blauer Himmel gut und wün-
schenswert ist, die vielleicht Niederschlag for granted nehmen, als
selbstverständlich gewährt und zugesichert. Soleil, je te viens voir
pour la dernière fois
... Barthes schreibt, dass es nicht erstaunlich
ist, dass für Phädra die Sonne etwas Schreckliches ist, weil sie aus
einem mediterranen Klima kommt, in dem sie unerbittlich brennt.Roland Barthes, Sur Racine [1963]: Paris: Seuil 2002. Barthes spricht vom »soleil inquiétant et de l’ombre bénéfique« (41), gar vom »soleil meurtrier« (ebd.) und stützt diese Charakterisierung auch mit Beobachtungen aus dem Griechenland der 1960er Jahre: »Il suffit de visiter aujourd’hui la Grèce pour comprendre la violence de la petitesse, et combien la tragédie racinienne, par sa nature ›contrainte‹, s’accorde à ces lieux que Racine n’avait jamais vus: Thèbes, Buthrot, Trézène, ces capitales de la tragédie sont des villages. Trézène, où Phèdre se meurt, est un tertre aride, fortifié de pierrailles. Le soleil fait un extérieur pur, net, dépeuplé; la vie est dans l’ombre, qui est à la fois repos, secret, échange et faute. Même hors la maison, il n’y a pas de vrai souffle: c’est le maquis, le désert, un espace inorganisé.« (20)
Noch drei oder vier weitere Dürresommer und Hitzeperioden und es
wird den Menschen hier vielleicht auch so gehen und sie würden sich
wünschen, die Sonne zum letzten Mal zu sehen, zumindest für ein
paar Monate. Dann würden sie vielleicht sogar ein paar unschein-
baren Regentropfen ihre Aufmerksamkeit schenken. Ihr rares Fallen
wird dann zur Information werden, zumindest für den Augenschein,
weil es zum Ereignis wird. Dabei ist es das dauerhafte Ausbleiben
des Niederschlags, der die Information darstellt: In the Event of
Non-Happening
, wie Olga Moskatova einen Ihrer Aufsätze genannt
hat.«Olga Moskatova, »In the Event of Non-Happening. On the Activity and Passivity of Materials«, in: Marcel Finke und Friedrich Weltzien (Hg.), State of Flux. Aesthetics of Fluid Materials, Berlin: Reimer 2017, 105–120.(Wann ein Graupelkorn das alles gelesen hat, bleibt leider uner -
klärlich, aber wenn Siliciumkristalle intelligent werden können, warum
nicht auch eine Ansammlung von Wasserkristallen?
) »Das ist wohl ein
fundamentales kognitiv-affektives Problem dieser Lebensform.

Out of the blue ... d’un coup: Donnerschlag oder
Würfelwurf? Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Ist das ihre
Hoffnung? Ist der Zufall das Wunder, auf das sie setzen, der Gott
zu dem sie beten? Auf dass er das Zeichen einer Rettung sende, die
unwahrscheinlicher ist als meine flüchtige Existenz als denkendes
Eiskügelchen? Auf den coup de théâtre, der die unverhoffte Wendung
bringt wie in irgendeinem dieser erbärmlichen Hollywoodfilme, in
denen ein pickelgesichtiger Vorstadtmessias dazu auserwählt ist, die
Welt zu retten?« (An dieser Stelle mag sich die eine oder der andere
endgültig durch dieses unverfrorene Graupelkorn in der Ehre seiner
Spezies gekränkt fühlen, das dreist unterstellt, Menschen könnten
nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Aber ist es wirk-
lich seinerseits ›verschwörungstheoretisch‹, einen Zusammenhang
herzustellen zwischen den ad nauseam reproduzierten plumpen
Verschwörungsnarrativen, mit denen in der Kulturindustrie denk-
faul auf Rezept Fiktionen angerührt werden, und der grassierenden
Bereitschaft, an die debilsten Verschwörungswahnvorstellungen
in der realen Welt zu glauben: Bleiben emsige Bauarbeiten an den
Bahnungen für simpel gestrickte Erklärungsmuster langfristig fol-
genlos?) »Ist die Zunahme extremer Wetterereignisse nicht Zeichen,
nicht Disruption genug? Aber: The medium is the message. Solange
nicht die Sendung unterbrochen wird, in der die Katastrophe über-
tragen wird, solange der Kanal offenbleibt, fühlt niemand das Unbe-
hagen einer Störung. Während einige (wie Birgit Schneider) darüber
nachdenken, wie sie sich mit dem Wissen kognitiv-affektiv ver-
schalten können, das ihre Instrumente und Medien hervorbringen
und das sich auf ihren Bildschirmen zeigt,Z. B. Birgit Schneider, Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel, Berlin: Matthes & Seitz 2018. immunisiert sich die
Mehrzahl mit und in ihren Medien gegen das Außen der Welt, das
sie nicht draußen halten können. Man kann das für technologisches
Geschick halten, muss man aber nicht. Letztlich kommt alles darauf
an, wohin die meisten Kügelchen fallen.Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, v.a. 245f. An diesem Normalismus
ist schon lange nicht mehr viel normal. Von welchem Unerwarteten
ist die Rede, das auf einmal, ganz plötzlich hereinbrechen sollte? Es
ist ja nicht so, als ob es um die Pläne für die intergalaktische Schnell-
straße ginge, die drei Sonnensysteme weiter zur Einsicht auslagen.Eine Anspielung auf den Auslöser für alles Weitere in Douglas Adams’ The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (1979).
Eher um die Chroniken angekündigter selbstverschuldeter Ver-
hängnisse. Covid-19 ist nicht als unbekannte Gefahr vom Himmel
gefallen, sein Advent war lange angekündigt,»Le surgissement de l’événement doit trouer tout horizon d’attente”, schreibt Jacques Derrida in »Foi et savoir«, in: J.D., Foi et savoir suivi de Le siècle et le pardon, Paris: Seuil 2001, 16. Nichts an Covid-19 oder dem Klimawandel schlägt Löcher in den Erwartungshorizont. nicht ob es kommen
würde, sondern wann, nur darüber ließ sich noch spekulieren: Eine
Frage der Wahrscheinlichkeit, der Kombinatorik in der interspezifi-
schen Reproduktion und Rekombination von Eigenschaften und Ele-
menten, keine creatio ex nihilo, sondern eine Abfolge bescheidener
Umbauten. Die Frage, wie lange es dauern würde, bis in den Millio-
nen von Würfelwürfen die richtigen, die fatalen dabei sein würden.
Das war kein clinamen im Fallen der Elemente, kein Graupelkorn,
das aus der Bahn geraten ist, um auf einem Fensterrahmen anderes
zu reflektieren als das Licht, das durch die Scheibe fällt, bevor es
wieder den Gesetzen der Entropie folgt und sich auflöst. Ist das ein
Lernprozess mit tödlichem Ausgang, aber wenigstens ein Lernpro-
zess? Keine glückliche Fügung wird das selbstproduzierte ›Geschick‹
der Klimakatastrophe abwenden, von der jeder denkende Mensch
wissen kann, wissen muss, dass ihr Kommen von langer Hand vorge-
zeichnet ist. Wollen sie wirklich darauf hoffen, dass ein glücklicher
Zufall sie aus der Bahn wirft, die sie selbst für den Planeten gezeich -
net haben und unbelehrbar weiter zeichnen? Auf Zeichen aus heite-
rem Himmel warten, wenn die unerbittliche Bläue des Grunds das
Zeichen ist? Das clinamen, das sie aus dieser Bahn wirft, werden sie
selbst produzieren müssen, unablässig, unermüdlich, mit einer Myri-
ade von Würfen. Ein glücklicher Wurf wird die Wahrscheinlichkeit
nicht abschaffen.« Meltdown.