2020
PDF
Vermittlung , Aktivismus , How-to , Affekt , Feminismus
Experimente lernen, Techniken tauschen

HOW TO

KÖRPERSTREIK

Vorbemerkung

In der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe arbeiten wir oft mit übungen, um nachzuspüren, welche eigenen Erfahrungen wir mit einem Thema oder einer Frage haben. Oft nehmen wir uns einzeln Zeit zum Nachdenken und Nachspüren, bevor wir uns miteinander austauschen. In dieser Übung wollen wir in unseren Körpern und in unserem Körperwissen nachspüren, welche besonderen Verhaltensweisen unser lernen in der Akademie (Universität, Kunsträume, White cube) in uns ausprägt. Welche Impulse verstärken wir und welche blenden wir aus, um den Anforderungen der Akademie (der Universität, des White Cubes) besser zu entsprechen? Und welches Wissen vernachlässigen wir, was spalten wir von uns ab, weil wir es als nicht zugehörig empfinden?

Im Folgenden findest du eine Reihe von Fragen. Du kannst dir entweder zu jeder ein paar minuten Zeit nehmen, um nachzuspüren und dir ggf. Notizen zu machen. Natürlich kannst du Fragen auswählen oder überspringen.

Wenn du die Übung als Schreibübung nutzen willst, nimmst du dir ein paar Zettel und einen Stift und stellst dir am besten pro Frage einen Timer (z. B. auf 5 Min). Du beginnst, nach dem Lesen der Frage, für diese Dauer zu schreiben, was dir in den Sinn kommt, ohne dass der Stift das Papier verlässt. Wenn du festhängst, wiederhole den ersten Satz so oft, bis dir etwas anderes in den Sinn kommt. Die Idee ist es, nicht zu zensieren, was dir einfällt, sondern deinen Gedanken unvoreingenommen zu folgen (die Methode »Stream of Consciousness« haben wir von Johanna Gustavsson gelernt). Wenn ihr in einer Gruppe arbeitet, könnt ihr euch im Anschluss über diese Übung austauschen und darauf achten, dass alle gleich viel Redezeit bekommen.

Suche dir einen ruhigen, angenehmen Ort, an dem du dich wohl fühlst. Lege bereit, was du für diese Übung brauchst (Stift und Zettel, Timer). Mache es dir bequem. Atme tief durch und spüre in dich hinein.

Fällt dir eine körperliche Reaktion ein, von der du gelernt hast, dass sie in akademischen / künstlerischen / institutionellen / schulischen räumen peinlich ist / fehl am platz ist und dass du sie verbergen / dich für sie schämen oder sie ablegen solltest?

Fällt dir eine bestimmte körperliche Reaktion ein? Kannst du nachspüren, welche Geschichte du mit ihr hast, wie sie dich begleitet hat, und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat? etwa rote Flecken, Stottern, Durchfall: Wann fiel es dir auf? Hat es dich gestört? Hast du viel darüber nachgedacht? Hast du gelernt was dir hilft?

Kannst du heute spüren, was diese körperliche Reaktion dir mitteilen wollte? Spürst du heute daran etwas, was du annehmen und wertschätzen kannst?

Hast du heute körperliche Symptome des Unwohlseins, wenn du dich in machtausübenden und normierenden Räumen aufhältst? Welche sind das? Woran erinnern sie dich?

Versuche dich an einen Moment zu erinnern, in dem du dieses Unwohlsein an anderen wahrnehmen konntest, wie etwa Stottern, rote Flecken, Schweiß, Nervosität, Scham. Versuche dir anhand dieser Situation zu verdeutlichen, welche Machtverhältnisse in dieser Situation wirkten. Wenn es dir möglich ist: Versuche dir zu vergegenwärtigen, wie unterschiedlich betroffen die Anwesenden von diesen Machtverhältnissen waren.

Versuche assoziativ aufzuschreiben, welche Dinge, Menschen, Gefühle, Äußerungen durch diese subtile und verdeckte Art der Machtausübung in akademischen / universitären / kunstaffinen Räumen als unpassend gelten können.

Versuche assoziativ aufzuschreiben, was dir in akademischen / universitären / kunstaffinen Räumen fehlt, dadurch, dass Dinge, Menschen,Ggefühle und Äußerungen abwesend oder unterdrückt bleiben.

Hast du ein Gespür dafür, welche Anteile von dir du eher einem wissenden und arbeitenden Körper zuzählen würdest und welche Anteile du raushältst oder abspaltest? Hast du eine Vorstellung oder ein Bild von deinem »wissenden Körper«, eine Haltung, Kleidung, Sprechweise, die du annimmst, um den – von diesen Machtverhältnissen durchzogenen Räumen – eher zu entsprechen und um in ihnen gut zurecht zu kommen?

Hast du anders herum eine Vorstellung der Anteile in dir, die vielleicht eher deinen »dagegenwissenden Körper« formen? Was tut er, was teilt er dir mit? Welche Wünsche hat er und zu wem nimmt er am ehesten Kontakt auf?

»Mein diffuses Unbehagen
hatte eine Gestalt, eine Stimme
bekommen.« Steinemann 2000: 52

2015 gründete sich die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe. In unseren ersten beiden Treffen, damals noch mit einer größeren Gruppe internationaler Kulturarbeiter*innenIn den ersten beiden Recherchetreffen nahm eine größere Gruppe Kulturarbeiter*innen teil, darunter: Alice Münch, Emilia Muller-Ginorio, Felicita Reuschling (†), Inga Zimprich, Ingela Johansson, Isabell Gross, Isabella Schiele, Julia Bonn, Julia Entner, Tijana Stevanovic, ging es uns zunächst darum herauszufinden, welche Vorstellungen einer kollektiven Recherchepraxis wir hatten und welche Methoden wir in der Gruppe entwickeln und anwenden wollten. Ab 2016 arbeiteten wir, Alice Münch, Julia Bonn und ich, gemeinsam als Berlin-basierte Gruppe in regelmäßigen, wöchentlichen Treffen (seit 2018 arbeiten Julia Bonn und ich zu zweit). In dieser zweiten Phase der Recherchegruppe war für uns vor allem wichtig, uns von Vorstellungen loszumachen, wie »richtige« Kunstwerke oder »richtige« Texte auszusehen hatten.

Vielfach trafen wir uns gemeinsam mit unseren Kindern. Als Mütter kleiner Kinder war unsere Arbeitszeit und unsere Aufmerksamkeitsspanne limitiert. Wir lasen gemeinsam vor Ort, schrieben einander in der Zwischenzeit Briefe, machten Übungen und leiteten aus dem, was wir gelesen oder recherchiert hatten, eigene Übungen ab. Wir versuchten, eine unmittelbare Verbindung zwischen dem, was wir lasen und lernten, und unseren Leben herzustellen. Statt einen Text zu diskutieren, fragten wir uns: Was macht das mit mir? Woher kenn’ ich das?

Wir gaben weiterhin Hefte heraus, um unseren Arbeitsstand zusammenzufassen. Dafür musste es genügen, geradeheraus zu schreiben, was wir meinten. Uns fehlte die Zeit, Korrektur zu lesen, in fehlerfreies Englisch zu übertragen oder auf einen fantastischen Stil zu achten. Wir lernten, unsere Texte ernst zu nehmen, auch wenn wir nicht ein Zitat einer wichtigen Persönlichkeit voranstellten. Ich lernte, wenn ich Abwehr gegen Vorschläge von anderen Gruppenmitgliedern hatte, genauer nachzuspüren, ob diese Abwehr nicht vielleicht mit meinen Vorstellungen von »richtiger« und »guter« Kunst zu tun hatte und der Befürchtung, dieser Vorstellung nicht zu entsprechen.

In unseren ersten öffentlichen Workshops mussten wir mit dem seltsamen Gefühl umgehen, dass wir öffentlich viel Persönliches von uns teilten und aus unseren Leben berichteten. Ging das zu weit? Machten wir uns

Feministische gesundheitsrecherchegruppe (Julia bonn / Inga Zimprich), Practices of Radical Health Care: Materials, Methods and Activation, 2019 | Installationsansicht der ausstellung Sick und Desiring im hordaland Kunstsenter, bergen assembly 2019 | Foto: Fgrg

zu verletzlich? Waren wir peinlich? Mir hat es gutgetan, in einer Gruppe zu arbeiten, in der wir einander immer wieder bestärken konnten, genau das zu tun. Wir spürten, wenn wir als ganze Personen anwesend sein konnten, mit unseren Erfahrungen, unseren Zweifeln und unserer Unsicherheit, dass es uns dann auch leichter fiel, mit Schwierigem umzugehen und Gruppensituationen zu tragen, die uns herausforderten. Wir trauten uns, unsere Ängste und Befürchtungen mit in die Arbeit zu nehmen und sie dort auch auszusprechen.

In dem Buch Wissenschaft als Erfahrungswissen (Reichert / Heid / Steinemann / Fry 2000) beschreiben vier Forscher*innen, wie sie sich die Bereiche ihres Wissens und die dazugehörenden Methoden zurückerobern, von denen sie verinnerlicht haben, dass sie nicht »dazugehören«, dass sie nicht Teil von wissenschaftlichem Wissen und Arbeiten sind und dass sie im »richtigen« Wissen fehl am Platz sind. Ihre Arbeit ist weniger ein lautstarkes Fordern als ein inneres Erforschen, Aufdecken und Umarbeiten dessen, was sich als Vorstellungen von Wissen in sie eingeprägt hat. »Vor allem den Wert von Gefühlen, persönliche Betroffenheit, Passivität, Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Schwäche, Ohnmacht, Intuition,

Feministische gesundheitsrecherchegruppe (Julia bonn / Inga Zimprich), Practices of Radical Health Care. Materialien zur Gesundheitsbewegung West-Berlins der 70er und 80er Jahre, 2018| Installationsansicht m.1 arthur boskamp-stiftung, hohenlockstedt, 2018 | Foto: Fgrg

Altern und Krankheit, Schmutz und Chaos, Instinkt« sind in diesen Wissensprozessen abwesend, schreibt Ursina Steinemann. Die eigenen Erfahrungen, Lebenswirklichkeiten, eigene Wünsche und Bedürfnisse sind abgewertet, peinlich, unangebracht und werden verdrängt. Wenn ich jetzt in akademische Räume zurückgehe, spüre ich körperlich eine Schwelle, die aus vielen kleinen, fast unbemerkten Handlungen, impliziten Aufrufen und Anforderungen besteht. Sie fordert mich auf, Teile von mir draußen zu lassen, Erfahrungen von mir nicht zu benennen, Beobachtungen zu verschweigen und Machtverhältnisse unhinterfragt zu lassen. Sie wirkt auf mich als Bedrohung: Ich spüre eine Nervosität, eine Furcht als außerhalb der Norm, als verrückt, als unpassend wahrgenommen, eingeordnet und adressiert zu werden. Meine Bedürfnisse und Impulse in diesen Räumen kommen mir oft peinlich, irgendwie abwegig oder übertretend vor. Mich überkommen Unruhe und die Sorge, durch eine kritische oder disziplinierende Zwischenfrage auf meinen Platz außerhalb verwiesen zu werden. Diese Schwelle durchzieht auch meinen Körper als Austragungsfläche. Sie wird erlebbar im Stottern und Zer-

Feministische gesundheitsrecherchegruppe (Julia bonn / Inga Zimprich) | Workshop zu radikaler therapie mit Jess Ward (F.O.r.t. strukturen berlin) und Inga Zimprich im Rahmen der Ausstellung Practices of Radical Health Care. Materialien zur Gesundheitsbewegung West-Berlins der 70er und 80er Jahre bei District berlin, 2018 | Foto: FGRG.

fahrensein, in der Anspannung, dem Aufschub, der Müdigkeit, dem Schwitzen und dem Unbehagen in akademischen und institutionellen, weißen RäumenKenneth Jones und Tema Okun beschrieben 2001 in ihrem Buch Dismantling Racism: A Workbook for Social Change Groups, wie weiße Vorherrschaft unsere Arbeitsweise und Gruppenprozesse prägt. Ich wurde darauf aufmerksam über einen Teilnehmer des Workshops Roadmap Diversitätsentwicklung von Anja Schütze, 2018, im Rahmen von Diversity Arts Culture, Berlin. (https://diversity-arts-culture.berlin/angebote-und-veranstaltungen/workshop/) Vgl. Beschreibung White Supremacy Culture auf Englisch: https://www.cwsworkshop.org/PARC_site_B/dr-culture.html . Um diese Symptome zu verringern und mich diesen Räumen mehr und mehr anzupassen, beginne ich mich selbst zu bearbeiten, meine Zugehörigkeit herzustellen: Hart zu mir selbst zu werden und hart zu anderen.

Heute versuche ich, mein eigenes, körperliches Unbehagen als eine Form des Dagegenwissens zu nutzen: Als einen Hinweis, wie diese Härte aufzubrechen wäre, wo ich sie unterbrechen kann. Mein Unbehagen teilt mir mit, wie Techniken der Unterdrückung, weiße Vorherrschaft, Sexismus, Klassismus und meine Vorstellung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit in mich hineinragen und in mir wirken. Wie sie mich und andere subtil

Feministische gesundheitsrecherchegruppe (Julia bonn / Inga Zimprich) | Workshop zur vaginalen selbstuntersuchung mit Joan murphy und monika. moderiert von Julia Bonn, Inga Zimprich im rahmen der ausstellung Practices of Radical Health Care. Materialien zur Gesundheitsbewegung West-Berlins der 70er und 80er Jahre bei District Berlin, 2018 | Foto: Fgrg

durchziehen als Personen und Körper, in denen Macht sich herstellt und ausgeübt wird. Diese regulieren auch in meinem Körper, in meinen Verhaltensweisen, wer zu Wort kommt, wessen Worte Gültigkeit erhalten, wer sich zugehörig fühlen darf.

Mein diffuses Unbehagen ist selbst eine Gestalt, eine Stimme geworden. Heute begleitet sie mich, wenn ich mich durch diese Räume hindurchbewege. Sie ermutigt mich, mit meinem Unbehagen zu sein, weicher, zerfahrener, durchlässiger zu werden, und darin neue Allianzen zu knüpfen. Mein Unbehagen ist meine Begleiterin geworden. Sie sitzt bei mir und hält meine Hand.

Als künstlerisches Rechercheprojekt erarbeitet die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe (Julia Bonn, Inga Zimprich) Ausstellungen, Publikationen, Workshops und Zines, in denen sie Räume herstellt, in denen wir Verletzlichkeit teilen und (Zugangs-) Bedürfnisse anerkennen können. In diesen Formaten setzt sich die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe kritisch mit dem Paradigma von Leistungsfähigkeit und Gesundheit auseinander, das auch im Kunstfeld vorherrscht.

In ihrer jüngsten Arbeit Practices of Radical Health Care: Materialien zur Gesundheitsbewegung der 70er und 80er Jahre (2018/2019) gehen sie den selbstermächtigenden und kollektiven Entwürfen radikaler Fürsorge nach, die im Rahmen der Gesundheitsbewegung einer sozialen Bewegung an der Schnittstelle zwischen Hausbesetzer*innenszene und zweiter Welle Frauen*bewegung – entwickelt wurden.

Gegenwärtig besteht die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe aus der Künstlerin, Körperarbeiterin und Mutter Julia Bonn und der Künstlerin, Kuratorin und Mutter Inga Zimprich. Ihre Arbeit widmet sich der Entwicklung künstlerischer, feministischer und selbstermächtigender Perspektiven auf Gesundheitssorge.

www.feministische-recherchegruppe.org

Literatur

Jones, Kenneth / Okun, Tema (2001):
Dismantling Racism: A Workbook for
Social Change Groups, online unter
http://www.cwsworkshop.org/PAR...
site_B/dr-culture.html vom 21.11.2019.

Reichert, Dagmar / Patricia Fry / Claudia
Heid / Ursina Steinemann (Hrsg.) (2000),
Wissenschaft als Erfahrungswissen,
Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.

Steinemann, Ursina (2000):
»Erfahrungswissen, ein persönlicher
Zugang« in: Dagmar Reichert/Patricia Fry/
Claudia Heid/Ursina Steinemann (Hrsg.),
Wissenschaft als Erfahrungswissen,
Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag,
47–54.