2020
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Performance , Aktivismus , How-to
Experimente lernen, Techniken tauschen

HOW TO

Protokolle

Wir haben die folgenden 13 Protokolle als Methodik entwickelt, die als Orientierungshilfe bei der Entstehung unserer Workshops und Interventionen dient. Sie sind Work-in-Progress:

I. Leiste Arbeit, die Freude bereitet und noch für die skeptischste Person im Raum transformativ sein kann.

Ein zugeknöpfter, professoral aussehender Typ geht während der Amateur Drag Night in eine Bar. Er will einen Drink, um seine verhärteten Gefühle von Versagen und Traurigkeit zu verflüssigen, damit er in den hinteren Teil des Raumes verschwinden kann. Seine Arme sind verschränkt und seine Skepsis umgibt ihn mit einem dichten Nebel, dem sich niemand um ihn herum nähern kann. Obwohl die Queens sich von ihm fernhalten wollen, ist er die Person, die heute Abend eine Verwandlung benötigt, selbst wenn er alle Versuche, ihn aus seinem Elend zu befreien, bekämpfen wird. Das ist deine Chance, etwas zu riskieren.

II. Es darf lustig sein, aber es ist niemals ein Scherz

Bist du jemals vom Gespenst der totalen Möglichkeit gekitzelt worden? Hat dich die Vorstellung einer gewaltsamen Revolution jemals mit einer jubilierenden und ängstlichen Energie zum Kichern gebracht? Solche Dinge zu diskutieren (Revolution, Vergeltung, Befreiung) ist das Gegenteil davon, einen Witz zu erzählen. Aber es ist auf merkwürdige Weise lustig, sich der Wahrheit zu nähern oder in Kontakt mit seinen verschiedenen gesellschaftszerrüttenden Wünschen zu kommen.

III. Sei gerissen, nicht clever. Sei gegenwärtig,
nicht »zeitgemäß«

Wer clever ist, ist wie ein Pfau: Das Köpfchen ist allein dazu da, Federn zu tragen. Bei ihrer Cleverness geht es darum, für die eigenen Dienstleistungen zu werben und die Aufmerksamkeit erneut auf ihren eigenen kleinen Schwanz zu lenken. Gerissen zu sein bedeutet, ein wandelndes Schweizer Armeemesser zu sein: eine unerwartete Anzahl von scharfen Fähigkeiten, Ideen und Energien zu haben, um auf das ständige Bedürfnis zu reagieren, die Isonomie zu schützen und herbeizuführen. Es bedeutet weiter, in der Lage zu sein, jede Situation für alle Anwesenden im gegenwärtigen Moment zu verbessern, ohne dabei einer theoretischen Vorstellung des »Zeitgenössischen« entsprechen zu wollen. Letztere ist immer durch Historiker*innen definiert, die versuchen, subtile Lügen über die Geschichte zu erzählen.

IV. Arbeite aus dem Zorn darüber, was wir aus uns gemacht haben. Hab Vertrauen in das, was aus uns werden könnte.

Liebe, was möglich ist, und tue dies mit einer Rate von mindestens 65 %, verglichen mit einem Maximum von 35 % Enttäuschung, gebrochenem Vertrauen oder bösem Blut. #Loveflowsup

    V. Gib dich nie mit dem Spektakel allein zufrieden

    Wir gehen davon aus, dass das Spektakel mit dem Symbolischen verbunden ist, während der radikale Wille in der materiellen Welt in Transformationen umgesetzt werden kann und sollte. Künstler*innen lernen, dass ihre Arbeit für die praktische Anwendung zu radikal sein sollte, obwohl unsere aktuellen Krisen radikale Lösungen mit großen psychischen, imaginären und theoretisch komplexen Grundlagen verlangen.

    VI. Nutze temporäre Kraft, um nachhaltige, wenn auch unmessbare Transformationen zu bewirken

    Wenn Menschen oder Institutionen dir ihr Vertrauen schenken, ob du nun Servicemitarbeiter*in, Performance-Künstler*in, Praktikant*in oder Sekretär*in bist, solltest du deine Position ausnutzen, um deine eigenen Bedingungen zu verändern, und somit die Bedingungen derer, die denken oder handeln, als besäßen sie Macht über dich.

    VII. Hol dir die Verzauberungsmittel zurück

    Du wurdest reingelegt. Wie das Fast Food, das uns mit seinem Salz und Fett quält, führt uns der Kapitalismus hinters Licht, indem er uns dazu bringt, nach Nahrung zu suchen, während er uns von innen heraus tötet. Die mystische Realität, die wir zu lieben gelernt haben und nach der wir süchtig sind, sagt uns, dass dir, solange du gehorsam bist, die Macht fürchtest und die Regeln nie in Frage stellst, wahrscheinlich eine Chance gegeben wird, eine unmögliche Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu überleben. Deine Aufgabe ist es hingegen, Momente zu schaffen, in denen Menschen natürlich vorkommende menschliche Kräfte der Zusammenarbeit erfahren können, die das Gegenteil der Magie der zentralisierten Macht sind, die immer süchtig machend und endlos sind. Wähle Tiere.

    VIII. Verbinde soziale Intuition mit rigoroser Forschung

    Unsere Erkenntnisweisen wurden durch die Metastruktur der »Universität« kommodifiziert und durch Schulden, Hierarchie und Rassismus gegen uns gewendet. Deine Intuition ist kostenlos und du kannst den Universitätsabschluss immer noch retten, indem du deine Forschungsmethoden nutzt, um deine Intuition zu stärken. Sie ist eine Macht, die dich immer dabei unterstützt, repressive Formen der Macht zu untergraben.

    IX.  Schlag immer nach »oben«; attackiere die Macht, nicht die Symptome

    Jede*r, die*den du kennst, hat die schlimmsten Aspekte des Kapitalismus, des Patriarchats, der weißen Vorherrschaft und des Ökozids verinnerlicht. Es ist schwer, sie oder dich nicht schlagen zu wollen. Du solltest dich jedoch nicht verwirren lassen. Es ist deine Aufgabe, diejenigen zu schlagen, die die Kontrolle haben, die leichtfertige Entscheidungen getroffen haben, die uns in eine Lage der Hilflosigkeit bringen, während der Planet brennt.

    X. Wenn es kein Risiko gibt, lohnt es sich nicht, es zu tun.

    Als Subjekt, das die Finanzialisierung überlebt hat, wurdest du dazu gebracht, bei allem, was du tust, den Tiefseedruck eines unkontrollierbaren Risikos zu spüren. Diese Risiken wurden nicht nur geschaffen, damit manche Drecksäcke viel Geld verdienen, sondern um sicherzustellen, dass du nicht zu einer Bedrohung für die Normativität wirst. Um dich auf die Veränderungen vorzubereiten, die für das Überleben der Spezies notwendig sind, musst du zu Erfahrungen übergehen, die dein Nervensystem herausfordern, deine Fähigkeiten testen und dich über deine natürlich auftretende Resilienz unterrichten.

    XI. Mache die Würde zu einer Waffe

    Jede Person hat Würde und weder Roboter noch Unternehmen werden jemals eine haben. Deine Aufgabe ist es, jedes Lebewesen darin zu unterstützen, dies in Bezug auf sich selbst und andere zu verstehen. Wenn du das als Leitlinie an die Spitze deines Post-Work-Lebenslaufes stellst, wirst du alle Momente sabotieren, in denen du Zeug*in wirst, wie deine oder die Würde eines anderen Lebewesens in Frage gestellt wird.

    XII. Finde das »Wir«, das ganz offen versteckt ist

    Du wurdest dazu gebracht, zu glauben, dass du ein besonderes Individuum bist, und dass deine Rolle zu mindestens 50 % aus Wettbewerb und Marktforschung besteht, um sicherzustellen, dass du bei deinem sehr spezialisierten Spiel in Bestform agierst. Der # 1 US -Dichter* sagt etwas, dem wir zustimmen, du kannst dich also entspannen: »Jeder ist für ein bestimmtes Werk geschaffen, und der Wunsch nach diesem Werk wurde in jedes Herz gelegt.« Wenn du weißt, dass du und jedes andere Wesen auch einen Platz auf dem Planeten und in der Gesellschaft hat, wie lassen sich dann neue Wege der Zusammenarbeit finden, obwohl dir beigebracht wurde, mit anderen zu konkurrieren?

    XIII. Das einzig mögliche Verhältnis zu {X} ist ein kriminelles: alle Macht den Undercommons

    Es ist wichtig, dass du dich selbst und deine Energie als Teil eines massiven Wiederauflebens von unten siehst. Jede mächtige Institution nimmt an der Errichtung des kriminellen Wertesystems teil, dem wir uns jetzt widersetzen. Dieses hat die weiße Vorherrschaft und eine grausame und strafende Finanzstruktur unterstützt, die zu unserer gegenwärtigen Situation geführt hat, in der die meisten Menschen aufgrund von Armut, Krankheit, vergiftetem Wasser, Krieg, Depression oder Völkermord nicht überleben. Wenn du »ihre« Macht benutzt, um deine Macht zu verstärken oder zu erweitern, reproduzierst du die Systeme, die dich zu einem elenden, isolierten Individuum auf einem Planeten machen, der will, dass du verschwindest. Wenn von dir verlangt wird, dich mit einer mächtigen Institution zu identifizieren oder innerhalb dieser zu arbeiten, musst du dich daran erinnern, dass du da bist, um sie zu zerschlagen. Du wirst nie mit den Mächtigen sympathisieren.

    S Z E N A R I E N

    1. Der unsterbliche Fremde (Sevilla)

    Die Herausforderung

    Ende 2016 wurde die UotP von Flo6x8 nach Sevilla eingeladen,
    einem Guerilla-Flamenco-Tanzkollektiv, das während
    der Krise in der Eurozone mit kühnen, koordinierten
    Tanznummern bekannt geworden war, bei denen
    Banken besetzt und vorübergehend geschlossen worden
    waren. Allerdings schien diese Strategie aus mehreren
    Gründen nicht mehr angemessen auf zwei wichtige
    Faktoren zu reagieren. Vor kurzem hatte die spanische
    Regierung ein strafendes »Knebelgesetz« (Gag Law) verabschiedet,
    das protestierende Aktivist*innen mit harten
    Bußgeldern bestrafte. Unterdessen waren die Geister
    durch jahrelange Kämpfe an der Basis geschwächt,
    die nur zu einer tieferen Verankerung der Austerität
    geführt haben. Zweitens wünschten sich die Organisator*
    innen eine größere Reichweite ihrer Arbeit –
    wie konnte das Spektakel in etwas verwandelt werden,
    das stärker in bestehende oder neue soziale Bewegungen
    integriert ist? Die Herausforderung bestand darin,
    mit lokalen Aktivist*innen in Sevilla, darunter Flo6x8
    und Mitglieder der militanten Wohnungsrechtsorganisation
    Plataforma de Afectados por la Hipoteca
    (PAH),
    zusammenzuarbeiten und neue Ideen zu entwickeln,
    wie sich die extraktive Schuldenwirtschaft mit den
    Taktiken, Werkzeugen und Fähigkeiten stören
    ließe, die FLo6x8 bereits in Spanien entwickelt
    und erfolgreich umgesetzt hat.



    Unser Ansatz

    Unsere Programmgestaltung in Sevilla bestand aus zwei
    Komponenten. Zunächst entwickelten wir mit der
    lokalen PAH-Gruppe einen Workshop für Flo6x8-
    Organisator*innen, Tänzer*innen und Aktivist*innen,
    von denen sich die meisten mit Zwangsräumung
    oder Wohnungsschulden konfrontiert sahen. Bereits
    seit einigen Jahren hat die University of the Phoenix
    mit einem Problemstudenten zu tun: dem Geist von
    Christoph Kolumbus. Hier waren wir in seiner Heimatstadt!
    Wir nutzten die Gelegenheit, um unseren Workshop
    für Aktivist*innen so zu gestalten, dass die verschiedenen
    Weisen im Mittelpunkt standen, in denen
    das extraktive Strafregime der Austerität präsent ist,
    wie das Erbe des gewalttätigen Kolonialismus, repräsentiert
    durch Kolumbus.

    Der Workshop begann mit einem partizipativen Vortrag,
    der skizzierte, auf welche Weise das Austeritätsregime
    einer kolonialen Logik gehorcht, die auf der Kontrolle
    von Körpern und Bewegung basiert. Wir stellten die
    neoliberale Ordnung, die dem freien globalen Kapitalverkehr
    Priorität einräumt, der Art und Weise entgegen,
    wie diese Ordnung durch die Beschränkung und
    Gestaltung der Bewegungen von Individuen und auch
    unserer kollektiven und kooperativen Bewegung aufrechterhalten
    wird. Auf der einen Seite nutzt der Kapitalismus
    die sanktionierende Macht des Geldes, um zu
    modellieren, wie wir uns in der Welt bewegen, weshalb
    wir die Teilnehmer*innen baten, durch kreative Bewegungsübungen
    zu ›fühlen‹, wie Schulden in ihrem Körper
    verankert werden. Wir untersuchten auch, wie der
    Kapitalismus davon abhängt, wie wir unsere gemeinsame
    Bewegung gestalten, wie wir bei der Reproduktion
    der Welt durch unsere Beziehungen und unsere Arbeit
    zusammenarbeiten.

    Als nächstes führten wir eine meditative und
    kreative Übung mit dem Titel »Dead in my
    Pocket« durch, bei der lebende Teilnehmer*innen eine
    Verbindung zu den toten Absolvent*innen der Universi-
    ty of the Phoenix
    herstellten. Die Lebenden meditierten
    intensiv über die verkörperte Erfahrung, von Schulden,
    finanzieller Isolation und Angst gefangen oder einge-
    schränkt zu sein, und hießen dann in diesem Raum den
    Geist einer Person (historisch, fiktiv oder persönlich)
    willkommen, die sie inspiriert und gestärkt hat. Sie bau-
    ten eine dauerhafte Beziehung zu ihr auf, indem sie die
    tote Person fragten, was sie im Austausch für ihre Unter-
    stützung haben wolle. Um diese Beziehung zu bekräfti-
    gen, unterschrieben die Lebenden einen Vertrag mit den
    Toten, den die lebende Person in ihrer Brieftasche mit
    sich führen konnte. Der Vertrag wurde auf diese Weise
    zu einer leicht zugänglichen Erinnerung, gleich in der
    Nähe ihrer Geld- und Kreditkarten, die die Lebenden in
    der Zukunft beschützen würde.

    Auf diese Weise vorbereitet, wurde der letzte Teil des Work-
    shops von der Flo6x8-Aktivistin Niña Ninja, einer pro-
    minenten Flamenco-Performerin und Lehrerin, geleitet.
    Sie arbeitete eng mit lebenden Teilnehmer*innen und
    ihren toten Partner*innen zusammen, um eine kollek-
    tive Flamenco-Intervention für ihren nächsten Angriff
    auf die Banken zu choreographieren. Diese Choreogra-
    phie brachte mutige, leidenschaftliche Bewegungen von
    Rebellion, Trauer und Protest hervor, die aus der verkör-
    perten Aufführung von Krankheit, Schwäche und Angst
    heraus entstanden, die der Finanzterrorismus dem Kör-
    per einflößt.

    Diese choreographierte Nummer war Teil einer späteren
    Intervention von Flo6x8, die Anfang 2017 in einer Fili-
    ale der Caixa Bank stattfand und auf einem Video fest-
    gehalten wurde.flo6x8.com/content/flo6x8-do%C3%B1ana-y-el-tulip%C3%A1n-africano-sole%C3%A1

    Diese Intervention legte den Schwerpunkt auf die Verurtei-
    lung der Bank für ihre Unterstützung eines Forschungs-
    projekts, das mit Hilfe von Fracking-Techniken Erdgas
    in einem nahegelegenen Naturschutzgebiet fördern soll.
    Die von Flo6x8 für diese Intervention entwickelte
    Flamenco Song- und Tanznummer, stellte den
    Zusammenhang zwischen dieser Form des rücksichts-
    losen, spekulativen Extraktivismus und der Extraktion-
    durch-Schulden, unter der PAH und andere Gruppen zu
    leiden haben, sowie dem Kontinuum mit den Gespens-
    tern des Kolonialismus her.

    Nach der Intervention in der Bankfiliale (die schnell erfolgte,
    um der Ankunft der Behörden und der Verwundbarkeit
    durch das »Knebelgesetz« (Gag Law) zu entgehen) zogen
    die versammelten Tänzer*innen und Aktivist*innen zu
    einem kürzlich errichteten Wolkenkratzer am Rande der
    Innenstadt von Sevilla weiter, einem vielgehassten Bau-
    projekt, in das die Caixa Bank stark involviert war. Dort
    intensivierten die Tänzer*innen ihre Bewegung und
    ihren Gesang und verfluchten das Hochhaus, die Bank
    und die von ihnen repräsentierte Ordnung der Austeri-
    tät. Ihre Performance gipfelte im Wurf von Samenbom-
    ben auf das Hochhaus, welche den Unsterblichen Frem-
    den
    – den Präsidenten der University of the Phoenix, ein
    mächtiger blühender Baum – enthielten. Das Video, das
    nach der Intervention produziert wurde, untersucht die
    Fantasie / alternative Realität, in der der Baum Rache an
    dem Hochhaus nimmt und es von innen zerstört.

    Vokabular, das man sich merken sollte:
    Rache-Consulting
    Kolonialismus
    Intervention
    Schulden
    Extraktivismus
    »Knebelgesetz« (Gag Law)
    

    Schlüsselpersonen:
    The PAH
    Flo6x8
    Der unsterbliche Fremde
    

    2. Ghostmachine (Berlin)

    Die Herausforderung

    3. Geister gegen die Grenze kotzen (Wien)

    Die Herausforderung

    Die University of the Phoenix hatte die Ehre mit einem
    Beitrag zum bahnbrechenden Microperformativity Sum-
    mit
    eingeladen zu werden. Dabei handelt es sich um
    ein Treffen von Wissenschaftler*innen, Künstler*innen
    und Theoretiker*innen, das die Verbindung von drei
    Themen untersucht: performative Kunst, Öko-
    nomie und Mikrobiologie. Dieses Treffen wurde
    teils durch das wachsende kapitalistische Interesse
    an Mikroben für patentierte medizinische Behandlun-
    gen, industrielle Anwendungen und Biopiraterie sowie
    durch das überschäumende neue Denken zu mensch-
    licher und mehr-als-menschlicher Zusammenarbeit
    und Verwandtschaftsbildung inspiriert. Mikroben
    haben, ähnlich wie Geister, einen massiven Einfluss
    auf die lebenden menschlichen Subjekte, die sie in
    ihren Eingeweiden, auf ihrer Haut und anderswo in und
    auf ihrem Körper tragen. Bedenkt man, dass über die
    Hälfte der Zellen ›in‹ einem menschlichen Körper nicht
    ›menschlich‹ sind und schätzungsweise 30 % unserer
    Körpermasse aus nicht-menschlichen Zellen besteht,
    ist es angebracht, den ›Menschen‹ als ein Gemein-
    schaftsprojekt vieler verschiedener Lebensformen
    zu verstehen. Unserer Einladung lag der Wunsch der
    Organisator*innen zugrunde, die Verbindung zwischen
    unseren bakteriellen Lehnsherr*innen (des Menschen)
    und dem globalen Finanzsystem herzustellen.

    Unser Ansatz

    Das Gipfeltreffen sollte in Wien stattfinden, der Hauptstadt
    einer Nation, deren Anti-Migrant*innenpolitik internati-
    onal bekannt geworden ist, in der aber auch heftige Pro-
    teste gegen diese Maßnahmen stattfinden. Als wir uns
    daransetzten, von einer Zusammenarbeit zwischen den
    Geistern der Toten und den Mikroben zu träumen, wur-
    de schnell klar, dass beide ungeduldig und sogar anta-
    gonistisch gegenüber dem künstlichen und imaginären
    Aufzwingen von Grenzen sind, welche sowohl von Geis-
    tern als auch Mikroben fast vollständig ignoriert wer-
    den. Die Grenze wurde hier nicht nur als geografische
    Grenze zwischen Nationalstaaten gefasst, sondern als
    eine Art Metamethodik der Macht, die aus der Geschich-
    te des Imperialismus, der extraktiven Technowissen-
    schaften und des weiß-suprematistischen kapitalisti-
    schen Patriarchats geboren wurde: Das Beharren auf
    festen und kategorischen Trennungen trotzt
    der poetischen Aktualität der Welt.

    Wie immer begannen unsere Aktivitäten, die am zweiten
    Abend des Gipfels stattfanden, mit einem partizipati-
    ven Vortrag, der den Rahmen skizzierte: Die Grenze
    ist ein böser Geist, eine spektrale und spukende Prä-
    senz, die unsere Vorstellungen zunehmend dominiert,
    Bewegungen, Beziehungen und die Ökonomien des
    Austauschs mit katastrophalen Folgen kontrolliert und
    verzerrt. Der Vortrag fand in einem Raum statt, der in
    zwei lange Reihen von sechs Sitzplätzen umgestaltet
    wurde, die von einem Gang getrennt wurden, der an
    ein Flugzeug erinnerte. Mit bedrohlich aussehenden
    Charakteren (Flugbegleiter*innen / Sicherheitsbediens-
    tete), die die Teilnehmer*innen von der Vorderseite des
    Raumes aus anstarrten, erschien der Raum als eine Art
    Alptraumflug. Ein Effekt, der durch die Unterbrechung
    des Vortrags in mehreren Intervallen durch ein »Pre-
    Flight-Sicherheitsvideo« auf nahegelegenen Bildschir-
    men verstärkt wurde. Diese Videos gipfelten in dem ins-
    pirierenden Handy-Video einer jungen Schwedin (Elin
    Ersson), die sich vor einigen Monaten beim Start eines
    Fluges, bei dem auch mehrere Menschen an Bord waren,
    die aus Stockholm abgeschoben und dem wahrschein-
    lichen Tod in Pakistan ausgesetzt werden sollten, mit
    einer geplanten Aktion geweigert hatte, sich hinzuset-
    zen. ↗

    ↙ Nachdem der
    Vortrag mit dem Argument beendet worden war, dass
    wir als kollaborative Organismen daran arbeiten müs-
    sen, die Grenze und das Konzept der Grenzen (politisch,
    ideologisch, wirtschaftlich) abzuschaffen, begannen
    die Flugbegleiter*innen / Sicherheitsbediensteten im
    Anschluss an das Video, »Passagiere« schroff auszu-
    wählen und mit ihnen aus dem Raum zu marschieren.

    In der zweiten Phase des Rituals stieg der Großteil der Pas-
    sagiere in den Keller der Anlage hinab, um sich denen
    anzuschließen, die von den Wachen ergriffen worden
    waren. Dort nahmen alle an einer Art zirkulärem Ritu-
    al der militanten, wohlwollenden Befragung teil. Alle
    Teilnehmer*innenerhielteneineReihevonAnweisungen,
    wie sie mit den Mikroben in ihrem Bauch zusam-
    menarbeiten können, um auf diese Simulation der
    Routinebefragung, mit der wir alle an der Grenze kon-
    frontiert sind, zu reagieren und auf sie zu antworten:
    Das Krankwerden im richtigen Moment würde es einer
    Person erlauben, ein Spektakel zu schaffen, das die
    unfreiwillige Grenzsicherung irritiert, oder sogar auf
    teure und empfindliche biometrische Grenzsicherungs-
    technologien zu erbrechen, was sie unwirksam macht.

    Nach Abschluss dieses sehr intensiven und anstrengen-
    den Trainings betraten die Teilnehmer*innen dann
    einen dunklen Raum, in dem sie sich niederließen
    und sich bereit erklärten, mit einem unserer Absol-
    venten in Kontakt zu treten: einem Geist, der in ihren
    Körper eindringen würde, um mit den Mikroben zu
    verschmelzen, damit alle Parteien in Zukunft durch
    direkte Aktionen gegen Grenzen zusammenarbeiten
    konnten. Am Ende dieses Teils des Rituals öffnete sich
    eine geheime Tür und es gab eine Prozession durch die
    verschneiten Wiener Straßen vom Veranstaltungsort zu
    einem unbestimmten Gebäude in der Innenstadt, dem
    Hauptsitz des International Center for Migration Policy
    Development (ICMPD) – einer großen Denkfabrik, die die
    Politik und Einrichtungen für das Offshore-Manage-
    ment von potenziellen Migrant*innen entwickelt. Mit
    Internierungslagern in Ländern wie Georgien, Molda-
    wien, Algerien, Äthiopien und der Türkei ist die ICMPD
    führend bei der Verhinderung von Migration und der
    Erweiterung der Grenze zu einem Netzwerk von Über-
    wachungs- und Gefängnistechnologien, die letztlich mit
    dem Tod Handel treiben. In ihrem Hauptquartier riefen
    die Teilnehmer*innen die Zusammenarbeit von Geis-
    tern und Mikroben auf, die sie früher am Abend in ihrem
    Körper willkommen geheißen hatten, und benutzten sie,
    um auf das Gebäude zu erbrechen, indem sie die Samen
    des Unsterblichen Fremden ausstießen (und es so
    befruchteten), in der Hoffnung, dass er gerechte Rache
    nehmen würde.

    Vokabular, das man sich merken sollte:
    Grenzsicherung
    Erbrochenes
    


    Schlüsselpersonen:
    International Center for Migration Policy Development
    Institute for Applied Microperformativity
    Lucy Streicher
    Wien
    Bakterien
    Kata Mach