2021
PDF
Aktivismus , Affekt , Schreiben , Anthropozän , Gerechtigkeit , Praxis , Ökologie , Körper , Collage , Globalisierung , Relation
Zukunft, gefaltet

GLOBALISIERUNG IN DER HEISSZEIT. VERNETZE TRANSITMEDIEN DER VERBEREITUNG VON
NICHTMENSCHLICHEN WESEN.

Das Corona-Virus steht für die schockartige Erkenntnis, wie unsag-
bar fragil die menschlichen Systeme sind, und zwar alle: die techni-
schen, sozialen und die biologischen. Covid-19 mit seiner hübschen
Haeckel-Form ist fortan das Synonym für die Erfahrung, wie alle
Teile der Gesellschaft gleichzeitig durch ein Problem betroffen wer-
den können, dies weltweit und ohne dass ›wir‹, die Menschen, wirk-
lich etwas dagegen tun können. Dabei ist diese Erfahrung nicht ein-
zigartig und auch nicht neu.

Alles ist mit allem verbunden. Wir sind
verbunden über Wellen und Leitungen, wir sind aber auch global
verbunden mit nicht-menschlichen Wesen. Wer sind die besten Ver-
binder? Ihnen gehört die Welt. Systemics (verbinden) ist das Para-
digma unserer Zeit. Das alte Paradigma der Kybernetik. Scientia
(trennen) hat ausgedient. Verbundenheit ist das neue Mantra. Being
with. Ich umarme meine Bakterien. Wir sind keine Individuen, son-
dern wir sind Vielheiten, die von innigen, mitunter metabolischen
Verbindungen mit anderen Organismen abhängen. Das anthropo-
zentrische Weltbild ist abgeschafft, weg mit den Kategorisierungen,
die eine Beschreibung der Welt und eine Politik nur grob wie eine
Harke, die den Boden verletzt, leisten können. Da fällt einiges durch
das Raster, vor allem Kleinstlebewesen, mit denen wir unseren Kör-
per oder unsere Lebenswelt teilen. Auf einer Grünfläche in Berlin in
der Nähe der Osloer Straße gibt es seit 2019 eine »Demokratie der
Organismen«. Ihre menschlichen Partner verkünden: »Alle Lebe-
wesen dieser Grünfläche von der Schnecke über den Eschenahorn
bis zum Wurzelknöllchenbakterium haben die gleichen politischen
Rechte«.

In Zeiten der Globalisierung haben einige
Organismen auch gleiche Flug-, Wohn- und Reiserechte. Wobei ich
hier zunächst nicht weiter vom erfolgreichen Virus Covid-19 spre-
chen möchte, zumal Viren für sich genommen nicht lebensfähig
sind, erst wir komplettieren sie ja mit unseren Wirtszellen, erst in
unserer Beherbergung können sie ihren Stoffwechsel betreiben. Wir
transportieren zahlreiche Lebewesen mit unseren Körpern. Aber
auch in unseren Taschen oder auf dem Postweg, mit dem Flugzeug
und durch die medienökologischen Netze von Ebay oder Airbnb
oder über das Netz der Wanderwege in den Alpen. Die Passagiere dieser
Netzwerke sind z. B. kleine Bettwanzen. Auch die Wanzen sind, wie
die Touristen von Airbnb, Kulturfolger. Ihre Hauptwirte sind zurzeit
die Hüttenwirte in den Alpen und die Betreiber*innen von Airbnb-
Wohnungen. Die kleinen Passagiere sind Indizien und Symptome
der erfolgreichen Globalisierung alias globalen Vernetzung in Zeiten
touristischer Bewegung. »Die Welt vor Ort entdecken: Mach es dir
an einem neuen Ort gemütlich. Entdecke Unterkünfte in der Nähe,
in denen du wohnen, arbeiten oder einfach nur entspannen kannst.«
Dieser Werbespruch von Airbnb ist nicht so sehr an Menschen, als
vielmehr an Bettwanzen gerichtet. Sie entdecken die Welt! Sie arbei-
ten nachts und entspannen tagsüber in der Ritze eines Lichtschal-
ters oder eines Sofas. Kommt ein neuer Gast mit einem gut riechen-
den Gepäckstück an, kriechen sie an Bord und warten, bis der Gast
sie an einen neuen Ort befördert. Seit einigen Jahren und parallel
zum neuen, digital angetriebenen, vernetzten Tourismus kehren
sie dorthin zurück, wo sie bereits durch Chemie vernichtet waren,
oder sie entdecken für sich ganz neue Welten, um diese zu behausen.
Denn sie sind flexibel, sie können überall leben, wo Menschen auch
leben können. Being with ist keine Entscheidung. Die Hüttenwirte
haben den Wanzen den Kampf angesagt. Mit Spürhunden rücken die
Schädlingsbekämpfungsfirmen an, ihre Einsätze sind sehr teuer, da
es so aufwändig ist, eine Wohnung von Wanzen zu befreien.

Wie wird es mit den nicht-menschlichen
Wesen in Pandemiezeiten weitergehen? Wenn Anteile der Globa-
lisierung so lange verlangsamt werden wie beim Tourismus, wenn
die Grenzen geschlossen und Beherbergungsverbote verhängt wur-
den? Wenn Fluglinien pleite gehen und Wohnungsbesitzer*innen
ihre Wohnungen wieder an die Bewohner*innen ihrer eigenen Stadt
vermieten, weil die Touristen nun fast vollkommen ausbleiben? Und
wer sind andere nicht-menschliche Gewinner oder Verlierer in einer
Zeit der immer wärmeren Globalisierung?

AUTOTHEORIE UND ARCHÄOLOGIE DER EIGNENE PERSON

Mikroben sind’s, Quallen, Pilze natürlich und Ratten immer, lau-
tet meine spontane Antwort auf die von meiner Vorschreiber*in
gestellte Frage nach den nicht-menschlichen Gewinnern oder Ver-
lierern; dabei zitiere ich die Anfangsformel »Mikroben sind’s« aus
dem Gedächtnis, weil ich neulich in der Schweiz, in die ich trotz
Corona-Beschränkungen einreisen durfte, den Anschlusssatz für
diesen Text in ein paar Minuten formulieren musste. Zurück in
Berlin, google ich die zwei Wörter, um das gleichnamige Paul-
Celan-Gedicht zu finden, für das ich sie halte. Doch ich finde keine
»Mikroben sind’s« von Celan, die ersten drei Millionen Einträge
sind tatsächlichen Mikroben gewidmet, dem Mikrobenwissen auf
Wikipedia und anderen Wissensseiten. Aber wo sind Celans Mi-
kroben geblieben? Warum findet Google Celans Mikroben nicht?

Weil Celan nicht von Mikroben schrieb,
sondern (natürlich) von Mikrolithen, stupid! Wenn man »Celan +
Mikrolithen« googelt, erhält man zigtausend Einträge zu einem
Titel namens Mikrolithen sind’s, Steinchen, der meiner Gedächt-
nisstörung offenbar als Vorlage gedient hat. Mikrolithen sind’s,
Steinchen ist der Titel der nachgelassenen Prosa CelansPaul Celan, Mikrolithen sind’s, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlass, hg. von Bertrand Badiou und Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. – und
kein Gedicht. Aber wo verflixt finde ich nun dieses Gedicht, mit
dem mich mein Gedächtnis täuschte? Und was ist der Unterschied
zwischen den beiden Mikros, zwischen Mikroben und Mikroli-
then? Mikroben sind, so sagt es dieser Text, zum Beispiel Wanzen
oder andere Mikro-Lebewesen, aber was sind Mikrolithen? Der
entsprechende Wikipedia-Eintrag klärt auf:

Mikrolithen (von altgriechisch μικρός mikrós,
deutsch ›klein‹ und λιθος líthos ›Stein‹) sind
sehr kleine steinzeitliche Klingen oder Spitzen
mit bis zu 3 cm Größe. Sie wurden durch gezieltes
Zerbrechen und anschließendes Retuschieren
kleiner Steinklingen hergestellt. Als Rohmaterial
wurde gut spaltbares Kieselgestein wie Feuerstein
oder vulkanisches Glas wie Obsidian verwendet.

Okay, verstanden: Mikrolithen sind

menschliche Artefakte, Mikroben gehören der nicht-mensch-
lichen Welt an, für die der manifestartige Anfang dieses Textes
sich ausspricht. Gilt das Wanzen-Manifest also nur für die Mikro-
ben und nicht für Mikrolithen? Aber sollte man sich nicht nur mit
Mikroben verbinden, sondern auch mit Mikrolithen? Privilegiert
das Manifest nicht die organische vor der anorganischen Welt,
der Mikrolithen entstammen, Mikroben aber nicht? Und hat eine
Ästhetik der Unterbrechung also tatsächlich »ausgedient«, wie
es oben heißt und wäre durch das Paradigma des Verbindens zu
ersetzen? Wobei wir uns heute ja zum Großteil technisch verbin-
den und die Verbindung zu einer technischen Frage geworden
ist? Sollte man entsprechend von einer Ästhetik der Differenz zu
einer Ästhetik der Identität übergehen?

Ich suche zunächst das Celan-Gedicht,
»Mikrolithen sind’s, Steinchen« – aber von Gedicht keine Spur.
Alle Einträge zitieren nur den Buchtitel, nirgends ein gleichnami-
ges Gedicht – das so verborgen scheint wie die Mikrolithen selbst.
In Lichtzwang von 1970 findet sich ein Gedicht mit diesem Titel:
»Mit Mikrolithen«.Paul Celan, »Mit Mikrolithen«, in: P.C., Lichtzwang, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, 11. Aber in dem 900-Seiten-Wälzer Mikrolithen
sind’s
findet sich kein gleichnamiges Gedicht, jedenfalls nicht im
Inhaltsverzeichnis. Mir schwindelt bei der Suche nach den ver-
borgenen Zeilen mit den verborgenen Steinchen; Begriffe, Assozi-
ationen, Materialien sausen mir ungeordnet durch den Kopf: der
Obsidian, den ich einmal von einem Studenten geschenkt bekam,
weil er mit diesem Material gearbeitet hatte; das Thema der Steine,
über die ich ein Seminar und ein Buch machen wollte, dazu die
Steine von Roger Caillois über Quentin Meillassoux’ »Archi-
Fossil« bis zu Kai Schiemenz’ Fakesteinskulpturen;Vgl. Roger Caillois, Steine, München: Hanser 1987; ders., Die Schrift der Steine, Graz: Droschl 2004; vgl. dazu: Massimiliano Gioni, »Préface«, in: R.C., La lecture des pierres, Paris: Éditions Xavier Barral 2014; Kai Schiemenz, Bunte Steine (Ausst.kat.), Berlin: Georg Kolbe Museum 2019. schließlich

das Steinbeil-Beispiel von Tim Ingold aus dem Artefakt-Seminar,
der damit demonstriert, wie falsch menschliches Wissen über
Dinge liegen kann (Ingold zitiert zwei Forscher, die die These
aufstellten, dass es sich bei den weltweit gefundenen Steinbeilen
nicht um Werkzeuge handele, sondern umgekehrt um Klötze, von
denen man Werkzeuge, das heißt kleine Klingen, also Mikrolithen,
abgeschabt habe);Tim Ingold, »On Making a Handaxe«, in: T.I., Making. Anthropology, Archaeology, Art and Architecture, London: Routledge 2013, 33–45. und am Ende noch der Vortrag von Pawel Pis-
zczatowski in Jerusalem, der sich mit dem archäologischen Celan
beschäftigt hatte,Pawel Piszczatowski, »Zur Archäologie des Gedenkens in Celans Spätwerk«, Vortrag auf der Konferenz Zäsuren. Zu Paul Celans Spätwerk, The Hebrew University of Jerusalem, 12.–14.11.2019, unveröffentlichtes Ms. also auch mit »Mit Mikrolithen« – nicht jedoch
mit dem Prosatext »Mikrolithen sind’s, Steinchen«, die also immer
noch so verborgen und unauffindbar waren wie zu Beginn meiner
Suche.

Zuletzt nehme ich tatsächlich das Buch in
die Hand. Ich schlage die 900 Seiten zum ersten Mal auf. In der
Abteilung Fiktionale Prosa finde ich nach einigem Blättern das
unscheinbare Fragment: »Mikrolithen sind’s, Steinchen«.Celan, Mikrolithen sind’s, 74. Das
Fragment, das die Unscheinbarkeit eines Kieselsteinchens besitzt,
hat eine verblüffende Karriere von seiner Seite 74 auf den Titel
hingelegt – eine Karriere, ohne die es schlussendlich auch nicht
zu mir und in diesen Text gelangt wäre. Das Fragment geht folgen-
dermaßen:

Mikrolithen sinds, Steinchen, kaum wahrnehmbar,
winzige Einsprenglinge im dichten Tuff deiner
Existenz – und nun versuchst du, wortarm und
vielleicht schon unwiderruflich zum Schweigen
verurteilt, sie zusammenzulesen zu Kristallen?
Auf Nachschübe scheinst du zu warten – woher
sollen sie kommen, sag?
Ebd.

Meine erste, unmittelbare Lektüre ver-
wandelt sich den Text direkt an – derart distanzlos, dass ich ihn
unverzüglich über iMessage an meine Dialogpartnerin sende,
eine Celan-Spezialistin, mit der ich mich den Vormittag der ersten
Lektüre der Zeilen über in einem Zwiegespräch befinde. Verleitet
durch die Dialogform des Textes, speise ich ihn sogleich in mein
privates Zwiegespräch ein. Eine Fehllektüre? Die Peinlichkeit, die
einer ernsthaften Lektüre nicht unterlaufen darf? Oder müssen
authentische Lektüren nicht auch die eigene Erfahrung und das
Autobiographische einbeziehen, anstatt es akademisch auszu-
klammern?

Augenblicklich rechtfertige ich meine
unschickliche Anverwandlung der Zeilen vor dem inneren Zen-
sor; zeitgleich rattert die autotheoretische Lektüre durch den
Kopf: Habe ich die Dialogpartnerin nicht auch »zum Schweigen
verurteilt«, wie Celan schreibt? Halte ich ihr nicht auch ihren Ide-
alismus entgegen, in dem sie blinde und unbewusste »Einspreng-
linge« im »dichten Tuff ihrer Existenz« zu »Kristallen« zu machen
versuche? Und versuche ich sie nicht davon zu überzeugen, dass
wir bei allem, was uns widerfährt, nicht nur unsere Gefühle sehen
sollen, sondern auch deren distanziertere Objektform im »dich-
ten Tuff [der] Existenz«, dass sie also eine radikale Blickwende
vollziehen müsse vom subjektzentrierten Gerichtetsein auf die
Welt zum Schauen auf sich als Objekt, die ich leicht pathetisch als
›die kopernikanische Wende der Gefühlswelt‹ bezeichnete, womit
eine post-leidenschaftliche und post-partnerzentristische Perspek-
tive auf Beziehungen gemeint ist, die davon ausgeht, dass nicht
wir um eine Welt kreisen, die allein durch den subjektiven Blick
unserer Gedanken und Gefühle konstituiert ist, sondern, dass die
Objekte der Welt uns wie in einem Schattenspiel nur vorgehalten
werden, um uns an unser unbekanntes und fremdes Ich zu erin-
nern, das uns immer entgeht, an unsere intimsten Aufgaben und
Verfassungen, die sich in derselben Bewegung wiederholen, in
der sie sich uns entziehen, dass es also in unseren Beziehungen
zu den anderen und zur Welt, die wir durch unseren subjektiven
Blick konstituieren, nie nur um diese Spiegel unserer Subjektivi-
tät geht, auf die wir alles projizieren, um uns von uns abzulenken,
sondern dass es darum geht, diesen Spiegel zu zerschlagen und
uns endlich als Objekt zu sehen, uns endlich zu entsubjektivie-
ren und uns als Objekte zu entbergen und auszugraben? Das wäre
jener Übergang von »der Ichbezogenheit zu einem Zustand der
Offenheit, der Verwundung [à un etat d’ouverture, de blessure]«,
von dem Bataille einmal in einer Diskussion sprach.Georges Bataille, »Discussion sur le péché«, in: G.B., Œuvres Complètes , Bd. 6, 342 [dt.: »Diskussion über die Sünde«, als Annex in: G.B., Nietzsche und der Wille zur Chance (= Atheologische Summe III), Berlin: Matthes & Seitz 2006, 308].

Und wird dieses Intimste – das so intim
und verborgen ist, dass es uns als fremd erscheint und das uns so
fremd erscheint, dass man es als Extimes bezeichnen könnte: also
als etwas, das nicht geborgen von einer harten Schale im Innern
unseres Selbst liegt und unsere Innerlichkeit bezeichnet, son-
dern das sich ganz im Gegenteil an dessen unschützbarem Außen
befindet, an der Außenhaut unserer Empfindlichkeit, dort, wo wir
am empfindlichsten und erschütterbarsten sind –, wird dieses
Extime, dessen Theorie Lacan im Kontext der Entdeckung der prä-
historischen Höhlen von Altamira entfaltet hat,»En fin de compte, si nous partons de ce que nous décrivons comme ce lieu central, cette extériorité intime, cette extimité qui est la Chose (Das Ding), peut-être ceci éclairera-t-il pour nous ce
qui reste encore une question, voire un mystère pour ceux qui s’intéressent à cet art préhistorique.« Jacques Lacan, L’Ethique, 1959–1960, Transkription Staferla, (12.2.2021), 285.
das also immer
schon als prähistorisch definiert wurde, wird nicht dieses prähis-
torische Extime von Celans Gedicht präzis beschrieben, sind das
nicht jene »winzigen Einsprenglinge« von Altem und Verborge-
nem, von denen es spricht und die in uns sprechen, ohne dass wir
sie dazu aufgefordert hätten? Und braucht es nicht eine Archäo-
logie dieser extimen und prähistorischen Versteinerungen, um
unseren verkapselten und eingesprengten Erfahrungen auf die
Spur zu kommen? Ist das Celan-Gedicht nicht eine Aufforderung
zu einer Archäologie in eigener Person oder einer Archäologie der
eigenen Person, in der man die »Einsprenglinge im dichten Tuff«
der eigenen Existenz aufdeckt, anstatt zu versuchen, sie idealisie-
rend »zusammenzulesen zu Kristallen«? Müsste man also nicht
nur verlernen zu lesen, verlernen zusammenzulesen, was nicht
zusammengehört und stattdessen einfach nur sehen, was in uns
schmerzhaft da ist, Einsprengsel sehen, Steinchen sehen, Mik-
rolithen sehen? Geht es Celan nicht um eine Archäologie der
Traumata?

Ich schreibe das nicht von ungefähr und
nicht an einem beliebigen Tag. Gestern Abend war ich in einer
Abendgesellschaft mit verschiedenen Menschen, denen das glei-
che widerfahren war wie mir. Den Abend über beklagte sich M.
über jemand anderes, verbohrte und verstrickte sich immer tiefer
in diesen Fall – ohne den Blick zu wenden und sich zu fragen, was
seine Erfahrungen mit ihm zu tun haben könnten, wozu ich und
der Gastgeber ihn vergeblich aufforderten.

Nach diesem Abend trage ich heute Morgen
folgenden Gedanken mit mir herum: Alles, was wir tun
können, alles was wir der Welt und den brutalen Erfahrungen
entgegensetzen können, die wir manchmal machen, ist diese ein-
fache Blickwendung zu sich selbst, zum extimen Selbst: Auf wel-
ches mir Verborgene, auf welche verborgene Verfassung meiner
reagiert die Welt? Und mit Hilfe welcher Archäologie kann ich
dieses Verborgene ausgraben, um es zu sehen und um mich seiner
zu bemächtigen?

Diese Gedanken gehen mir an dem Morgen
dieses Textes auch deshalb durch den Kopf, weil der Retreat, auf
den ich demnächst gehen wollte und wo es um derlei Aufdeckun-
gen und Ausgrabungen von Extimitäten gehen sollte, aufgrund
des aktuellen Corona-Lockdowns gerade gecancelt wurde: Wenn
ich die Ausgrabung nicht dort machen kann, muss ich sie selbst
machen. Der Anfang war bereits getan, ich hatte eine Liste mit
Themen angefertigt, um die es gehen könnte – mit Einsprengseln,
Mikrolithen und Steinchen, die man bei mir ausgraben könnte.
Und haben diese Abschweifungen zu Ein-
sprengseln und Ausgrabungen noch etwas mit dem Celan-Frag-
ment zu tun? Der Band enthält folgende Information zu dem
Mikrolithen-Fragment: »Zwei undatierte Erzählfragmente
(zwischen 1955 und 1957); Handschrift [...]« und berichtet von
»Mikrolithen. Das der Früh- und Vorgeschichte zuzuordnende
Wort, das durch das folgende ›Steinchen‹ ›übersetzt‹ wird,
erscheint später im Gedicht Mit Mikrolithen (16.6.1967, KG 277).
Siehe auch Nr. 130.«Celan, Mikrolithen sind’s, 467f.

Tatsächlich spricht Fragment 130 ähnlich
archäologisch von »Blicken« und »Tauchern«, die »gedankenbe-
gleitet, in der Untiefe, umherschwimmend, welkende Wieder-
kunft. Lampenlicht abblätternd, die Hand, umhertastend in der
Asche.«Ebd., 74. Trotz meiner Bemühung, das Fragment nicht unmittel-
bar zu entziffern, fühle ich meine archäologische Lektüre bestä-
tigt; ja, in den »Tauchern«, die »gedankenbegleitet, in der Untiefe,
umherschwimmen«, erkenne ich mich sogleich in Begleitung
eines Therapeuten, meines favorisierten Archäologen der Seele,
wie wir unter dem Wasser des Unbewussten am Grund oder Boden
des Bewusstseins Stollen um Stollen graben, neue entdecken, uns
mit Suchscheinwerfern bewegen in der glitzernden Landschaft
einer neu-alten »welkenden Wiederkunft«, in der uns jedoch bald
die Luft ausgeht.

Das Gedicht »Mit Mikrolithen«, auf das die
Erläuterung ebenfalls hinweist, ist kurz, ebenfalls nicht im Netz
und lautet folgendermaßen:

Mit Mikrolithen gespickte
schenkend-verschenkte
Hände.
Das Gespräch, das sich spinnt
von Spitze zu Spitze,
angesengt von
sprühender Brandluft.
Ein Zeichen
kämmt es zusammen
zur Antwort auf eine
grübelnde Felskunst.
Celan, »Mit Mikrolithen«.

Ich lese es – und versuche auch hier jede
unmittelbare Deutung zu vermeiden. Zehn Jahre nach dem
»Mikrolithen«-Fragment werden die dortigen »Einsprenglinge«
1967 im Gedicht verdichtet zu »Mikrolithen«, mit denen »Hände
gespickt« sind. Es geht also um verletzte Hände, um Verwundun-
gen, um, wie es Piszczatowski formuliert, »das Schreiben aus der
Wunde / dem Trauma heraus, das Schreiben mit der Wunde in der
Hand.«Piszczatowski, »Zur Archäologie des Gedenkens«. Doch wie schreibt man »aus der Wunde / dem Trauma
heraus«, »mit der Wunde in der Hand«? Wie schreibt man mit
einer »verbrannten Hand über die Natur des Feuers«, wie das
bekannte Ingeborg-Bachmann-Zitat lautet, das ich schon einmal
als Motto zitierte, jener Bachmann also, an die Celan einen Monat
nach Niederschrift des Gedichts im Juni 1967 seine letzte Nach-
richt schrieb?Piszczatowski, »Zur Archäologie des Gedenkens«.

Um zu wissen, wie man über die Wunde sch-
reiben soll oder wie man die Verwundung schreiben soll, muss
man wissen, wie sie beschaffen ist. Celan ist darüber einiger-
maßen auskunftsfreudig: Im Gedicht befinden sich die Mikroli-
then nicht mehr wie im Fragment »im dichten Tuff deiner Exis-
tenz«, sondern in Händen; in Händen, deren Verwundung und
Spickung mit Steinchen zurückliegt. Die Wunden von Einschlie-
ßungen und Steinchen verweisen immer auf die Vergangenheit,
auf Älteres; die Verwundungen zeigen alte und altvordere Ein-
schließungen, deren unvordenkliche Verkapselung wir ebenso
wenig rekonstruieren können wie ihr Eindringen in unsere
Existenz. Das ist das Trauma: das Intimste, das sich verschanzt
und zu einem Extimen wird. Es verkapselt sich und nistet sich
verborgen im Sitz einer Vergangenheit ein, über die wir in der
Regel nichts wissen und nichts erfahren. Das ist das Problem
mit dem Trauma: Weil es, bestenfalls, als Symptom bekannt ist,
lässt sich über seine Herkunft wenig sagen. Aber was sich nicht
an der Oberfläche blicken lässt, lässt sich vielleicht im »dichten
Tuff [der] Existenz« ausgraben.

Celan zeigt sich bei seiner Archäologie
des Traumas durchaus wissenschaftlich informiert; nach der
Notiz zu den »Mikrolithen« bemerken die Erläuterungen der
Herausgeber*innen zu der Tuff-Stelle:

Innerhalb eines Konvoluts zu Sprachgitter befinden
sich zwischen Fragmenten zu »Entwurf einer
Landschaft« [2.1.1958, KG 107] Lesenotizen aus einem
nicht identifizierten erdgeschichtlichen Werk: »Tuff,:
Gestein aus verfestigten vulk. Lockerprodukten,
Bomben, Schlacke, Lapilli, oft mit vielen Kristallen,
Asche.«Celan, Mikrolithen sind’s, 468.

Womöglich ist das »nicht identifizierte
erdgeschichtliche Werk« mittlerweile identifiziert worden; nach
Piszczatowski stützte sich Celan auf Herbert Kühns Die vorge-
schichtliche Kunst Deutschlands von 1935 sowie auf Friedrich
Behns Kultur der Urzeit von 1950.Vgl. Paul Celan, Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, hg. von Barbara Wiedemann, Berlin: Suhrkamp 2018, 981ff. In einer E-Mail an den Autor
vom 10.11.2020 präzisiert Piszczatowski:

Auch Lesenotizen und Unterstreichungen in
Kühns Buch verweisen auf eine aktuelle Lektüre.
Da sich Celan, als er all die Notizen machte, in
der psychiatrischen Klinik befand, bin ich davon
ausgegangen, dass er die Bücher (wie auch viele
andere) bei sich hatte und sie an den Tagen gelesen
hat, an denen auch die Gedichte entstanden
sind (14.–16.6.1967).

Wenn man sich vorstellt, wie Celan insbesondere das Buch von
Kühn im Juni 1967 während seines Aufent-
halts in der Pariser psychiatrischen Universitätsklinik studiert
hatte – wie sollte man nicht denken, dass er die Bestandteile des
seelischen »Tuffs« ebenso unmittelbar las und auf die eigene
Existenz bezog wie ich seine Zeilen? Wie sollte Celan nicht das
»Gestein aus verfestigten vulk. Lockerprodukten, Bomben, Schla-
cke, Lapilli, oft mit vielen Kristallen, Asche« als abgelagerte und
»verfestigte« seelische und historische Vergangenheit verstanden
haben? Wie sollte er, der vielfach Traumatisierte, sich nicht detail-
liert vor Augen geführt haben, was die »vulk. Lockerprodukte«,
was die »Bomben«, was die »Schlacke«, was die »Lapilli, oft mit
vielen Kristallen, Asche« im Einzelnen für ihn bedeutet haben
mögen? Hat er dies nicht als detaillierte Auflistung von Prozessen

seiner seelischen und historischen Vergangenheit lesen müs-
sen? Und geht es hier vielleicht auch nicht nur um die seelische,
sondern ebenso sehr und davon nicht zu trennen, um die histori-
sche Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, aber auch des israeli-
schen Sechstagekriegs, mit dem wenigstens das Mit Mikrolithen-
Gedicht zusammenhängt?Vgl. Piszczatowski, »Zur Archäologie des Gedenkens«. Als Beschreibung von Geschehnissen,
deren Besonderheit darin besteht, dass man nichts mehr über sie
weiß, dass sie versiegelt unter der Oberfläche unseres Bewusst-
seins deponiert sind, so dass man sie rekonstruieren muss wie
ein Archäologe, der die »welkende Wiederkunft« unter seinem
»Lampenlicht« studiert? Wurden Celan mit der Auflistung der
einzelnen Materialitäten der Vergangenheit nicht die einzelnen
Bestandteile seines Traumas vor lesende Augen geführt, von
denen er sonst womöglich nie erfahren würde? Handelt es sich
hier nicht um eine materielle Rekonstruktion einer Traumatisie-
rung? Schließlich sind Lapilli laut Wikipedia nicht nur das itali-
enische Wort für »Steinchen«, sondern die Vulkanologie meint
damit:

erbsen- bis nussgroße (2–64 mm große) Pyroklas-
ten, die bei einem explosiven Vulkanausbruch
geför-dert werden. Die Lapilli bilden zusammen
mit den vulkanischen Aschen (< 2 mm), den Bom-
ben (> 64 mm, gerundet, ursprünglich geschmolzen)
und den vulkanischen Blöcken (> 64 mm, eckig,
zum Zeitpunkt des Auswurfs bereits fest) die pyro-
klastischen Sedimente (auch Tephra genannt, wenn
unverfestigt) bzw. die pyroklastischen Gesteine
(wenn verfestigt).

Was mögen die »explosiven Vulkanausbrü-
che« bei Celan gewesen sein, von denen die Steinchen zeugen, was
die geschmolzenen »Bomben« und »vulkanische Blöcke« und was
war die Hitze, die zur Steinschmelze geführt haben mag? Und
handelt es sich hier um Metaphern oder geht es um die Materiali-
tät und die Materialisierung von seelischen Traumata?

ANTHROPOZÄNE AFFEKTE

Diese Traumata scheinen jegliche Unterscheidungen von Seele und Materie,
von Individuum und Welt zu durchbrechen und zu ökologischen Traumata
geworden zu sein. Die Relationen des ›being with‹ sind nicht einfach die
Bezogenheit ›der Welt‹ auf ›das Individuum‹ (oder umgekehrt). Celans
sprachliche Tiefbohrungen zeigen jene geologische Dimensionen des Han-
delns und Fühlens, die auch in den Debatten um das Anthropozän die plane-
tarische Dimension menschlicher Existenz selbst hervorheben. ›Being with‹
ist das planetarische des Individuums, dass sich weder von der Erde lösen
noch ihr gegenüberstellen lässt. Celans Sprache bildet dabei die affektive
Geologie, eine Tiefenbohrung in die Schichten voller Traumata. Sie bohrt
sich in einen schreienden Planeten, um zu erforschen für wen sich die Erde
hält, wie schon Gilles Deleuze und Félix Guattari, zwei gute Leser Conan
Doyles, wissen wollten.Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin: Merve 1992, 59. Im Anthropozän werden diese Schreie lauter: Der
Mensch ist längst nicht mehr nur auf physikalischer oder biologischer Ebene
untrennbar mit planetarischen Prozessen verwoben. Das gesamte Denken
und Fühlen ist planetarisch geworden. Für wen hält sich der Mensch? Für
Deleuze und Guattari sind dies Fragen einer Geo- oder Ökophilosophie.Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000; Félix Guattari, Qu’est-ce que l’écosophie?, hg. von Stéphane Nadaud, Fécamp: Lignes 2018.
Was wäre dann ein Geohandeln, was eine ökologische Psychologie?

Wenn die Aussage der Anthropozänthese von Paul
Crutzen und Eugene Stoermer darin besteht zu zeigen, dass der Mensch
zu einer geologischen Kraft geworden ist, die sich als Stratum auf der Erde
niederschlägt, so sind es Deleuze und Guattari, die zeigen, dass diese geo-
logische Logik des Menschen nicht nur die Schichtungen der Erde umfasst,
sondern ebenso den Menschen selbst. Denn auch das menschliche Indivi-
duum – so argumentieren sie in Bezug auf Gilbert Simondon – ist Sedimen-
tierung von physikalischen, biologischen und psychosozialen Schichten. Ihr
Zusammenspiel, d. h. ihre Schichtung, bildet den Prozess der Individuation.
Sedimentierung, darin sind sich Simondon wie auch die Geolog*innen einig,
ist nicht einfach das Addieren immer neuer Schichten, vielmehr formen
diese komplexe Wechselwirkungen, in denen neue Schichten immer auchbestehende Schichten verändern, ja sogar erst als solche hervorbringen.Deleuze und Guattari bezeichnen dies mit der Aussage »Gott ist ein Hummer« bzw. dem Begriff der Doppelzange: »Schichten treten nicht nur mindestens zu zweit auf, jede Schicht ist auch auf andere Weise doppelt (hat selber mehrere Schichten). Tatsächlich enthält jede Schicht Phänomene, die konstitutiv für eine doppelte Gliederung sind. Zweimal gliedern, zweimal artikulieren, B-A und BA.« (Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, 61).
Wenn nun also der Mensch zur geologischen Kraft geworden ist, so bedeu-
tet dies auch, dass vormals als menschliche, teilweise sogar als individuell
geglaubte Ebenen des Menschen als planetarisch begriffen werden müssen.
Die Situierung des menschlichen Individuums ist somit eher geologisch und
nicht phänomenologisch zu verstehen. Und auch die Ebene des Psychoso-
zialen ist dann keineswegs mehr bloß eine Frage des Individuums, sie ist
geo-psychologisch geworden.

Während diese geologische Dimension der Psyche
einerseits Deleuze und Guattaris Konzept eines Unbewussten aufnimmt,
das maschinisch organisiert ist und keineswegs auf eine individuelle Psy-
che beschränkt werden kann, sondern gerade immer neue Verbindungen
produziert, wirft diese planetare Konzeption der Psyche andererseits die
Frage auf, welche affektiven und psychosozialen Dimensionen den gegen-
wärtigen Katastrophen wie der Klimakatastrophe oder dem großen Arten-
sterben, wie es Elizabeth Kolbert beschreibt, innewohnen.Elizabeth Kolbert, Das sechste Sterben: wie der Mensch Naturgeschichte schreibt, Berlin: Suhrkamp 2017. Dabei geht es
gerade nicht um die Frage, ob das Individuum um die Welt oder die Welt um
das Individuum kreist (wer müsste da nicht an die Kränkungen der Mensch-
heit denken). Es ist keine Frage der Erfahrung, basierend auf bestehenden
Subjekt- und Objektpositionen. Es ist eine Frage der Individuation selbst.
Wie werden Subjektivitäten in Zeiten des Anthropozäns hervorgebracht?
Und welche psychologischen Konstitutionen und Traumata wohnen ihnen
inne? Es ist die Frage nach dem Affekt im Anthropozän sowie nach einem
anthropozänischen Affekt.

Der Affekt ist – so beschreibt es Brian Massumi
mit Referenz auf Spinoza – nicht zu verwechseln mit der Emotion. Während
die Emotion das innere Gefühl eines Subjekts beschreibt, das sich im Sinne
der Basisemotionen wie Trauer, Wut, Angst etc. ausdrückt, ist der Affekt auf
der Ebene des Körpers wirksam. Körper, so Spinoza, haben (bzw. sind) das
Potential zu affizieren und affiziert zu werden. Durch diese doppelte Bewe-
gung des Affizierens sind die Körper keine gegebenen Einheiten, die affektiv
aufgeladen werden können, vielmehr entstehen und verändern sie sich mit
jedem Affektereignis.Brian Massumi, Ontomacht: Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve 2010, 27. Mehr noch: Diese Körper bzw. diese Körperpro-
zesse der Affizierung sind keinesfalls auf die Körper menschlicher Subjekte
zu reduzieren. Jegliche körperlichen Konfigurationen – seien sie menschlich,
seien sie unmenschlich – sind Teil der Zirkulationsweisen des Affekts. Und
so ereignen sich Affizierungen auch in ganz verschiedenen Dynamiken, in
ganz unterschiedlichen Zeiten und Intensitäten. Massumi schreibt: »Abhän-
gig von den Umständen kann es also wie bei einem Gezeitenstrom langsam
auf und ab gehen oder es stürmt und wird wie eine Welle angehoben oder
ein anderes Mal flacht es einfach ab.«Ebd. Einmal von dem rigiden Register
des menschlichen Subjekts gelöst, weiten sich die Dynamiken des Affekts
in Zeit und Raum und reisen – so ließe sich erneut mit Deleuze und Guat-
tari sagen – auf der unendlichen Weite der Immanenzebene. Doch Lösen
bedeutet nicht Kappen jeglicher Beziehungen. Denn auch wenn der Affekt
nicht vom Subjekt ausgeht, so bringt er dieses mit hervor. Durch Affizierung
entsteht eine Subjektivität, die fühlt und Emotionen besitzt. Massumi nennt
dies – Affekt und Emotion – zwei Seiten einer Medaille.Ebd., 28.

Zurück zur Erde: Was ist mit diesem schreienden Körper?
Auch er ist voller Affekte, auch er affiziert und wird affi-
ziert. Auch er bündelt Affizierungspotentiale – jedoch nicht im Register
des Individuums, sondern auf der Ebene des Planetarischen. Hier wer-
den Affekte planetarisch territorialisiert. Als verändernder und sich
verändernder Körper ist die Erde einerseits affizierend und wird affi-
ziert, andererseits bildet sie damit auch das Affektmilieu für die unzähli-
gen auf ihr und mit ihr lebenden Körper. Ihre Territorialisierungen sind
Weisen, Affekte zirkulieren zu lassen. Sie bestimmen die Dynamik der
Wellen. Sie sind Stratifizierungen, die Affekte zwar binden, diese jedoch
nicht determinieren. Die Erde macht den Affekt zum anthropozänen Affekt.
Obwohl dieser weder vom menschlichen Subjekt ausgeht noch auf dieses
zu reduzieren ist, affiziert er den Menschen gerade in seiner geologischen
Dimension. Anthropozäne Affekte sind somit weder menschlich noch sind
sie außerhalb des Menschen. Sie sind planetarisch in jenem Sinne, wie auch
der Mensch planetarisch geworden ist. Mit Jennifer Gabrys ließe sich diesals ein »being planetary as praxis« im Modus des Affektiven bezeichnen.Jennifer Gabrys, »Becoming Planetary«. e-flux Journal, https://www.e-flux.com/architecture/accumulation/217051/becoming-planetary/ (26.12.2020).
Eine mehr als menschliche und mehr als natürliche Form der Affizierung.
Dort, wo Körper affizieren und affiziert werden,
dort wo Affekte zirkulieren, ist eine Politik des Affekts nicht weit entfernt.
Für Massumi ist es die nationale Bedrohung, wie sie bspw. nach dem
11. September zu erleben war, die den Staat zu einem Affektmilieu gemacht
hat. Sie hat die Bevölkerung auf eine Weise affiziert, dass jedes Ereignis –
sei es ein Terroranschlag, sei es ein Hurrikan – als nationale Bedrohung
empfunden wurde.Vgl. Brian Massumi, »National Enterprise Emergency: Steps Toward an Ecology of Powers«, in: Theory, Culture & Society 26/6 (2009),153–185. Doch auch die Klimakatastrophe bildet ihre eigene
Affektpolitik. Als Affektmilieu dient die Erde als immer präsenter Bezugs-
punkt. Akteur*innen der Klimaschutzbewegung versuchen, Affizierungen
der Erde so aufzunehmen, dass diese Handlungsweisen auf eine Weise ver-
ändern, die geeignet ist, den klimatischen Kollaps und die drohende ›Great
Extinction‹, auf die wir gerade zusteuern, abzuwenden. Doch die domi-
nante Affektpolitik des Anthropozäns ist eine andere: Zwar nimmt auch sie
die Affizierungen der Erde auf und die planetarischen Territorialisierungen
wahr. Sie schafft jedoch ein Affektmilieu, das auf eine Weise organisiert ist,
dass keine Resonanzräume zum Handeln entstehen. Katastrophische Affi-
zierungen werden durch Hitzewellen und Waldbrände sowie in langsame-
ren Registern durch schmelzendes Eis und steigende Meeresspiegel zum
Dauerzustand, doch hat diese Politik eine Weise der Subjektivität hervor-
gebracht, die jegliche planetare Affizierungen ins Leere laufen lässt. Sub-
jektivität wird hier zum Affektschwamm. Affizierungen erreichen niemals
jene Schwelle – um noch einmal einen Begriff Massumis aufzugreifen –,
an der sie erneut in affizierende Handlungen umschlagen würden. Indem
die Schwelle so reguliert wird, dass ein Überschreiten unwahrscheinlich
wird, werden die Affizierungen der Erde zwar nicht gestoppt (wie auch?),
sie werden sogar in Diskursen aufgegriffen, jedoch führen sie zu keinen
Handlungen.Zu diskutieren wäre, inwiefern das Konzept der Schwelle hier durch jenes des Filters ergänzt werden müsste. Denn während die Affizierungen der Erde unterhalb der Schwelle bleiben, erzeugen andere Affizierungen (bspw. jene von Massumi beschriebenen Affizierungen des Staates) sehr wohl Handlungen. Ein generelles Konzept von Passivität würde hier zu kurz greifen.
Es ist eine Politik der relativen Territorialisierung,
in der es einerseits einen affektiven Bezug zur Erde gibt, andererseits
dieser nicht zu einer radikalen Territorialisierung und den damit
verbundenen Handlungen zur produktiven Erhaltung des Territoriums kommt.Relative Territorialisierung geht selbstverständlich eng zusammen mit der relativen Deterritorialisierung, die von Deleuze und Guattari als Paranoia beschrieben wurde. Vgl. Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, 156f.
Es ist eine Politik, in der – wie Guattari bereits Anfang der Neunzigerjahre
des 20. Jahrhunderts feststellte – die Menschheit den Kampf verliert, denn, »[i]hr Kopf arbeitet nicht mehr länger mit ihrem Körper zusammen.«Félix Guattari, »Für eine Neubegründung sozialer Praktiken«, in: Tobias Bärtsch u.a. (Hg.), Ökologien der Sorge, Wien: Transversal 2017, 209–222, hier 210.

Was also sind die Aufgaben einer Affektpolitik des
Anthropozäns? Es ist eine Politik, die von den affektiven Dimensionen des
Planeten genauso ausgeht wie von den planetaren Dimensionen des Men-
schen. In ihr bildet die Erde Körper und Milieu der Affekte. Und genau darin
liegt die Chance ihrer Politik: Denn es ist eine Frage des Körpers und des
Milieus, Konditionen und Subjektivitäten zu schaffen, die sich von anthro-
pozänen Affekten affizieren lassen und daraus neue Affekte und Handlun-
gen generieren. Milieus, die, statt zu absorbieren, produzieren. Für Isabelle
Stengers ist es die Aufgabe der Philosophin, Milieus zu kreieren, in denen
neue Begriffe und Konzepte so aufgenommen werden können, dass sie zu
neuen Weisen des Denkens, Handelns und Lebens führen. Im Anschluss
an Deleuze und Guattari nennt sie die für diese Politik notwendigen Tech-
niken eine »Pädagogik der Begriffe«: »Ich denke, wir haben einen vita-
len Bedarf, ausdrücklicher darüber zu werden, warum die Pädagogik der
Begriffe wichtig ist und Philosophen in die Lage versetzt, der Gegenwart
zu widerstehen.«Isabelle Stengers, Spekulativer Konstruktivismus, Berlin: Merve 2008, 75. Doch ließe sich nicht gerade im Anschluss an Deleuze
und Guattari diese Forderung auch auf die Ebene der Affekte und Perzepte
erweitern? Bedarf es nicht ebenso eine Pädagogik des Affektiven? Diese
Pädagogik wäre eine Weise, planetarisch-affektive Milieus zu schaffen, in
denen die Handlungsschwellen der Körper nicht losgelöst von ihrer Umwelt
betrachtet, sondern selbst als planetar begriffen werden. Es wäre eine
produktive Pädagogik statt einer Umerziehung durch negative Affektpoli-
tik. Die Pädagogik des Affekts ist dann die Modulation der Erfahrungs- und
Handlungsschwellen, in der sich beides – Erfahrung wie Handlung – nicht
mehr um das Ich und den Menschen dreht, sondern das Ich als Teil geolo-
gischer Strata verstanden wird.
Dort, wo Effekte von Handlungen erfahrbar
werden und erneute Handlungen affizieren, werden Affektpolitik und ihre
Techniken produktiv. Aus der Perspektive einer milieu-orientierten Politik,
sind Handlungsschwellen Stratifizierungen planetarer Lebensbedingungen
und als solche ein zentraler Teil dessen, wie Individuen affiziert werden und
auf welche Weise sie wiederum die Erde affizieren. Handlungsschwellen
sind Teil der Sedimentierung von Subjektivitäten. In diesem Sinne ließe sich
eine Geologie der Affekte und eine affektive Geologie als planetare Politik
verstehen: Eine anthropozäne Affektpolitik, die das Handeln als affiziert-
affizierend und damit in seiner planetaren Dimension ins Zentrum ihrer
Aufmerksamkeit rückt.