Utrecht, Niederlande, Oktober 2020
Dearest, lieve schat,
in den vergangenen Monaten haben wir sehr
viel an Dich gedacht. Daran, wie Du Dich wohl an uns erinnern wirst,
was Dir wichtig erscheinen wird, wenn Du auf unsere Zeit zurück-
blickst. Wir schreiben dies hier im Oktober 2020, auf dem Weg in
einen ungewissen Winter. Nach einem viel zu trockenen Sommer
und Herbst regnet es endlich, auch wenn die Wälder in Kalifornien
nach wie vor und schon seit Wochen brennen. Man sieht die Rauch-
schwaden auf den Satellitenbildern in den TV-Nachrichten sehr gut,
sie ziehen ebenso nach Westen wie der Rauch der Flächenrodun-
gen im Amazonasregenwald oder die Schwaden der australischen
Buschbrände Ende 2019. Die Erddrehung schleift den Rauch mit sich,
es ist eigentlich faszinierend, wenn es nicht so beunruhigend wäre.
Wir wissen darum. Aber wir wissen nicht, ob Du diese Bilder ken-
nen wirst, oder ob sie vergessen sein werden. Wir haben uns in den
vergangenen Monaten oft vorzustellen versucht, wie Du auf all das,
was noch vor uns liegt in diesem Winter und in den kommenden
Jahren, zurückblicken wirst. Im Jahr 2070, wenn Du so alt bist wie
wir heute. In einem Jahr, das für uns 20 Jahre weiter in der Zukunft
liegt als das Jahr 2050, auf welches wir heute den sogenannten point
of no return projizieren. Der special report des IPCC aus dem Jahr
2018 zeigt, dass bis dahin die carbon emissions auf null zurückge-
fahren sein müssen, um die Erderwärmung auf 1,5°C, im Vergleich
zum vorindustriellen Zeitalter, zu begrenzen.IPCC, »Special Report on the Impacts of Global Warming«, https://www.ipcc.ch/sr15/ (3.10. 2020). Sonst verändert sich
das Klima nachhaltig und dramatisch. Dieser Brief erreicht Dich in
einer Zukunft, die wir uns also kaum ausmalen können. Wir wissen
nicht einmal, wie es dann, 2070, um die Niederlande bestellt sein
wird, wenn die Pole schmelzen. Und Du wirst Dich umgekehrt nicht
auf persönliche Erinnerungen an unsere Gegenwart stützen können,
dazu bist Du heute noch zu jung. Aber sicher gibt es eine Erzäh-
lung zu den Zwanzigerjahren, wie sie sich darstellen, in hindsight.
Warum sie auf die 2010erjahre folgten. Was aus ihnen geworden ist.
Wir wollen versuchen, Dir etwas an die Hand zu geben, wenn Du
über uns nachdenkst – falls Du es tust. Wie es sich gelebt hat im
Jahr 2020, mit einem Lebensgefühl der Unterbrechung, oder ist es
eher eines des Wartens und der suspension? Der Erwartung, des
Aufschubs? Die Erfahrung der Zeit ist in jedem Fall kompliziert, die
Geschwindigkeiten des Lebens aus den Fugen geraten. Time is out of
joint. Und vielleicht hilft uns das Notieren unserer Gegenwart auch
dazu, etwas klarer zu sehen.
Das Virus, das Anfang des Jahres plötzlich
auftauchte (plötzlich ist natürlich relativ, wenn man die Vorläufer
von SARS-CoV-2 bedenkt) und mit dem die Welt nun seit einem hal-
ben Jahr gefangen sitzt, wird zurzeit gern als Zäsur beschrieben. In
der Dichtung ist die Zäsur eigentlich eine Atempause. Sie ist eine
körperliche Unterbrechung des Versmaßes. Diesem Moment der
Unterbrechung, des Atemholens zumeist in der Mitte der Zeile, ist
aber damit nicht nur die Annahme eines Maßes implizit, sondern
auch die seiner Fortsetzung. Wenn aber gegenwärtig von Covid-
19 als einer Zäsur gesprochen wird, dann eher in dem Sinne, dass
das Virus ein Einschnitt ist, nach dem das Leben anders sein wird
als zuvor. SARS-CoV-2 macht das Atemholen ja auch buchstäblich
schwer. Es besteht eher die Vermutung oder Sorge, dass eine Rück-
kehr zum Maß, zum status quo ante, nicht möglich sein wird ›nach
Corona‹; aber das finden wir auch gar nicht wirklich erstrebenswert.
Denn wenn wir allein an die Rauchschwaden denken, von deren Bil-
dern wir oben sprachen, dann war der Stand der Dinge im Januar
2020 keiner, der sich für den Planeten lohnen würde, ›nach Corona‹
fortzusetzen. »Nothing could be worse than a return to normality«,
schreibt Arundhati Roy im April 2020.Arundhati Roy, »The Pandemic is a Portal«, in: Financial Times, 3.4.2020, https://www.ft.com/content/10d8f5e8-74eb-11ea-95fe-fcd274e920ca(3.10.2020).
Im Jahr 2070 wird sich besser absehen las-
sen, ob diese Unterbrechung ein Einschnitt, ein Umbruch oder bloß
eine schmerzhafte und nutzlose Atempause gewesen sein wird. Du
kannst das besser einschätzen als wir heute. Was wir aber in jedem
Fall gleich wussten, war, dass das Virus und seine Effekte für uns
unerwartet schnell kamen und sich dann seit Anfang des Jahres läh-
mend über das Leben legten. Das plötzliche Warten und die unge-
kannte Einschränkung der Bewegungsfreiheit haben wir ganz direkt
als eine jähe Unterbrechung empfunden. Als abrupte Bremse nach
Jahren der Beschleunigung. Nie war in der überentwickelten Welt so
viel geflogen worden wie in der letzten Dekade, und plötzlich stand
alles still, und tut es noch ein halbes Jahr später und noch immer
auf unabsehbare Zeit. Ein plötzlicher Sprung in den Stillstand, über
einen Bruchteil dessen wir uns seit Jahren gefreut hätten, nach all
der Ungeduld, dass sich schnell etwas ändern muss an den global
habits of consumption and mobility, wenn die Erderwärmung einge-
dämmt werden soll. Aber trotz aller Ungeduld hatten auch wir Ende
März 2020 eine unser vielen Konferenzreisen antreten wollen, CO2-
Emissionen billigend in Kauf nehmend. Wir fragen uns übrigens
auch, wie Dir das im Rückblick erscheinen wird: diese Diskrepanz
in den 2010er Jahren zwischen unserem ganz eindeutigen Wissen
um die Folgen und der Unentschlossenheit, dieses Wissen als hand-
lungsweisend zu nutzen. Trotz der brennenden Wälder sind wir viel,
und letztlich gern, geflogen. Es ist uns eigentlich selbst ein Rätsel.
Es sollte also im März diesen Jahres zu zwei workshops nach Indien
gehen, an denen unser ganzes research network teilgenommen
hätte. Aus Europa, den USA und Australien wären wir angereist, um
Kolleg*innen erst in Kolkata, dann in Vadodara im Staat Gujarat zu
treffen. Aber die Niederlande gingen Anfang März 2020 in den soge-
nannten ›Lockdown‹, Indien zwei Wochen später. Bevor wir uns recht
entscheiden konnten, ob wir die Reise trotz der allseits unsicheren
Lage antreten sollten, entzog uns das Indische Konsulat das Visum
und die Fluglinie strich die Flüge. We were literally grounded und
der Planet bekam eine kleine, wenn auch nicht überzubewertende
Atempause. Jede Illusion der individuellen Entscheidungsgewalt war
dahin, aber dafür war dann das Wetter im April und Mai und Juni
in den Niederlanden auch ungekannt sonnig – wie erwiesen, durch
weniger Feinstaub in der Luft.Pieternel Levelt, Henk Eskes, Pepijn Veefkind und Maurits Kooreman, »Afname luchtvervuiling tijdens coronacrisis«, https://www.knmi.nl/kennis-en-datacentrum/achtergrond/afname-luchtvervuiling-tijdens-coronacrisis (3.10.2020). Am 3. April 2020, zehn Tage nach-
dem Modi, der Ministerpräsident Indiens, auch für ganz Indien einen
shutdown verhängt hat und Millionen Wanderarbeiter*innen nur in
der Rückkehr in ihre Heimatprovinzen eine Möglichkeit sahen, zu
überleben, schrieb Roy in der Financial Times:
Whatever it is, coronavirus [...] brought the world to a
halt like nothing else could. Our minds are still racing
back and forth, longing for a return to ›normality‹,
trying to stitch our future to our past and refusing to
acknowledge the rupture. But the rupture exists.Roy, »The Pandemic is a Portal«.
›Corona‹ brachte manchen den Stillstand und
anderen den Zwang zur Bewegung, verursachte erst unerwartete
Geschwindigkeit und Anpassung, dann zähe Langsamkeit und Ver-
harren. Oder den Zwang zur Langsamkeit als Anpassung? Es waren
erst Wochen, in denen Freunde die Dinge plötzlich extrem unter-
schiedlich empfanden und einschätzten; dann Monate, in denen
sich die krassen Missstände der vergangenen Jahrzehnte, die Folgen
der Liberalisierung der Märkte und der Ökonomisierung der Gesell-
schaft, schärfer auftaten denn je. Also war Covid-19 ein accelerator
und kein game changer? Und auch wenn Roy schreibt: »[P]andemics
have forced humans to break with the past and imagine their world
anew. This one is no different. It is a portal, a gateway between
one world and the next« – so ist sie sich doch sicher, dass wenn
aus der rupture eine Covid-crisis wird, »it will be dealt with, with
all the prevailing prejudices of religion, caste and class completely
in place.«Ebd. So more of the same, along racialized and class lines?
Wird das enorme Momentum etwa von #BLMDer Hashtag #BLM steht für Black Lives Matter, eine Widerstandsbewegung gegen strukturellen Rassismus und Anti-Blackness, die sich 2013 gründete, »in the response to the acquittal of Trayvon Martin’s murderer«, https://blacklivesmatter.com/about/ (7.2.2021). und dessen globale
Echos nichts bewirkt haben? Wir würden so gern von Dir hören, mit
einer Einschätzung aus 2070. #BLM wird in den USA auch mit getra-
gen durch die überdimensionale Wucht, mit der sich Covid-19, seine
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kosten, auf black communities
auswirken. Ein accelerator der Sichtbarmachung von anti-black
violence und dann vielleicht doch ein game changer? Unsere Freunde
aus den USA texteten uns vor einer Woche auf WhatsAppWhatsApp ist ein von Facebook kontrollierter messenger service auf dem Smartphone, was Dir sicherlich alles vollkommen antiquiert erscheint, Dir aber zeigt, dass auch wir uns schon in Jetztzeit mit unseren Freuden in Indien, Australien und den USA austauschten; mit ihnen das Warten auf den Impfstoff teilen und uns von räumlichem Rückzug wenig erhoffen durften. (es ist
kurz vor den Präsidentschaftswahlen):
[T]he situations here just grow more and more intense.
We feel we are already entering into fascism and the
damages to democracy – as well as so many people’s
lives – will accelerate further. We only hope the election
does not plummet us into widespread vigilante violence.
(Guns are sold out all over.) Whew. And then the virus.
It’s all too too much. Yes, let’s survive each day. Today
it is gorgeous and sunny here.Private SMS.
Du siehst: Wir alle wissen, dass wir nicht viel
wissen. Außer, dass die Zukunft unsicher ist. Dieses Gefühl eines
ungewissen Morgens und die Mühe, die es jeden Tag kostet – das
Gefühl ist recht bestimmend in diesem Jahr, Deinem ersten auf die-
sem Planeten. Und wir wissen, dass dem Virus nur schwer räumlich
zu entkommen ist, wie es Boccaccio im Decamerone sich noch vor-
stellen kann.Vgl. http://triakontameron.de/das-t... (9.2.2021) Dass es Tag für Tag zu (über-)leben gilt und dabei
Privilegien und Leid krass unterschiedlich verteilt sind. Und dass es
scheint, als geschehe gerade too too much.
Das gerade too too much passiert, bedeutet
aber auch, dass die Annahmen der Linearität oder des Monokausa-
len, die einer Unterbrechung oft unterliegen, nicht mehr recht grei-
fen. Hier passiert zu viel gleichzeitig. Möglicherweise ein clusterfuck,
möglicherweise eine Verschiebung. Aber was, fragen wir uns, wenn
wir dies gegenwärtig nicht als Unterbrechung, sondern als Brechung
verstehen – nicht im klassischen physischen Sinn der Lichtbrechung,
sondern im quantenphysischen Sinn als Diffraktion? Als die Mög-
lichkeit zur Diffraktion? Vielleicht wirst Du ja Quantenphysikerin,
wer weiß. Dann verstehst Du superposition und Diffraktion als
Entstehung neuer Muster viel besser als wir – und vermutlich ist 2070
ohnehin viel schlauer als 2020, was diese Phänomene betrifft. Aber
wir haben in den letzten Jahren viel mit diesem Denkbild gearbei-
tet (feministische Science and Technology Studies, besonders Donna
Haraway und Karen Barad in Nachfolge von Nils Bohr haben es in
den humanities zugänglich gemacht).Vgl. Donna Haraway, »The Promises of Monsters: A Regenerative Politics for Inappropriate/d Others«, in: Lawrence Grossberg, Cary Nelson und Paula Treichler (Hg.), Cultural Studies, New York, London: Routledge 1992, 295–337; Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, London: Duke University Press 2007. Denn die Diffraktion bietet
konzeptuell eine neue Möglichkeit, mit Multiplizität und Komplexi-
tät, mit differences im Plural, umzugehen; statt auf die Teilung, Beu-
gung oder Ablenkung des Gegebenen zu achten oder auf die dialekti-
sche Aufhebung zweier Gegensätze zu bauen, ermöglicht Diffraktion
es, differences als in ihrer Intra-Aktion entstehend zu begreifen. Statt
von relativ statischen Situationen auszugehen, die (wie von außen)
unterbrochen werden – etwa die Annahme, das Virus käme ›aus
China‹ – entstehen neue Muster durch die Verschränkung von Din-
gen, die davor noch nicht in der gleichen Weise bestanden. #BLM hat
mit und durch Covid-19 Fahrt aufgenommen, SARS-CoV-2 ist auch
der Vernichtung von Habitat geschuldet, Covid-19 auch Effekt des
vernetzen, globalen Kapitalismus; ein entanglement, welches auch
andere Kontexte affiziert.Cf. Kathrin Thiele, »Entanglement«, in: Mercedes Bunz/Birgit M. Kaiser/Kathrin Thiele (Hg.), Symptoms of the Planetary Condition, Lüneburg: meson press 2017, 43–48; https://meson.press/books/symptoms-of-the-planetary-condition/ (23.12.2020). So bricht #BLM-cum-Covid-19 gerade
ebenso die jahrelange Verleugnung von strukturellem Rassismus in
den Niederlanden auf (oder wird das morgen schon wieder verdrängt
sein?). Und so macht 2020 die Koppelung zwischen white supremacy,
dem autokratischen Glauben an masculine exceptionalism und der
kapitalistischen Vernichtung der Natur über-sichtbar (bewegt diese
Sichtbarkeit etwas, oder wird sich diese Koppelung im Januar 2021
mit four more years of Trump verfestigen?). Wir wünschten, wir
könnten Dich anrufen.
Aber wenn wir dieses 2020, was natürlich kein
Plötzliches, sondern ein Gewordenes ist, aus mindestens den letzten
fünf Jahrhunderten und direkt fühlbar den letzten 30 Jahren ... –
wenn wir es also als mögliche Diffraktion begreifen, dann weil es
sich nicht monokausal und linear verhält. Ebenso wenig wie das
Virus oder das Klima. Komplexität und systemische Verschiebung
stellen im Anthropozän Herausforderungen an westliches Denken,
nicht zuletzt die Herausforderung, zu begreifen, dass wir (human
animals) nicht außerhalb dieser systemischen Komplexitäten stehen,
sondern Teil von ihnen sind. Radikal. Eigentlich ist das auch im Wes-
ten klar, seit die Wälder brennen und die Pole schmelzen. Nur sind
noch immer Denkmuster hegemonial, die auf Wachstum, Fortschritt
und human exceptionalism setzen. Du wirst das hoffentlich alles
sehr veraltet finden. Aber heute haben wir uns selbst als Effekte
unserer Intra-Aktion mit den Gegebenheiten nicht wirklich im Blick.
Dabei würde sich die gegenwärtige Intensivierung der Dinge – dieses
2020, dieses all too too much und aus der Zeit Gefallene – so sehr
anbieten, diese Verschränkung (gerade auch affektiv) zu begreifen,
um dann mit ways of doing and living zu experimentieren, die der
Fortsetzung des status quo ante ›nach Corona‹ widerstehen. Denn
diffract we will, es ist nur die Frage, welches Muster entstehen wird.
Wenn wir von Experiment sprechen, dann
nicht im methodischen Sinne der wissenschaftlichen Falsifizierbar-
keit – die gute alte Tante des kritischen Rationalismus – sondern
im Sinne des Einübens anderer Schrittfolgen, neuer Praktiken des
täglichen (Über-)Lebens. Wir glauben dabei weniger an »a chance
to rethink the doomsday machine we have built for ourselves«Roy, »The Pandemic is a Portal« [Hervorhebung B.M.K./K.T.], wie
Roy es tut. Reflexion und Verstand haben uns nicht daran gehin-
dert, den Planeten, unsere Lebensgrundlagen, kollektiv zu ruinie-
ren.Wie universal dieses ›wir‹/›uns‹ ist, steht natürlich vollkommen in Frage. Um dieser differenzierter nachzugehen sind weitere Briefe notwendig. Nicht einmal Verträge; die werden leicht gebrochen, wie die
first nations in den Amerikas und die tribals in Indien schon immer
wissen. Und die Vertragslogik bleibt, wie Fred Moten zeigt, ohnehin
den weißen Regeln des Anstandes und der Mündigkeit verpflichtet.Fred Moten, »Erotics of Fugitivity«, in: F.M., Stolen Life, Durham, London: Duke University Press 2018, 241–267.
Also statt Besinnung und Vertraglichkeit eher Experiment, als collec-
tive and affective tu(r)ning. In Wayward Lives, Beautiful Experiments
schreibt Saidiya Hartman über eine solche körperlich gelebte, rela-
tional entworfene und die Regeln neu ver-
handelnde Brechung des Gegebenen, die sie
waywardness nennt.Saidiya Hartman, Wayward Lives, Beautiful Experiments Intimate Histories of Riotour Black Girls, Troublesome Women and Queer Radicals, New York, London: Serpent's Tail 2021. Wir lesen das Buch
gerade mit Bewunderung. Hartman geht es
ganz konkret um »riotous black girls, trou-
blesome women and queer radicals« (so der
Untertitel der englischen Ausgabe), die sich
Ende des 19. Jahrhunderts in Harlem und
Philadelphia Margen des Überlebens und des
Glücks erstritten, angesichts der Diskrimi-
nierung und rassistischen Projektionen von
Polizei, Behörden und Gesellschaft. Jederzeit
von policing und surveillance bedroht, generierten sie eine
nicht vorgesehene Ästhetik, vielfältige Praktikten des (Über-)Lebens.
Was lernen wir von ihnen, ohne ihre Kämpfe zu appropriieren?
Dass Experimente in diesem gelebten, kollektiven Sinn notwendig scheinen,
um auch im Jahr 2020 etwas für unsere nahe Zukunft abzuringen; im
Bestreben, dass in Deiner Gegenwart in 2070 social evironmental justice
keine leeren Phrasen mehr sind.
TRANSSITUATIVE GERECHTIGKEIT
So sehr das Konzept der Gerechtigkeit (justice) in seinen sozialen (social)
und umweltlichen (environmental) Ausprägungen bis jetzt durch allge-
meine und geteilte, vor allem aber bestehende und beständige Normen
und Werte bestimmt wurde, so notwendig ist es heute wie im Jahr 2070,
für eine Gerechtigkeit zu kämpfen, von der wir noch nicht wissen, wie sie
aussehen wird. Es ist eine zukünftige Gerechtigkeit, die jedoch keineswegs
in der Zukunft verbleibt, sondern vielmehr die Gegenwart mittels Zukunft
verändert. Denn, so ließen sich Stefano Harneys und Fred Motens Ausfüh-
rungen in The Undercommons paraphrasieren: Eine kommende Gerechtig-
keit (to come), ist eine Gerechtigkeit, die niemals ankommen wird (never to
come).In Bezug auf das Konzept einer »democracy to come«, schreiben Harney und Moten: »The false image and its critique threaten the common with democracy, which is only ever to come, so that one day, which is only never to come, we will be more than what we are.« Stefano Harney und Fred Moten, The Undercommons: Fugitive Planning & Black Study, Wivenhoe: Minor Compositions 2013, 19. Eine Gerechtigkeit, auch wenn sie zukünftig ist, muss in der Gegen-
wart agieren, sie muss die Gegenwart aus der Zukunft heraus und in die
Zukunft hinein modulieren. Dies ist eine Gerechtigkeit der Praxis bzw. eine
Praxis der Gerechtigkeit.
Diese Gerechtigkeit als Praxis ist auch jene, die
Saidiya Hartman in ihrem Buch Wayward Lives, Beautiful Experiments
beschreibt, wenn sie die Lebensweisen von Esther Brown, Eva Perkins,
Harriet Powell und anderen Frauen* ausführt:
Esther Brown did not write a political tract on the refusal to
be governed, or draft a plan for mutual aid or outline a memoir
of her sexual adventures. A manifesto of the wayward – Own
Nothing, Refuse the Given. Live on What You Need and No
More. Get Ready to Be Free – was not found among the items
in her case file. [...] [B]ut she well understood that the desire
to move as she wanted was nothing short of treason. She
knew first-hand that the offense most punished by the state
was trying to live free.
To wander through the streets of Harlem, to want better that
what she had, and to be propelled by her whims and desires
was to be ungovernable. Her way of living was nothing short of
anarchy.Hartman, Wayward Lives, Beautiful Experiments, 229f.
Ohne die Möglichkeit, sich auf den Staat und andere
Institutionen zu verlassen, praktizieren Hartmans »riotous girls, troublesome
women, and queer radicals« eine anarchische Politik als Praxis. Anarchie ist
dabei keineswegs mit Chaos zu verwechseln. Vielmehr geht es darum, For-
men der Selbstorganisation zu erproben, die den Kontakt mit staatlichen Ins-
titutionen und ihrer alltäglichen rassistischen Gewalt minimieren.
Ihr alltäglicher Kampf hallt auch heute noch wider,
wenn in Minneapolis und anderswo der Ruf nach Abschaffung der Polizei in
ihrer jetzigen Form laut wird. Die Tötungen von George Floyd, Breanna Taylor
und anderer Schwarzer Menschen in den USA durch rassistische Polizei-
gewalt machen es einmal mehr notwendig, Formen der Politik und der sozi-
alen Gerechtigkeit zu schaffen, die sich nicht auf gegebene Institutionen
stützen, sondern vielmehr im Sinne einer »radical imagination«, wie sie von
Hartman und anderen formuliert wird, soziale Gerechtigkeit als Praxis ver-
stehen. Diese Praxis ist nicht auf Gerechtigkeit als ein entferntes zukünf-
tiges Ziel gerichtet (kommende Gerechtigkeit), sondern begreift diese
vielmehr als Teil gegenwärtigen Handelns selbst. Der Blick in die Praxis
zeigt, dass andere Formen der justice nicht nur möglich sind, sondern
bereits existieren. Schwarze trans-women*-of-color, Sexarbeiter*innen und
Abolitionist*innen etablieren dabei Formen politischen Handelns, in denen
Gerechtigkeit nicht etwas ist, das es in der Zukunft zu erreichen gilt, sondern
was ganz im Sinne der abolitionistischen Bewegungen auf eine Veränderung
der gesamten Gesellschaft im Hier und Jetzt durch andere Praktiken mit
anderen Zukünften zielt. Die Abolitionist*in und Filmemacherin Tourmaline
beschreibt dies als »freedom dreaming«:Zum Konzept der »Freedom Dreams« als politische Praxis und Black Radical Imagination siehe Robin D. G. Kelley, Freedom Dreams: The Black Radical Imagination, Boston: Beacon Press 2002. »Freedom dreams are born
when we face harsh conditions not with despair,
but with the deep know-
ledge that these conditions will change.«»Filmmaker and Activist Tourmaline on How to Freedom Dream«, in: Vogue, 3.7.2020, https://www.vogue.com/article/filmmaker-and-activist-tourmaline-on-how-to-freedom-dream (23.12.2020). Diese abolitionistischen Verän-
derungen sind mehr als die abstrakten Zukunftsvisionen einer Gesellschaft
ohne Polizei, Gefängnisse und Psychiatrien, sie sind in den Worten von Dean
Spade ein alltäglicher Abolitionismus: »Abolition as a set of principles to
guide us to what will produce the least harm.«Reina Gossett und Dean Spade, »Practicing Prison Abolition Everyday (Part 2)«, (23.12.2020); vgl. dazu auch Vanessa Thompson und Jeanette Ehrmann: »Abolitionistische Demokratie: Intersektionale Konzepte und Praktiken der Strafkritik«, in: Rehzi Malzahn (Hg.), Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2018, 161–181.Das Abschaffen staat-
licher Institutionen ist dabei ein Überflüssig-Machen ihrer Praktiken. Und so
sind Tourmalines freedom dreams alltägliche Handlungen, die jede für sich
dazu beitragen, Schwarzes Transleben lebbarer zu machen:
»to be easy, to be pleasurable, and to be filled with lush
opportunities.«»Tourmaline on How to Freedom Dream« Für Tourmaline
umfassen sie den Gang durch die Straßen, das Haarefärben, das Schrei-
ben eines Briefes an eine(n) gefangene(n) Freund*in wie auch die Sorge um
Bekannte:
When I care for sick friends, and let sick friends care for me,
I’m freedom dreaming. I am remembering that we
do not have to be afraid of each other, and that contagion has
historically been weaponized against us, used to stoke fear
amongst and alienate trans people, queer people,
sex workers, and disabled people from our loved ones.Ebd.
Die von Tourmaline beschriebene Sorge ist eine
Gerechtigkeit in Praxis, die nicht auf staatlichen Organisationen basiert
und gerade dadurch auch jenen als Technik zur Verfügung steht, die diese
Institutionen aufgrund ihres strukturellen Rassismus, ihres Sexismus, ihrer
Homophobie und ihrer Transfeindlichkeit nicht in Anspruch nehmen können
und wollen.
Und so ist es wohl auch kein Zufall, dass
die gegenseitige Sorge in den zahlreichen Praktiken von Community
Accountability (CA) oder Transformative Justice (TJ) im Zentrum steht,
beides Praktiken, die seit Jahrzehnten andere Formen der Gerechtig-
keit fördern und etablieren. Ihre Arbeit ist Abolitionismus und Gerechtig-
keit in action. Wenn Organisationen wie das Safe OUTside the
System (SOS) Collective des Audre Lorde Project in Brooklyn ein Netzwerk
sicherer Räume schafft, indem Geschäfte, Cafés etc. Trans*frauen helfen, die
bedroht werden, aber nicht die Polizei rufen können, oder wenn das Black
Youth Project 100 ein Healing and Safety Council (HSC) gründet, um seinen
Mitgliedern Hilfe und Training für Transformative Justice-Prozesse zu bieten,
dann sind dies Formen, soziale Gerechtigkeit zu organisieren, die auf Techni-
ken der Sorge basieren, ohne den oftmals gewaltvollen Kontext zu negieren,
in denen diese Sorgetätigkeit situiert ist.
The HSC explains that healing-centered organizing
requires habitual self-care and collective-care. It also
upholds the right of people to self-determining bodies,
which, historically, Black people have not had – from
access to restrooms and space to support for gender-
nonconforming bodies if / when they get arrested in
acts of civil disobedience.Ejeris Dixon und Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha, Beyond Survival: Strategies and Stories from the Transformative Justice Movement, Chico: AK Press 2020, 77.
Sorge ist hier keineswegs das Pflegen des
Bestehenden und die Wiederherstellung des status quo. Sorge in ihrem
politischen Sinne, wie sie von den genannten Projekten formuliert wird, ist
verändernd und mehr als nur individuell. Sorge ist eine kollektive Praxis, die
radikal situiert ist – sprich: von den Anforderungen und Bedürfnissen der
Situation ausgeht – und eine, die zugleich über die singuläre Situation hin-
auswirkt. Sorge etabliert Techniken, die trans-situational operieren, da sie
in andere Situationen (gegenwärtig wie zukünftig) hineinwirken und diese
verändern. Es sind »emergent strategies« wie die social justice-Aktivistin,
Autorin und Doula adrienne maree brown schreibt, »to practice being in right
relationship to our home and each other, to practice complexity, and grow a
compelling future together through relatively simple interactions. Emergent
strategy is how we intentionally change in ways that grow our capacity to
embody the just and liberated worlds we long for.«adrienne maree brown, Emergent strategy, Chico: AK Press 2017, 24.
Als Gilles Deleuze Anfang der Neunzigerjahre
des 20. Jahrhunderts konstatierte, dass eines der größten Probleme der
damaligen politischen Situation war, dass der Glaube an die Welt abhan-
den gekommen sei, so war auch dies ein Ruf nach mehr Zukunft und mehr
Handeln. Das, was Deleuze den Glauben an die Welt nannte, war keines-
wegs ein Vertrauen in das Bestehende, ein ›Es-wird-sich-schon-alles-rich-
ten‹, es war vielmehr der Glaube an die Welt als eine in Veränderung begrif-
fene. Denn nur, wenn wir unser Handeln als wirksam sehen und die Welt
als einen Prozess, der sich verändern lässt, ist politische Aktion möglich
und verfällt nicht in Resignation oder Zynismus. Und so, wie Deleuze den
Glauben an die Welt als einen Glauben an die Veränderung und die Zukunft
formuliert, sind auch die vielzähligen Formen sozialer Gerechtigkeit im
Sinne der Sorge von diesem Glauben an die Welt durchzogen. Im Handeln
wird soziale Gerechtigkeit im Hier und Jetzt hergestellt. Sie ist eine gelebte
Philosophie, oder wie Brian Massumi schreibt, eine activist philosophy.Brian Massumi, Semblance and Event: Activist Philosophy and the Occurrent Arts, Cambridge: MIT Press 2011.
Durch ihre Zukünftigkeit verfällt diese jedoch nicht in die Reproduktion des
immer Gleichen, sondern verbindet durch ihre transsituativen Techniken
singuläre Ereignisse und die ihnen innewohnenden Anforderungen.
Obwohl die Anforderungen jeder Situation unter-
schiedlich sind, und auch die Weisen, in denen soziale Gerechtigkeit bspw.
im Sinne von Community Accountability oder Transformative Justice herge-
stellt werden soll, bedienen sie keineswegs eine relativistische Vorstellung
von Gerechtigkeit. Hier geht es nicht um unterschiedliche Vorstellungen
gerechten Lebens, die unverbunden nebeneinanderher existieren. Sie alle
gehen von der Sorge als Maxime aus. Durch ihre Praxis verbinden sie sich.
Doch Sorge – und hier unterscheiden sich die genannten Praktiken von jenen
Gerechtigkeitsvorstellungen, die auf Allgemeingültigkeit basieren – ist immer
situativ. Was benötigt wird, welche Praktiken helfen und welche die Gewalt
nur verstärken, ist nur situativ zu bestimmen. Dabei wird deutlich, dass Sorge-
techniken keineswegs ausschließlich konfliktfrei sind. Gerade in Situationen,
in denen Gewalt ausgeübt wurde oder wird, kann der transformative Prozess
der Sorge Praktiken des Schutzes und der Abwehr beinhalten.
Und so ist Sorge zwar jenes Element, das alle
genannten Praktiken sozialer Gerechtigkeit verbindet, zugleich ist sie aber
in sich differenziert: Nur als mannigfaltige, differenzierende und selbst auf
Mannigfaltigkeit basierende Praxis können Techniken der Sorge ausgeübt
werden. Adrienne maree brown beschreibt dieses Verhältnis von Singulä-
rem und Generischen in ihrer Arbeit als fraktal:
what we practice at the small scale sets the pattern for
the whole system. [...] This doesn’t mean to get lost in the self,
but rather to see our own lives and work and relationships
as a front line, a first place we can practice justice, liberation,
and alignment with each other and the planet.brown, Emergent strategy, 53.
Oder, systemisch ausgedrückt: »We must create
patterns that cycle upwards. We are microsystems. [...] Our friendships
and relations are systems. Our communities are systems. Let us practice
upwards.«Ebd., 59f.
Hier, in dieser trans-situationalen Praktik der
Sorge artikuliert sich soziale Gerechtigkeit als eine zukunftsbasierte Prak-
tik. So wie an anderer Stelle in diesem Band im Text »Mikroszenarien alltäg-
lichen Handelns« argumentiertVgl. in diesem Band den ersten Teil des Beitrags »Mind Fracking. Punkt. Zukunftsszenarien von akademischen Bohrinseln«., können die Ziele der Sorge, wie jene des
Handelns allgemein und nicht a priori durch die gegenwärtigen Umstände
bestimmt werden. Denn was eine Person oder eine Gruppe in einer Situa-
tion braucht, besitzt insofern immer eine spekulative Dimension, als dass
sich durch die Sorge das gesamte Gefüge verändert. Ein Bedürfnis ist ein
Bedürfnis im Modus des Als-ob: Als ob die Prozesse der Sorge und der
transformative justice schon stattgefunden hätten. Und so muss auch die
Sorge in diesem Modus agieren: Nicht um das Gegebene gilt es zu sorgen,
sondern um das Zukünftige. Dies ist das transformative Potential der Sorge
und die Sorge transformativer Gerechtigkeit.
Während die hier genannten Techniken und
Konzepte aus dem Kampf um soziale Gerechtigkeit kommen, steht die
Frage nach der eingangs genannten environmental justice noch aus.
Dabei zeigt sich schnell, dass beide Kämpfe eng miteinander verbun-
den sind, dass – wie adrienne maree brown schreibt – beides unter-
schiedliche Dimensionen bzw. Skalen einer Bewegung sind. Wie lassen
sich zwischen diesen Kämpfen Allianzen bilden? Was kann der Kampf
gegen die Klimakatastrophe von Aktivisit*innen und Kollektiven wie Tour-
maline, adrienne maree brown, dem Safe OUTside the System (SOS)
Collective aber auch Black Earth, einem BIPoC Environmental & Climate
Justice-Kollektiv lernen? Welche Techniken und welches Wissen können über-
tragen werden, auch wenn die Ziele unterschiedlich skaliert sind?
Eine der zentralen Einsichten, die die Kämpfe für
soziale und umweltliche Gerechtigkeit verbindet, ist, dass bestehende Insti-
tutionen wie die Polizei oder internationale Klimaverträge ihren Schutz immer
nur selektiv gewährleisten und gewährleistet haben. Doch eine simple Auswei-
tung bestehender Strukturen ist hier nicht die Lösung, denn wie Birgit Kaiser
und Kathrin Thiele in Bezug auf Fred Moten schon festgestellt haben: Die
Vertragslogik bleibt ohnehin nur »den weißen Regeln des Anstandes und der
Mündigkeit verpflichtet.«Vgl. den ersten Teil dieses Beitrags, S. 29. So wie Schwarze Transfrauen sich eigene sichere
Räume schaffen müssen, um sich vor Gewalt zu schützen, so ist auch für viele
Menschen kein Schutz durch Klimaabkommen und Verträge geboten. Die
Welt zahlreicher indigener Menschen im Amazonasgebiet, auf den Inseln des
Pazifiks oder im Tschad, wird und ist bereits zerstört, worauf beispielsweise
Klimaaktivistin Hindou Oumarou Ibrahim aufmerksam gemacht hat. Andere
Welten und Lebensweisen werden weder durch staatliche noch durch andere
Institutionen geschützt. Ihre Zukunft wird und wurde immer wieder zerstört.
Hier zeigt sich deutlich, dass es nicht mehr um die Frage geht, was in der
Zukunft auf dem Spiel steht, sondern dass die Zukunft selbst auf dem Spiel
steht – die Zukunft der Welt vieler Menschen.
Wie kann in dieser Situation ein Glaube an die
Welt, an ihre Veränderbarkeit und damit an ihre Zukunft noch möglich sein?
Einmal mehr macht die gegenwärtige Situation deutlich, dass ein Glaube an
die Zukunft weder der Glaube an eine Welt sein kann, noch dass dieser sich
auf bestehende Strukturen, Intuitionen etc. richten kann. Und doch –
so zeigen die zahlreichen Praktiken von Schwarzen, Indigenen, Transfrauen und ande-
ren Aktivist*innen – ist dieser Glaube da. Es ist ein Glaube an eine mannig-
faltige Zukunft, wie sie nur in der gegenwärtigen Praxis zu finden ist. Mit die-
sen Praktiken gilt es sich zu solidarisieren und Allianzen zu gründen. Ihre
Techniken sind transsituativ und sie gilt es aufzunehmen, einzusetzen, und
mit ihnen zu arbeiten. Es sind gerade diese Techniken, die den Kampf für
soziale und umweltliche Gerechtigkeit nicht zu einer Zukunftsvision
verkommen lassen, sondern ihn zu einem Kampf für die Zukunft in der Gegenwart machen.
SUPERHELDENDÄMMERUNG
Nur Stämme werden überleben, schreibt der indianische Aktivist
und Lakota-Gelehrte Vine Deloria jr. und fordert mit seiner kühnen
Medizin eine »Radikalkur des wildgewordenen Westens«So der vom Verlag gewählte Untertitel der 1976 im Münchener Trikont-Verlag erschienenen deutschen Erstübersetzung. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel We Talk – You Listen. New Tribes, New Turf, New York: Macmillan 1970. unter neo-
tribalen Gesichtspunkten, an denen sich auch die Feminist*innen,
Hippies oder Afroamerikaner*innen zu
orientieren hätten.Vine Deloria jr., Nur Stämme werden überleben, Göttingen: Lamuv-Verlag 1996.
Bei Felwine Sarr hingegen: ein »Dunstschleier«Felwine Sarr, Afrotopia, Berlin: Matthes & Seitz 2019, 9., der sich über das
Denken legt. Erkenntnis sei nicht gesichert, sie sei verstellt durch
die Vorurteile und Mythen über die Indigenen des Kontinents. Ein
»Fehlstart«, so SarrEbd.. Afrika wurde zur Projektionsfläche fantas-
tischer Erzählungen über die Bodenschätze, von der Wiege der
Menschheit und vom Konzept des Edlen Wilden. Afrika war ein
»Wunderkontinent«Ebd., 10.. Als Aids grassierte, zeigte dies einen ent-
fesselten Kontinent, in dem alles möglich war, wo die Triebe aus-
gelebt wurden und auch der Tod zuhause war, mit Seuchen, Hunger
und Armut. Die Entwicklung von Afrika musste nun vorangetrieben
werden. Das Wirtschaftswachstum müsse kommen, hieß es, Afrika
werde das »zukünftige Eldorado des Weltkapitalismus« sein.Ebd.
Die fortschrittsgläubige Zuschreibung aber
verachte die afrikanische Andersartigkeit, protestiert Sarr, sei post-
postkoloniale Mission und evolutionistisches Heilsversprechen für
einen Kontinent, der sich zu ändern und sein Potential zu entwickeln
habe, als befände er sich immer noch im Embryonalstadium.Vgl. ebd., 24. »Zu
sein wie«Ebd., 23 (im Original kursiv) sei die arrogante Devise dieser psychologischen Neo-
kolonialiserung durch das westliche Lebensprinzip, während der
Fortschrittsmythos in Wirklichkeit den Grundcharakter der afrika-
nischen Sozietät zerstöre.Ebd.
Sarr und Deloria geben sich die Hand als
Autoren, die beide auf der Schwelle zu einer Utopie schreiben. Sarr
denkt 2016, ein Jahr nach der sogenannten Flüchtlingskrise, über ein
Afrotopia nach und darüber, wie es wäre, das eigene kulturelle und
philosophische Zuhause bewohnen zu können, ohne den normati-
ven kapitalistischen Druck der globalisierten Welt als Entwicklungs-
vorgabe vorzufinden. Im Jahr 1970 schreibt Deloria seine Streitschrift
Nur Stämme werden überleben, ungefähr zu der Zeit, als unsere
Generation geboren wurde. Während wir also Dich eingangs auffor-
derten, uns in fünfzig Jahren von Deinem Blick auf die heutige Zeit zu
erzählen, möchte ich heute selbst fünfzig Jahre zurückblicken und
auf die hinter uns liegende Zukunft schauen, die mir so vergeblich
vorkommt.
Vine Deloria jr. schreibt noch ganz im Ein-
druck von Woodstock und der neuen federgeschmückten Hippie-
Bewegung, die sich an den Lebensformen der Ureinwohner*innen
Amerikas orientierten, ohne jedoch ihr Wesen verstanden zu haben.
Deloria ist ein scharfer Kritiker eines falschen, weil differenzlosen
Gerechtigkeits-, Gleichheits- und Partizipationsbestrebens.
Vor einer Generation wurden weiße Kinder dazu
erzogen, Schwarzen in die Augen zu schauen
und so zu tun, als bemerkten sie die andere Hautfarbe
nicht, zu einem Verhalten also, welches uns heute
vor dem Erfahrungshintergrund der Bürgerrechts-
bewegung als ausgesprochen primitiv und rassistisch
erscheint.Deloria, Nur Stämme werden überleben, 63.
Im Gegensatz zu diesem absichtlichen Über-
sehen der Unterschiede aber müsse sich jede Minderheitengruppe
dafür einsetzen, ihre eigene Einmaligkeit zu erfassen. Besser als
sich zu assimilieren sei es, seine Eigenarten zu erhalten, statt einer
Mangelidentität eine positive Identität zu definieren und sich den
normativen Überschreibungen, wie etwas zu sein habe, zu ent -
ziehen.Ebd., 34.
Die aufrechte, aber auch Grenzen ziehende
Selbstbehauptung gegen die westlichen Zuschreibungen sind zen-
tral, bei Deloria und auch fast fünfzig Jahre später immer noch bei
Sarr. Dieser erinnert an den nigerianischen Schriftsteller und Litera-
turnobelpreisträger Wole Soyinka, der fordert, das »eigene Zuhause
zu bewohnen«. Dies hieße für den afrikanischen Kontinent self-
apprehension, und damit das »Erfassen seiner selbst durch sich selbst,
ohne Bezugnahme auf den anderen«, was erst genuin afrikanisches
Denken ermögliche.Sarr, Afrotopia, 109. Eines der wichtigsten Mittel der Selbst-Reprä-
sentation, für den afrikanischen Kontinent wie für die Native Ameri-
cans, sei, die eigene Sprache zu gebrauchen. Während die westliche
Gesellschaft die Konformität des Einzelnen darüber, »wie man zu
sein hat«, an die oberste Stelle setze, bildet nach Deloria der Stamm
eine Gruppe, in der der Mensch sich selbst zum Ausdruck bringen
kann und zugleich den Einzelmenschen in eine Gemeinschaft bettet.
Zwischen diesen Gruppen müsse dann verhandelt werden, und »viel-
leicht können wir auf dieser Basis schließlich zu einer Gesellschaft
kommen, in der Gesetze und Gerechtigkeit gelten«Deloria, Nur Stämme werden überleben, 70f..
Dies ist die mannigfaltige Zukunft, die die
Menschen westeuropäischer Herkunft erst von vielen Standpunk-
ten aus lernen müssen zu verstehen, schreibt Deloria. »Und sie
müssen verstehen lernen, dass all diese verschiedenen Gesichts-
punkte schließlich in einer Reihe wichtiger Beziehungen zueinander
stehen.«Ebd., 71. Die Welt – und die Zukunft – muss so als Netz oder Gefüge
der Komplexität gedacht werden. »Die immer komplexeren Wech-
selbeziehungen«, zitiert die Biologiephilosophin Sandra Mitchell
den Genetiker Ralph J. Greenspan, »stellt man sich besser nicht als
lineare Wege vor, sondern als dezentrales Netzwerk.« Die einmal
definierten Wechselbeziehungen seien nicht falsch, nur »Teil eines
viel größeren Bildes«.Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, 98.Keine Hierarchien und Abhängigkeiten also,
sondern wechselseitige, mannigfaltige Einflussnahme in einem
Netz, in dem jeder Punkt zum Zentrum werden kann. Hier kommt
der »agentielle Realismus« (Karen Barad) ins Spiel, nach dem die
Welt nicht von »Dingen bevölkert [wird], die sich mehr oder weni-
ger voneinander unterscheiden. Beziehungen hängen nicht von ihren
Relata ab, sondern umgekehrt.«Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin: Suhrkamp 2012, 14. Die Relationen, die Wege zwischen
den Punkten, sind das Entscheidende, während die Punkte existie-
ren, ohne für sich Bedeutsamkeit zu behaupten. Das ist die Perfor-
mance des stetigen Werdens und sich Veränderns, des Tuns statt der
Repräsentation, der stets aufs Neue sich vollziehenden Erfüllung des
Da-Seins: Es ist das Werden, das Unfertige, die Veränderung, das
unserem Sein Bedeutung verleiht.
Erst wenn also kein status quo mehr ange-
nommen wird, weder ante noch post, kann das Leben als komplexes
genetisches und ökologisches System vorstellig werden. Gesellschaft
als Gefüge kann mit Deloria ein Stamm oder ein Kollektiv sein. Und
nur weil die Kollektivität ideologisch mit dem als globale Verschwö-
rung angesehenen Kommunismus in eins gesetzt wurde, so Deloria,
wurden die Kollektive an den gesellschaftlichen Rand gedrängt.
Alternative Lebensformen wurden durch Diskriminierung daran
gehindert, sich zu verbreiten. Hippie-Kommunen, Stämme oder
heute die Patchwork-Großfamilie, in der nicht mehr die Blutsbande
über den inneren Zusammenhalt entscheidet, sondern mannig-
faltige Lebensformen integriert wie Transmenschen, Wahlgeschwis-
ter oder Adoptivomas, gehorchen nicht dem Ideal einer christlich-
teleologischen, zugleich reproduktiven, konservativen und auf
Bewahrung ausgerichteten Weltordnung. Das ist für die westliche
Gesellschaft immer noch inakzeptabel.
Es braucht neue Mythen, in denen sich das
Kollektiv an die Stelle der Helden- und Heiligenerzählungen set-
zen kann. Nicht die Heilsversprechungen eines Messias, der jetzt
als Covid-19-Impfstoff-Erlöser kurz vor Weihnachten zu uns herab-
kommt, sondern starke Erzählungen über den kollektiven Zusam-
menhalt. Unser Blick kann sich dann auch auf die kollektiven Gesell-
schaften Asiens richten, mit Individuen, die sich den Normen und
Pflichten des Kollektivs verbunden fühlen. Den Zielen der Gemein-
schaft wird hier der Vorzug gegeben, während sich das (westliche)
Individuum unabhängig vom Kollektiv betrachtet und seine je eige-
nen Vorlieben, Bedürfnisse und Rechte verteidigt.Vgl. Harry C. Triandis, Individualism and Collectivism, Boulder: Westview Press 1995.
Es gibt sie schon, die Erzählungen vom Kol-
lektiv. Seit einigen Jahren hat Hollywood alternative Narrative fernab
der singulären Superhelden-Erzählungen für sich entdeckt. George
Millers oscargekrönter Mad Max: Fury Road lanciert 2015 den Gegen-
entwurf des siegreichen Frauen-Kollektivs, dem sich drei Jahre
später auch der erste in afrikanischer Stammessprache gedrehte
Blockbuster Black Panther anschließt. Regisseur Ryan Coogler
erzählt in seinem afrofuturistischen Marvel von der Utopie des one
single tribe, einer vereinten Welt, die nur erreicht werden kann, wenn
alle zusammenhalten. Der König des mythischen Wakanda, der sich
mit einem Zaubertrank in den magischen Black Panther verwandelt,
ist darin umgeben von der kämpferischen Eliteeinheit »Dora Milaje«,
einer Gruppe hochrangiger Kriegerinnen. In choreographierten
Kampfszenen, die an rituelle T änze erinnern, schlagen die Sisters
gemeinsam die Gegner. Dabei kommen afrikanische Speere, westli-
che Abendkleider, traditioneller Körperschmuck und die muskulösen
Körper in furiosen Martial-Arts-Sequenzen zum Einsatz; der Kampf
vereint das Weibliche mit dem Afrikanischen. Der Sieg bedeu-
tet die Überlegenheit des Kollektivs über den Durchmarschhelden
männlicher und westlicher Prägung. Die Zukunft gehört in dieser
Erzählung dem kollektivistisch wirkenden Afrofeminismus.
In Folge dieser starken Erzählungen könnte
die rationalistische Kausalitätskette durchbrochen werden und der
»Intra-Aktion« Platz machen, in der die Welt posthuman, also vom
Tun des Menschen unabhängig gedacht wird. Das wäre dann die Welt
nicht als Ding, sondern als Tätigkeit, als »geronnenes Tätigsein«Barad, Agentieller Realismus, 98.. In
dieser Welt träten die Diskurspraktiken und die materiellen Phäno-
mene in Beziehung, Kultur und Natur gingen ineinander über. Die
Welt wäre dann ein Gefüge, in das sich der Mensch bettet, deren
Zentrum er nicht mehr ist, nur ein Agens neben der Natur, der Kultur,
den Tieren und Dingen. Nicht die Natur ist also eine Gefahr für den
Menschen, nicht der Mensch eine Bedrohung für die Natur. Derart
perspektiviert, gliedert sich der Mensch in die insgesamte Einheit
von Kultur-cum-Natur ein. Unter der posthumanistischen Perspek-
tive könnte die Corona-Pandemie ihren Schrecken verlieren. Wir
müssen aufhören, Covid-19 persönlich zu nehmen, als »Kränkung
der Menschheit«,Vgl. Sigmund Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5 (1917), 1–7.bei der aus der Tierwelt ein »neuartiges« Virus,
über das wir keine Kontrolle bekommen, unsere Menschensphäre
bedroht. Wie in der großen kopernikanischen Wende, wie nach
unserer Erkenntnis, unsere Vorfahren mit den Affen zu teilen, und
durch die psychoanalytische Herabsetzung des Menschen, weder
»Herr« der Welt noch im eigenen Haus zu sein, werden wir ein weite-
res Mal vom großen Thron, diesmal vom medizinischen, herunterge-
stoßen.Die Idee von Corona als weiterer Menschheitskränkung entstammt den mündlich geführten Lockdown-Gesprächen mit Wolfgang Lasinger, München im März-Mai 2020. In der anthropozentrischen Welt darf das nicht sein, noch
dazu in der hochtechnisierten.
Eine agentielle Perspektive nahm bereits vor
fünfzig Jahren der Club of Rome ein und berichtete »zur Lage der
Menschheit«. Die Welt stellte man sich dabei als ein Modell vor, in
dem jeder Punkt prinzipiell mit anderen Punkten in Verbindung steht,
in einer gesamttopologischen Komplexität. In unterschiedlichen
Modellierungen für die Zukunft veränderten die Forscher*innen die
Parameter und kamen zu immer anderen Ergebnissen, die absehbar
werden ließen, welche Stellschrauben für den Erhalt der Welt verän-
dert werden müssten. Es war der Blick auf ein sich im Prinzip selbst
regulierendes System, der die »Grenzen des Wachstums« aufzeigt.Vgl. Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1972.
Seitdem gibt es regelmäßige Ermahnungen des Club of Rome, an die
man sich im Laufe von fünfzig Jahren gewöhnt hat. Der Club of Rome
ist heute das personifizierte schlechte Gewissen der kapitalistischen
Bosse, kann allenfalls noch als moralisierendes Feigenblatt wirken.
Die Welt ist außer Kontrolle geraten. Corona
ist perfide und eint seit langem erstmals wieder die Menschheit:
Die Seuche wirkt auf jede*n Einzelne*n und gleichermaßen global.
Während wir uns unter dem Klimawandel hinwegducken, weil er für
uns (noch) keine spürbaren Einschnitte bedeutet, jammern wir unter
der Bürde, die uns Corona aufzwingt. Falls aber der Klimawandel
noch auf den letzten Metern aufgehalten werden soll, wird es ums
Ganze gehen. Eine vorübergehende Verhaltensänderung, wie jetzt
zur Corona-Zeit, wird da nicht helfen, es muss bleibende Einschrän-
kungen geben. Es geht um die Gesamtperspektive auf den Planeten,
es geht um the big picture. Wenn wir die Welt als zusammenhän-
gendes Kollektiv begreifen lernen könnten, könnten wir beginnen,
gemeinsam am großen Bild zu malen. Nur wenn wir gemeinsam
agieren, kann die Welt überleben. Du wirst uns davon erzählen