How To


Empfohlene Mindestteilnehmendenzahl für
diese Methode: 9, möglich: bis zu 24 (empfohlen).
Durchführende/moderierende Personen: 1 bis 2
(empfohlen).
Dauer: ca. 2–3 Zeitstunden mit Pausen
Objekt: jedes mediale Objekt/Subjekt (Kunstwerk, Sound etc.), hier beziehe ich mich auf das Beispiel Film.


1. Vorbereitung

Zu wählen ist ein mediales Sub-/Objekt. Hier im Beispiel nehmen wir den Kurzfilm. Der Film sollte in der Länge auf die Länge eurer Lehreinheit passen (bei einer dreistündigen Lehreinheit maximal 15 Minuten). Der Film ist später auf einer Leinwand oder einem Bildschirm im Raum zu zeigen. Am besten eignet sich ein Film, der bedeutungsoffen(er) ist (Film ist immer ambig). Format des Films: narrativ, experimentell, dokumen-tarisch – alles ist möglich.

Die Lehrperson entscheidet sich für eine binäre Auslegung des Films oder eine gegenteilige Aussage zum Film, hier sind verschiedene Formen des Gegensatzes zum Beispiel aus der Aussagenlogik möglich [experimentiert mit den Aussagen und geht in Gedanken durch, was das für Euren Film und die mögliche Diskussion bedeuten kann]. Es sind eigentlich keine Grenzen gesetzt, um welchen Aspekt es gehen soll. Es bedarf lediglich einer Aussage zum Medium/Film, die ihr verhandeln möchtet. Ihr könnt euch auch nur auf einen Teilaspekt des Films konzentrieren, wichtig ist, dass A gegensätzlich zu B ist. Nehmt euch für die Findung von Aussage A und B genug Zeit. Notiert nun A und B auf jeweils separaten Zetteln

2. Beschreibung der Durchführung:

Es werden drei Gruppen (A, B, C) gebildet, wobei die ersten beiden Gruppen (A, B) die in der Vorbereitung entwickelten jeweils diametral entgegengesetzten Positionen (siehe 1) zu einem Medium/Text/Kurzfilm vertreten. Ihre Position müssen A und B vor der dritten Gruppe C verteidigen. Gruppe C hat ein Urteil über die Überzeugungskraft der Positionen von A und B zum Medium/Text/Kurzfilm zu fällen.

Da die dritte Gruppe (C) das Medium/Text/Kurzfilm nicht sieht, ist sie auf die verbale Erzählung der beiden Gruppen und ihre Perspektiven angewiesen. Die argumentierenden Gruppen wiederum müssen mit ihren Worten nicht nur ihre Position anschaulich vertreten, sondern auch Medium/Text/Film medial angemessen transformieren, da sonst die Gegenseite schnell den Vorwurf einer falschen Wahrnehmung machen kann. Dies kann vor allem dann passieren, wenn am Ende das Medium/der Text/der Film nochmal gesichtet wird und sich für Gruppe C, die das Sub-/Objekt erstmals rezipiert, eine Differenz zwischen Beschreibung und eigentlicher Rezeption aufspannt.

3. Vorbereitung vor Beginn

3.1 Medientechnik

Organisiert die Medientechnik für das Zeigen des Kurzfilms. Der Einfachheit halber bleiben wir bei einem standardisierten Zeigedispositiv: Leinwand bzw.
Bildschirm und Lautsprecher. Diese reichen für die meisten Zwecke aus (die Finessen des Filmezeigens lassen wir hier außer Acht; eine gute, klassische
(Film-)Vermittlungsausbildung braucht lange, wir
konzentrieren uns auf das Wesentliche). Wenn später die Gruppe in den Raum kommt, muss der Film abgespielt werden können. Es sollte alles bereit sein.

3.2 Raum

Positioniert die Stühle in eurem Seminarraum wie folgt (siehe Zeichnung)

(eigene Darstellung)

Linker Flügel: Gruppe A

Rechter Flügel: Gruppe B

Mitte: Stühle, Zuschauer:innen, Geschworene = Gruppe C

Abseits: Moderator:in(nen)

Vorne: frei lassen, nur Leinwand

4. Durchführung und Ablauf:

4.1 Gruppeneinteilung und Aufgabenverteilung

Sobald eure Teilnehmer:innen anwesend sind, teilt sie
in drei Gruppen ein: Gruppe A, Gruppe B, Gruppe C.
Ihr selbst seid die Moderation.

Ihr sagt ungefähr: 
»Gruppe A und B müssen zwei entgegengesetzte
Aussagen zu einem Film vertreten.
Gruppe C bleibt draußen und wird den Film nicht sehen.
Gruppe A und Gruppe B müssen gegenüber
Gruppe C die erhaltene Position vertreten.
Gruppe C entscheidet dann, welche Gruppe
überzeugend war.
Gruppen A und B können nochmal ein Abschluss-
plädoyer vor der endgültigen Entscheidung halten.
Am Ende wird die Sitzordnung aufgelöst und ein gemeinsamer Kreis zur Abschlussdiskussion gebildet.«

Gruppe C wird rausgeschickt und muss nun draußen
warten. Damit Gruppe C sich besser kennenlernt
und nicht einfach nur so wartet, kann sie mit einem Kennenlernspiel beauftragt werden.

Gruppe A und Gruppe B schauen sich den Film an. 
Ihr übergebt hiernach (oder davor) den jeweiligen
Aussagenzettel an die beiden Gruppen.

Gruppe A und B besprechen nun in Gruppenarbeit
ihre Argumentation.
Arbeitszeit der Gruppen an dieser Stelle:
30 – 40 Minuten (je nach Komplexität des
ausgesuchten Films/der Aussage).

4.2 Ablauf Prozess

Gruppe A und Gruppe B nehmen nach Ablauf der
Vorbereitungszeit an den Flügeln Platz.
Gruppe C wird hereingelassen und nimmt in der Mitte Platz.
Moderation: »Die Sitzung ist eröffnet. Wir beginnen mit dem Eröffnungsstatement von Gruppe A.«

Gruppe A muss den »Sachverhalt« erläutern und dann
ihre Aussage A verkünden.
Gruppe B kann den beschriebenen »Sachverhalt« 
mit einer Gegendarstellung erläutern. Sie muss ihre Aussage B verkünden.

Gruppe A kann nun wieder die getätigten Aussagen
kommentieren. 
Gruppe B wird jetzt anmoderiert und kann nun erneut
das bisher Gesagte kommentieren.
Gruppe C darf jetzt Fragen an Gruppe A und Gruppe B stellen.

Die Gruppen reagieren.

Die Moderation moderiert das weitere Gespräch und achtet auf übliche Moderationsregeln einer Gruppendiskussion, hier insbesondere auf fair verteilte Redeanteile.

Nach 20 – 30 Minuten: Die Moderation bittet Gruppe C wieder raus und bittet darum, sich für 10 Minuten für Ihre Entscheidung zu beraten, welche Seite überzeugender war.

Gruppe A und B haben nun während dieser 10 Minuten Zeit, ein Abschlussplädoyer zu entwickeln.

4.3 Entscheidungsverkündung und Abschlussplädoyers

Nach 10 Minuten. Gruppe C wird wieder hereingebeten.
Gruppe A hält ihr Plädoyer.
Gruppe B hält ihr Plädoyer.
Gruppen A und B werden herausgebeten und warten draußen.
Gruppe C bespricht sich nochmal im Raum für 5 Minuten für Ihre Entscheidungsfindung.
Gruppen A und B werden wieder hereingebeten.
Gruppe C verkündet ihre Entscheidung mit Begründung.

5. Nachbesprechung

Die Sitzordnung wird zu einem Kreis aufgelöst oder der Einfachheit halber sitzen alle nach Möglichkeit im Bereich C.

Der Film wird nochmal gemeinsam gesichtet.

Es wird sich zu den Erfahrungen der Ergebnisse, der Übung ausgetauscht. Gruppe C darf sich dazu äußern, ob sich nach Sichtung des Films ihre Meinung geändert hat und was das Sehen des Films für sie verändert hat. Insbesondere sollten die Teilnehmer:innen die Gelegenheit bekommen, den Prozess des Rollenspiels zu reflektieren.

Diese VeDiRo-Methode lässt sich vielfältig variieren und für die eigenen Bedarfe anpassen.

Medialität und
des-identifikatorisches
Argumentieren

Da der Film nur einmal gesichtet wird, sind die Teil-nehmer:innen auf ihr Erinnerungsvermögen und die Aspekte medialer Unzuverlässigkeit verwiesen. Die Gruppenarbeit zwingt dazu, sich mit der Medialität sowie den vielfältigen Rezeptionsweisen in der Gruppe auf zügige und darum auch anstrengende, aber deswegen umso konzisere Art zu verständigen. Komplexe Momente in dem Rollenspiel bestehen darin, die Ambiguität filmischer Medialität (vgl. Zimmermann 2016) berücksichtigen zu müssen: Der Film wird als ein ästhetisch komplexes, multimodales (denkendes, vgl.
Linseisen 2020) Medium auf ein binäres Moment (entweder Position von A oder B) reduziert. Die Gruppe muss sich also bemühen, trotz dieser Ambiguität den Interpretationsraum im Gesichteten mit der zu vertretenden Aussage abzudecken. Da die Notwendigkeit für zwei Gruppen besteht, einer dritten Gruppe die filmische
Darstellung verbal zu erläutern, findet ein mediales Transformationsmoment statt. Gehen die Gruppen auf die Differenz in der Medienerfahrung ein, müssen sie mehr als denotativ erzählen, sie müssen vielmehr auch das Wie (die Poetik oder auch Ästhetik, vgl. Morsch 2011 sowie Schaffer 2008) der filmischen Inszenierung aufgreifen. Dass die Ästhetik des Films in Relation zu seinem Inhalt in den Hintergrund gerät (Inhaltismus, vgl. Heidenreich 2015), kann in einer (eher medialitäts-unsensiblen) Filmvermittlung passieren. Daher kann die Involvierung der Ästhetik eben Methoden über Gespräche hinaus benötigen: Um die eigene Position in einer Differenz zu einer anderen Position aufrechterhalten zu können, muss das Wie (Ästhetik und Poetik) angemessen genug aufgegriffen werden, denn sonst laufen die vermittelnden Gruppen Gefahr, dass Gruppe C, die den Film nicht gesehen hat, die gemachten Aussagen nicht nachvollziehen kann. Die Ambiguität des Mediums wird in der argumentativen Geste, eindeutig Position beziehen zu müssen, geradezu herausgefordert, sodass ein Bildungsmoment hinsichtlich dieser Medialität des Mediums entstehen kann (»Schule des Sehens«). Es ist nicht mehr möglich, sich nur noch auf das gemeinsam Gesichtete verlassen zu können. Das Gesichtete muss für eine Gruppe, die die filmische Rezeption nicht miterlebt hat, vermittelbar werden. Dadurch tritt die Medialität des Mediums hinein, ohne dass sie selbst mitreflektiert oder künstlich integriert werden müsste. Die sinnliche Entkopplung und sprachliche Einholung des Dings (Films) im Kontext eines diskursiven Gesprächs rückt ins Zentrum eines Urteils.

Ereignishaftigkeit und soziale Rollen: Filmesehen 

Filmvermittlung wird ein soziales Ereignis: Die Theatralität des Settings sorgt dafür, dass Filmesehen und Filmezeigen als soziale Aufführungspraxen verstanden werden. Dies stärkt die soziologische und Medienreflexionskompetenz, die das Filmesehen sowie die rezeptionellen Grundmodi des Sozialen ausmacht (beim Filmesehen begeben wir uns in unterschiedliche Modi wie Zeug:innensein, Richter:innensein, einen Kommunikationsvertrag eingehen, vgl. Zag 2010). Allgemein wohnen diesem Rollenspiel generell mehrere mediale Dopplungen inne (Dispositiv des Seminarraums in Relation zum Gerichtssaal oder zum Schaubühnen-, Theaterbühnen- bzw. Kinodispositiv), die in die Nachbesprechung einbezogen werden können.

Anmerkungen zu Risiken 

Das Risiko der Methode besteht darin, in der binären, komplementären Gestaltung der Aussagenverhältnisse (A und B) gerade keine Öffnung der Bedeutungsformen oder eine Verhandlung ästhetischer Verhältnisse anregen zu können, z. B. wenn die Personen sich zu schnell auf denotative oder semantische Verhältnisse einlassen, um den Film zu beschreiben (dem Offensichtlichen, dem common sense, sprich dem Diskurs; und in jedem Moment des Umgangs mit dem Film/Objekt den Vorrang geben).

Die Gruppeneinteilung zwingt dazu, dass die einzelnen Gruppenmitglieder sich mit einer Position identifizieren müssen, die sie selbst vielleicht als unangemessen und/oder falsch betrachten: Desidentifikation. Dies erlebten viele Teilnehmer:innen, mit denen ich die Methode durchführte, eher als belastendes Moment. Allerdings knüpfte sich daran ein Kompetenzentfaltungsmoment, da hierdurch das verbale Argumentationsvermögen insofern gestärkt wird, als dass darüber die eigenen Wertvorstellungen, Überzeugungen, aber auch die eigene Wahrnehmung gegen die Gegenargumente abgewogen und habituell in der Darlegung der eigenen Gründe trotzdem verteidigt werden müssen. Gleichzeitig wird auch Druck genommen, da es von der Last befreit, sich mit der eigenen Aussage identifizieren zu müssen. Desidentifikation kann hier zur Lust am Rollen-
spiel führen, da die Vertretung nicht mit der eigenen Position/Rolle zusammenfällt.

Auch wenn die Machtverhältnisse durch den gesamten Prozess hindurch fluktuieren (Gruppe C scheint exkludiert zu werden, da sie den Film nicht sieht; gleichzeitig liegt die Evaluationsmacht am Ende bei ihr, wobei diese Evaluationsmacht zugleich Gruppe A und B be-drückt), bedarf es gerade auch aufgrund der
epistemologischen Gewaltpotentiale (schnelles Handeln in der Gruppenarbeit) ausreichend Zeit für die Reflexion in der Nachbesprechung (Punkt 4 der obigen Anweisung).

Die VeDiRo-Methode lädt ein, an der Verschränkung von Vermittlung, Gruppendiskussion, Rollenspiel und ästhetischer Erfahrung, die Dinge (Filme, Sounds, künstlerische Objekte) miteinander ins Spiel zu bringen, ohne ihre Diskursivität bewusst gegen ihre Medialität und vice versa auszuspielen. Sie soll und muss weiter spezifiziert und ausgebaut werden. Der Schreiber dieser Zeilen freut sich über Rückmeldungen an info@oemeralkin.de.

Literatur

Diskriminierungskritische Praxis an der Schnittstelle Bildung/Kunst (o.J.):
https://diskrit-kubi.net/, abgerufen am 18.09.2024.

Heidenreich, Nanna (2015):
»V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration«, Post_koloniale Medienwissenschaft, Band 4, Bielefeld: transcript.

Kühn, Thomas/Koschel, Kay-Volker (2018): 
Gruppendiskussionen, Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Linseisen, Elisa (2020):
»Medien/Denken/Um/Formatieren«, in: Julia Bee/Gerko Egert (Hg.), Experimente lernen, Techniken tauschen. Ein spekulatives Handbuch, Weimar/Berlin: nocturne, S. 51–69.

Morsch, Thomas (2011):
Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino, München: Wilhelm Fink.

Schaffer, Johanna (2008):
»Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung«, Studien zur visuellen Kultur, Band 7, Bielefeld: transcript.

Zag, Roland (2010):
Der Publikumsvertrag. Drehbuch, Emotion und der »human factor«, Köln: Herbert von Halem Verlag.

Zimmermann, Christina (2016):
Ambiguität im zeitgenössischen Film. Flugversuche: Zusammenfassung, Weimar: Bauhaus-Universität Weimar, https://www.db-thueringen.de/r....