Drag or Drop? Queere Begriffsarbeit

Vorgehen:

1. Queere Begriffsarbeit betreiben und Begriffe ›draggen‹ oder ›droppen‹, geht in Präsenz oder digital, in einer oder mehreren Gruppen bis zu fünf Personen (ideal sind drei Personen). Die Teilnehmer*innen sind eingeladen, einen un/geliebten, die eigene Forschung herausfordernden, bestimmenden, ständig störenden oder bereichernden Begriff mitzubringen. In einer Vorstellungsrunde werden alle Begriffe und die jeweiligen Kämpfe mit und Erwartungen an sie kurz vorgestellt. Die Vorstellung sollte nicht länger als 5 Minuten dauern. Danach beginnt das gemeinsame Ziehen/Zerren/Verschieben/Draggen/Verkleiden/Droppen.

2. Alle Teilnehmer*innen bekommen ein Handout mit dem ›Drag-or-Drop‹-Score. Die Gruppe geht die einzelnen Punkte einmal gemeinsam durch und bespricht Fragen und Unsicherheiten. Das Handout ist ein Arbeitsblatt. Es kann kopiert, verteilt, bekritzelt, verändert, angepasst, abgeheftet oder weggeworfen werden.

3. Jede*r Teilnehmende*r ›variiert‹ mit dem kennengelernten Score den eigenen Begriff und notiert die vorgegebenen Bedeutungen. Jede*r kann für sich allein die Begriffe draggen oder droppen oder diese in die Gruppe geben. Doch jede*r sollte die (auch zeitliche) Möglichkeit haben, die queere Arbeit am Begriff mit den anderen zu teilen und zu diskutieren. Die Begriffe müssen nicht linear oder vollständig durchgespielt werden, es gibt verschiedene Einstiege in das Scoring.

Zur besseren Veranschaulichung spielen wir den Score im Folgenden verkürzt mit dem Begriff »Kollektivität« durch.

I. Normativität 
(Duden / Wörterbuchwissen / Common Sense / Alltagsprachlichkeit)

Die erste Station fordert eine Auseinandersetzung mit dem ›Common Sense‹. Hier soll, im Sinne Donna Haraways, deutlich werden, dass Begriffe, gerade in ihrer ›allgemeingültigen‹ Bewertung, nie unschuldig sind. Wir schlagen Standardwörterbücher (keine wissenschaftlichen oder philosophischen Handbücher etc.) auf, um ›gängige‹ Bedeutungen, ihre schon festgelegten Gegenbegriffe und standardisierten Substitute unserer un/geliebten Begriffe zu identifizieren.

Definition

Was haben unsere Begriffe ›ganz allgemein‹ zu bedeuten?

Wir haben z. B. mit dem Begriff der Kollektivität gearbeitet.

↘ Kollektivität meint laut Duden Gemeinschaftlichkeit oder Gemeinschaft, das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache kennt noch Gemeinsamkeit als Bedeutung. Das Kollektiv, von dem es sich ableitet, meint eine »eng verbundene Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamen gesellschaftlichen, politischen o. ä. Zielen«, einen gemeinschaftlichen Wirtschafts- oder Landwirtschaftsbetrieb (besonders in Bezug auf sozia-listische Länder/Projekte) und als Begriff aus der Statistik eine Personenmenge, die gemeinsame Merkmale aufweist. (Duden.de, dwds.de).

Anmerkung Gemeinsamkeit und Gemeinschaft können eigentlich sehr verschiedene Dinge sein. Je nachdem auf welches von beiden sich Kollektivität bezieht, sind sehr unterschiedliche Dinge benannt. Vielleicht spielt auch die Frage eine Rolle, ob die Gemeinsamkeiten für Kollektivität entscheidend sind? Oder kann es eine Gemeinschaftlichkeit auf Basis von Differenz geben?

Antonym

Wie verhalten sich unsere Begriffe im binären System von Bestimmung und Verkehrung, wenn ein Antonym immer den antagonistischen Gegenbegriff zu einem Begriff darstellen soll?

↘ Individualität? Singularität? Vereinzelung? Es lässt sich schwer entscheiden. Wenn es um Gemeinsamkeit geht, wären auch Unterschiedlichkeit oder Differenz mögliche Antonyme.

Synonyme

Welche ›gleichen‹ Bedeutungen haben unsere Begriffe? Wo findet (scheinbar) keine Bedeutungsverschiebung durch einen Begriffsersatz statt?

↘ Mit Blick auf gemeinsames Arbeiten/Tun: Kollaborativität, Kooperativität, Zusammensein/Zusammenarbeit, Solidarität; Mit Blick auf Gemeinsamkeit: Ähnlichkeit, Verbundenheit.

II. Drag 
(Begriffsvariationen / 
überraschende Auftritte / Begriffsperformance)

An zweiter Stelle geht es nun darum, zu fragen, welche Performativität unsere Begriffe an den Tag legen, was sie zuallererst machen und was sie vor allem anders machen können. Wir suchen nach unerwarteten Auftrittsszenarien unserer Begriffe und fragen, wie sie
(z. B. durch Vor- oder Nachsilben, Schräg- oder Binde-striche) verändert werden, etwas an Bedeutung angefügt oder weggenommen werden kann.

Spielarten & Homonyme

Welche abseitigen Bedeutungen oder Verwendungen jenseits der Definition haben unsere Begriffe? Welche Konnotationen schwingen mit?

↘ Konnotationen: völkisch und nationalistisch, zugleich sozialistisch – die Kollektivierung von Gütern;

Kollektivität ist außerdem auch stark im Kontext von Kunst(-produktion) verwendet worden. Was vor allem bei Kunstprojekten und in Hinblick auf soziale Utopien beim Begriff der Kollektivität mitschwingt, ist auch die Unmöglichkeit oder Schwierigkeit, sie überhaupt/je zu erreichen.


Imitation & Substitute

Welche Imitationsverhältnisse gehen unsere Begriffe ein? Wen oder was imitieren wir in der Benutzung unserer Begriffe? Gibt es Möglichkeiten, unsere Begriffe durch Substitute/Supplemente so zu verändern, dass sich, im Sinne Jacques Derridas, alles verändert?

↘ Sind Kollaborativität/Kollaboration eine vermeintlich flachhierarchische Zusammenarbeit, in der alle (Business- oder Kollaborations-)Partner*innen sind, eine (neoliberale) Imitation von Kollektivität?


Verkleidung, Maskerade, Schein

Wie können unsere Begriffe als etwas erscheinen, was sie nach normativen Definitionen und Zuschreibungen nicht sind/nicht sein sollen? Wie können sich unsere Begriffe durch andere Buchstabierungen, Satzzeichen oder Wortteile verändern?

↘ Was weiter einfällt: Kollektiv-Bewusstsein, Kollektiv-Körper, Kollektives Gedächtnis. In Kollektivität steckt die Kollekte, Geld einsammeln in der Kirche, steckt 
im ko-lekt auch das Lesen, Zusammen-Lesen? 
Ko-Lektivität, die Zusammen-Lesbarkeit? Etwas, das nur gemeinsam gelesen werden kann? Ko – Lekt – tivität da könnte auch lecken drinstecken, nicht sprachlich, aber phonetisch. Zusammen lecken?

Pseudo-Kollektivität, Quasi-Kollektivität, Anti-Kollektivität? Individuelle Kollektivität, unbewusste Kollektivität? Gegen-Kollektivität, Meta-Kollektivität, trennende Kollektivität, disruptive, differenzierende, diffraktive Kollektivität (Haraway 1997, Barad 2007).

Performativität

Was machen unsere Begriffe? Was können sie anders machen als bisher? Welche Folgen hat die Veränderung unserer Begriffe in ihrer Erscheinung, in ihren Gesten, der Sprache? … und: Wo sind die Grenzen des Drags erreicht? Wann werden unsere Begriffe zu etwas anderem und zerreißen ihre Bedeutungen? Wo ist dies, im Sinne der weltbildenden Bedeutung von Drag, notwendig?

↘ Wenn Kollektivität reinkommt/auftritt, dann bringt sie so viel mit: Weil es hier nicht nur um eine Begriffsgeschichte geht, müssen und können wir verkürzen: Kollektivität performt zum Beispiel eine Alternative zu Individualität, (bürgerlicher) Subjektivität, manchmal die Möglichkeit der Subversion. Sie spricht Diskurse aus Avantgarde-Kunst an, weg von Einzelkünstler*in und Autor*in. Sie ist nicht nur mit der Bildung von Gemeinschaft assoziiert, sondern auch mit Auflösungsbewegungen (vielleicht des Subjekts/Individuums; auch Auflösung von Gemeinschaft(en), die auf ersteren basieren; Auflösung von Formen des Denkens, etwa in poststrukturalistischer Philosophie). Es gibt aber eben auch die sozialistische Geschichte des Begriffs, allgemeiner: homogenisierende Kollektive sind denkbar und möglich, sie können auch völkisch und faschistisch konstituiert werden.

III. Drop 
(Scheitern am Begriff / Begriffe abschaffen / 
Begriffe verteidigen)

Die dritte Station unserer queeren Begriffsarbeit blickt auf unsere, aber auch die von außen an uns herangetragenen Bedenken hinsichtlich unserer Begriffe. Wir fragen uns, was wir mit den Begriffen loswerden, wenn wir sie droppen, was uns (nicht) fehlt, und was wir gerne wieder zurückbekämen.

Embrace Obstacles

Wir fragen uns, wer oder was gegen unsere Begriffe spricht? Welche Gründe gibt es, unsere Begriffe loszuwerden? Was wäre leichter, was schwerer? Wir können hier ins Unendliche abwägen und uns im ›Einerseits‹ und ›Andererseits‹ verspinnen.

↘ Es gibt viele Gründe, die Kollektivität fallen zu lassen: wegen ihrer Unmöglichkeit vielleicht, wegen der Abgegriffenheit des Begriffs, seiner langen Geschichte, oder weil er so unscharf ist. Auch möglich: die Vielgestaltigkeit und Unschärfe des Begriffs umarmen, denn hier hat Kollektivität wieder etwas mit Queerness gemeinsam, eine Verweigerung der Festschreibung, die mit der Auflösungsbewegung, die auch im Begriff steckt, zu tun haben könnte. Den Verlust an (Trenn-)Schärfe akzeptieren, oder versuchen, sie wieder einzuführen? Eine konkrete Frage an unsere laufende Arbeit mit der »Kollektivität«: Lässt sich dieser Begriff sinnvoll an Kunst/Künstler*innen herantragen, die nicht in dieser Weise damit arbeiten, ihr Tun also (dezidiert) nicht als kollektiv verstehen? Kann Kollektivität betrieben oder artikuliert werden ohne die bewusste Entscheidung dazu?

Den Papierkorb lieben lernen

Wir könnten unsere Begriffe für einen Moment in den digitalen Papierkorb legen, ohne sie gleich für immer zu löschen. Lohnt es sich, unsere Begriffe aus dem Blickfeld zu entfernen? Vermissen wir unsere Begriffe, wenn sie im Papierkorb liegen? Welche Leerstellen entstehen im Text, wenn wir unsere Begriffe nicht mehr aktiv nutzen? Schwingen unsere Begriffe vielleicht noch mit, obwohl sie gar nicht mehr da sind?

↘ Wenn Kollektivität im Papierkorb landet, tritt direkt ein anderer Begriff hervor, wenigstens derjenige der Kollaboration oder ein anderer Begriff von Gemeinschaft
(lichkeit). Dadurch werden die Unterschiede dieser verschiedenen Vorstellungen der Vergemeinschaftung deutlich. Eine offene Frage: Reichen die anderen, in ihrer Unterschiedlichkeit nun fokussierbaren Begriffe von Gemeinschaft oder entsteht im Fehlen von Kollektivität eine Bedeutungslücke?


Attachments

Unsere Affizierungen gegenüber ›schwierigen‹ Begriffen müssen nichts Schlechtes sein, vor allem nicht, wenn von außen Bedenken gegenüber ihnen geäußert werden. Denken wir darüber nach, was uns an unseren Begriffen festhalten lässt, in welchen Situationen wir an ihnen hängen. Und selbst wenn wir erkennen, dass unser starkes Festhalten an unseren Begriffen uns nicht weiterbringt, können sie zu unseren geliebten Staubfängern werden.

↘ Gerade wenn der Begriff kurz mal im Papierkorb verschwindet, taucht sofort ein Substitut dafür auf. Wir wissen noch nicht, wie wir genau damit arbeiten, aber wir wissen, dass wir damit arbeiten. Wir hängen an dem Begriff.

Trust the Falseness of Friends

Wenn andere uns zum Droppen unserer Begriffe überreden wollen, wie können wir unsere Begriffe (für uns selbst) verteidigen und schützen? Warum ist es richtig, dass wir unseren Begriffen vertrauen und damit die Falseness der ›freundlichen‹ und ›gut gemeinten‹ Ratschläge offenlegen? Die ›Falschheit der Freund*innen‹ kennen wir auch aus der Übersetzung – irreführende (phonetische) Ähnlichkeiten, die in semantische Irrwege führen. Wo lohnt es sich, diesen ›falschen‹ Pfaden zu folgen? Vielleicht sind aber auch die Freund*innen gemeint, die uns beraten und die ebenso falsch- 
liegen mögen wie wir. Wir können uns fragen, wer aus welchen Gründen meint, unsere Begriffe ›richtig‹ zu verstehen.

↘ Wenn wir uns verhören, dann könnte es hier auch um Konnektivität statt Kollektivität gehen, um connectivity statt collectivity. Wie hängt Kollektivität mit Konnektivität zusammen? Sind wir von unseren Vorstellungen digitaler Vergemeinschaftung – z. B. auf Social Media, vermeintlich Orte voller ›falscher Freund*innen‹ – so beeinflusst, dass wir Kollektivität immer schon mit Konnektivität, Vernetzung, Sharing und Partizipation zusammendenken? Über welche Art von Verbindung (Konnex), über welche Medien stellt sich Kollektivität wie her? Das scheint uns eine entscheidende Frage zu sein.



IV. Score

Nachdem die Begriffe ausgiebig variiert, gedragt sowie
das Droppen erprobt wurden, stehen alle Teilnehmenden vor einer Entscheidung. Möglicherweise eröffnet der doch rigide und geplante Score im Spiel flüchtige Entscheidungen, wie sie die Undercommons mit Stefano Harney und Fred Moten (2016) praktizieren – eine Entscheidung, die keinen nicht mehr rückgängig zu machenden Wegscheid auf einem linearen Erfolgspfad markiert. Eine Entscheidung flüchtig zu treffen, soll aus der Mitte entstandene, multiple Anfänge 
im Nachdenken mit und über unsere Begriffe ermöglichen. Außerdem wollen wir mit dem Scoring einem zwiespältigen Begehren nach Bewertung nachkommen: Im Kontext einer ballroom culture wird unter anderem das ›passing‹ oder die ›realness‹ quantifiziert, eine Bewertung, die aber keine Objektivität beanspruchen kann und zugleich in einer Umgebung stattfindet, die doch gerade ein Gegenentwurf, ein alternativer sozialer Raum zur heteronormativen Kultur ist, von der die Anforderung, zu ›passen‹, ausgeht. Wir haben in dieser Methode an den Begriffen gezogen und gezerrt – das können wir auch an den Scores machen, wenn sie nicht passen. Wo ist eigentlich oben und wo unten? Egal. Show your Scores! Wir vergeben 1 – 10 Punkte und entscheiden über: Drag or Drop?

↘ Für eure Begriffe


↘ Diese Methode


↘ Unsere Umsetzung


Wenn wir uns fragen, was Begriffsarbeit für unsere wissenschaftliche Praxis bedeutet, könnten wir uns z. B. auf Gilles Deleuze (1993a, 1993b und Deleuze/Guattari 2000), auf die Arbeit an Begriffen als Arbeit der Philosophie beziehen. Von Deleuze und Guattari können wir lernen, dass Begriffe immer etwas tun und nicht nur auf etwas verweisen, die Wirklichkeit nicht etwa nur repräsentieren, sondern zuallererst herstellen. Wir wollen das Spiel mit den Begriffen ernst nehmen und das heißt, uns nicht auf einen (im aktuellen philosophischen Diskurs stark verankerten) Begriff – trotz seiner Offenheit – festlegen. Darum soll es hier nicht gehen. Wir wollen mit unseren Begriffen spielen, sie wieder aufsprengen, angesichts einer Notwendigkeit der Schließung, vor die wir in unserer Arbeit regelmäßig gestellt werden. Es handelt sich dabei um Begriffe, die wir uns nicht immer ausgesucht haben, zu denen wir uns verhalten, die wir einordnen oder wenigstens verorten müssen oder gar nach ihrer Wichtigkeit, Nützlichkeit und Nähe/Distanz zu unserem eigenen (wissenschaftlichen) Thema, Projekt, Handeln bewerten sollen. Dabei entstehen Hass-Liebe, Unentschlossenheit und manchmal auch Verzweiflung, angesichts der vielen möglichen Wege und Windungen, die jeder Begriff mit sich bringt.

Eine Methodologie queerer Begriffsarbeit zimmert nun eine kleine Bühne für die Begriffe unseres Denkens – allerdings eine andere, als es unsere Vorträge und Texte manchmal sein mögen. Gemeinsam suchen wir mit unserer Methode Wege, Begriffe neu einzukleiden, etwa in drag performen zu lassen, oder sie (ebenfalls im Sinne des englischen »drag«) ein wenig zu dehnen, zu zerren oder an ihnen zu ziehen. Mit unserem Vorschlag zur queeren Begriffsarbeit wollen wir einen Ort anbieten, für wilde Assoziationen, Uneindeutigkeiten, Verque(e)rungen und empowernde Wiederaneignung. Dabei geht es gerade nicht um ausgefeilte Konzepte, zu Ende gedachte Abhandlungen oder Begriffsgeschichten, sondern um eine Gelegenheit, explorativ und mit Lust, etwas mit und an Begriffen auszuprobieren. Wenn keines der Outfits passt, sich einfach keine Drag-Persona findet, in die der Begriff sich verwandeln lässt, dann kann es vielleicht befreiend sein, ihn stattdessen fallen zu lassen: Drop! Wir versuchen gemeinsam, den Mut zu finden, den ein oder anderen Begriff auch in den Papierkorb zu verschieben. Dort warten dann zum Beispiel auch verhärtete Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit und normativer Sexualität auf sie. Drag und Drop sind aber nicht nur eine Verkleidung, die Kopie einer Kopie, sondern eine eigene Praxis der Welt- und Selbstgestaltung. Davon können wir etwas für unsere Begriffsarbeit lernen. Auch wenn alles wie Spiel und Probe erscheint, wenn wir unseren Begriff in Drag kaum noch wiedererkennen oder im Drop nicht wiederfinden, ist er vielleicht auch ein anderer geworden.

Wir haben für diese Methode ein und in ein oder verwandelt. Was uns allen als gängige Operation im Umgang mit Desktop-Computern bekannt ist (Drag and Drop), als mühelose und vermeintlich intuitive Verschiebung, bzw. Kopie von Dateien – von einem ›Ort‹ zu einem anderen – wird zum Versuch, Begriffsarbeit zu leisten. Ein Moment der Verschiebung bleibt dabei hoffentlich vorhanden. Mühelos wird das allerdings nicht, und das mag schon an der Bedeutung von »drag« liegen: dem Mitschleppen (to drag (sth./sb.) along), sich (in die Länge) ziehen (to drag on), jemanden herabziehen oder die Laune verderben (to drag somebody down), jemanden in die Tiefe ziehen. In den Tiefen der Zweigeschlechtlichkeit, dem Oxford English Dictionary, finden wir zu diesem »Slang«-Begriff außerdem: »Feminine attire worn by a man; also, a party or dance attended by men wearing feminine attire; hence generally, clothes, clothing.«

Nichts davon kann fassen, was Drag ist und doch schwingt alles davon mit, wir schleppen es mit uns, wenn wir hier eine queere Methodologie entwerfen. Denn unter der Prämisse einer queeren Methodologie, lässt sich dieser Begriff, der auch eine Praxis ist, nicht jedem Kontext entreißen, kann es nicht um Produktivität oder Innovation gehen. Anstatt Progression steckt – jedenfalls Elizabeth Freeman (2010) zufolge – in Drag nämlich vielmehr Regression, fast Nostalgie, ein historischer (Rück-)Zug. Für Freeman ist Drag eine zeitliche Angelegenheit, nicht nur wegen der temporalen Konnotation des in die Länge- oder Hinterherziehens, sondern auch, weil die Kostüme, Requisiten und Artefakt, mit denen sich Kings & Queens eindecken, die mitunter auch Drag-Verkörperungen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit entstehen lassen, in der Regel eine gewisse Zeitlichkeit mit sich bringen, veraltet, ›outdated‹, unzeitgemäß sind. Der Zusammenhang zwischen Drag und Drop könnte also auch deren Umkehrung sein: Aufheben, was fallengelassen wurde, was wir schon seit Jahren mit uns herumtragen, nicht wegschmeißen wollen und es sich als Schnauzbart oder Haarteil ankleben. Für Freeman kann Drag eine andere Relation zur Vergangenheit eröffnen, zur Geschichte des Feminismus, zur Konzeption von Zeit (Freeman 2010: 65).

Dragging Drag – kleine Begriffsgeschichte 

Drag wurde als Beispiel für die Performativität von Geschlecht herangezogen (Butler 1990: 136 ff.). Einigen ist Judith Butler zu ungenau in der Beobachtung, anderen entwickeln they eine zu optimistische Perspektive auf das subversive Potential dieser Praxis. Zwei Jahre später stellt Butler dann fest: nicht jede Performativität von Geschlecht ist als Drag zu fassen (1993: 176). RuPaul sieht das ein bisschen anders: »We’re all born naked and the rest is drag« hat es von einer Aussage in einem Interview, zum Songtext, auf Postkarten, T-Shirts und womöglich Wand-Tattoos geschafft (2015). ›Mama-Ru’s‹ TV-Show hat eine gewisse Form von Drag massenmedial sichtbar gemacht, popularisiert, aber auch kommerzialisiert und es wird durchaus kontrovers diskutiert – ohne hier kulturpessimistisch gegen Populärkultur zu wettern –, was das mit Drag als Praxis
oder als Begriff macht (Edward/Farrier 2020). War bisher vor allem von einer US-amerikanischen Begriffstradition die Rede, lassen sich doch eine Vielzahl von Vorgänger*innen und verwandten Performancepraktiken finden, die Erscheinung und Darstellung von Geschlechtlichkeit erprobten, lange bevor von Female Impersonators die Rede war (Newton 1979). Je nachdem, welche Geschichte wir erzählen wollen, lassen sie sich auf Elisabethanischen Bühnen finden oder in sogenannten Hosenrollen – Jahrhunderte später, als Frauen auf westlichen Bühnen zugelassen wurden. Der große historische Bogen, die Imagination einer Kontinuität von Drag, kommt jedoch nicht ohne einige Unschärfe aus, riskiert allzu sehr, Vergangenheit als Schminkspiegel zu instrumentalisieren. Es gibt sie, die Verbindungen zu (anderen) Verkörperungen von Geschlecht im Zusammenspiel mit Kostümen und Requisiten, aber was diese wann bedeutet haben, hängt von der historisch kontingenten Formation von Geschlecht und Begehren ab. Drag ist ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts, was nicht bedeutet, dass sich nicht (queere) Verbindungen zu anderen Zeiten und Zeitlichkeiten damit schlagen ließen (Boudry/Lorenz 2011, Lorenz 2012). Drag kann auf Bühnen stattfinden, tut das auch häufig, aber geht darüber hinaus. Für Uta Schirmer (2010) wird Drag(kinging) im Berlin der 2000er Jahre zu einer sozialen Praxis, was auf der Bühne persiflierend und theatral erprobt wurde, drängt sich in den Alltag, Geschlecht wird anders gelebt. Etwas vom Spiel bleibt, aber die Parodie, der Bezug auf ein Eigentliches, ein vermeintliches Original verschwindet. Mithilfe von Dingen, (Ver-)Kleidung, Make-Up wird eine andere Gestaltung der eigenen Geschlechtlichkeit vorgenommen, nicht, dass irgendeine Geschlechtlichkeit ohne so eine Gestaltung auskommen würde.

Drag meint vieles, dehnt sich selbst über die Zeit, in der es in Verwendung ist, aus, zieht sich in die Länge. Drag wird in diesem Workshop mobilisiert, konzeptualisiert, auf Begriffe losgelassen, hat aber zugleich eine eigene Begriffsgeschichte, oder viele. Darin spielen verbotenes Begehren, illegale Bars und Bühnen, billige Perücken und Bärte, abgetragene Kleidung, Schmuck und Requisiten, abgebundene und artifizielle Brüste, modifizierte und konstellierte Körper eine Rolle. Drag ist mehr als eine Illustration der Performativität von Geschlecht, mehr als die Verkleidung gemäß vermeintlich gegengeschlechtlicher, heteronormativer Ideale, mehr als 
RuPaul’s Drag Race. Wenn wir Begriffe draggen, sollten wir das nicht vergessen, uns vielmehr davon ermutigen lassen: zur Manipulation der Zeit etwa, zu nostalgisch-pathetischen Auftritten oder verrutschten Nach-ahmungen. Drag kann auf große Auftritte, Künstlichkeit, Pastiche und Camp verweisen und uns überlegen lassen, wie wir unsere Begriffe einkleiden, aufbrezeln und ins Licht setzen. Drag kann uns auf das Zusammenspiel unserer Begriffe mit anderen Dingen bringen, die sie erst als das erscheinen lassen, als das wir sie wahrnehmen. Drag kann ein Spiel, ein Spaß sein, eine todernste Angelegenheit oder eine Möglichkeit, zu überleben. Es kann mehr darin stecken und mitarbeiten, als allen Beteiligten bewusst ist.

Drop. Vom Fallenlassen und im Papierkorb kramen Drag or Drop? 

An die Frage, wie strapazier- und dehnbar ein Begriff ist, schließt sich die Frage nach der Strapazier- und Dehnbarkeit unserer körperlichen Kapazitäten an. Begriffsarbeit ist immerhin Arbeit, und die Pflege und das Kopfzerbrechen können sehr zermürbend sein. Weil die Begriffe auch toxisch sein können, wollen wir überlegen, wann ein Begriff fallen gelassen, wann er gedroppt werden muss. Dieser Schritt ist nicht einfach, denn er ruft sofort eine kapitalistische Produktions- und Progressionslogik auf den Plan, die fordert, sich von allem zu verabschieden, was einem Vorankommen zuwider zu stehen scheint: Der emotionale Ballast, der als etwas Negatives bzw. Negativeres wahrgenommen wird, als andere, vermeintlich produktivere Denkarbeit. Wir müssen also vorsichtig sein, wenn es um das Droppen von Begriffen geht. Jack Halberstam fragt in seinem Buch The Queer Art of Failure (2011: 2) was die Alternative zu zynischer Resignation auf der einen und naivem Optimismus auf der anderen Seite ist, wenn wir merken, dass wir bei einer Sache nicht weiterkommen bzw. härter formuliert: an der Sache oder am Begriff scheitern. Mit Drop und in Anschluss an Halberstam soll es nun eben nicht darum gehen, ein mögliches Scheitern am Begriff als das negative Gegenkonzept zu produktiverem Denken zu verstehen und somit im Binarismus zu verharren. Was wäre das außerdem – dieses produktivere Denken? Unsere Frage ruft sofort feministisch-marxistische Forderungen zur Sichtbarmachung vermeintlich weniger wichtiger Sorge-, Pflege- oder Hausarbeit auf den Plan und erinnert uns daran, uns überhaupt erst einmal klar zu werden, in welchem System unsere Begriffsarbeit stattfindet und welche Voraussetzungen sie ermöglichen.

Unsere Kategorie Drop will im Anschluss an das Draggen eine »Grammatik der Möglichkeit« (2011: 2) wie Halberstam es formuliert, entwerfen, um unsere Begriffe struktursensibel, d. h. politischer, differenzierter und jenseits des patriarchalen, weißen, westlichen Wertesystems durchzudeklinieren, aus dem heraus diese queere Methodologie entstanden ist: der deutschen Universität. Auch mit Drop geht es um Alternativen und Spielarten innerhalb einer rigiden Struktur, und zwar unter der Voraussetzung, mit dem vermeintlich Unproduktiven zu experimentieren. Erin Manning argumentiert in ihrem Buch For a Pragmatics of the Useless (2020: 21) in Hinblick auf Neurodiversität für neue, aus Perspektive normativ-etablierter und auf reine Funktionalität ausgerichteter Maßstäbe unnütze Wertsysteme, die das universitäre Verhältnis von Produktivität und Wissen in Anklage an die ableistischen wie rassistischen Ausschlüsse herausfordern. Findet eine verschobene und innerhalb der universitären, weißen, (neuro-)normativen Strukturen wertlose Fokussierung statt, wie sie Manning mit dem Autismus und an Schwarzer Sozialität festmacht, ergeben sich neue Möglichkeiten, dominante Wissensproduktionen zu kritisieren und über diskriminierungsfreie Zugänge nachzudenken.

So kann das Unproduktive eingeholt werden, aber nicht als Re-Entry in eine hierarchische und binäre Produktionslogik, die fordert, dass wir ›aus unseren Fehlern lernen‹. Unsere Methodologie soll mit Drop keine klassistische Fuck-Up-Night werden, bei der ökonomisch erfolgreiche Menschen anderen, ökonomisch weniger erfolgreichen Menschen, die gerne ökonomisch erfolgreich wären, erzählen, wie sie gescheitert sind – nur, um dann ein ›Learning‹ anzubieten, dass ihren glorreichen Wiedereinzug in den Karriereweg beschreibt.

Vielmehr geht es uns also darum, solche aggressiven Gegenerzählungen und mit ihnen die Hierarchien zu dekonstruieren, die sie zwischen Erfolg und Nicht-Erfolg ziehen. Halberstam (2011:2, Hall 1990, 1991) schlägt das von Stuart Hall etablierte Konzept einer »Low Theory« vor, die das Populäre, vermeintlich Außer-Wissenschaftliche nutzt, um wissenschaftliche Alternativen denkbar zu machen, die über die üblichen Fallen meist binärer Begriffsarbeit hinausgehen. Der Low Theory ist, durch ihre Banalität, immer schon ein Moment der wissenschaftlichen Verweigerung und Kritik inhärent, und die Frage, warum wir uns eigentlich jetzt mit dieser nichtigen, untheoretischen, unwissenschaftlichen Sache beschäftigen. Die Low Theory wird wissenschaftlich nicht ernst genommen. Sie ist das im Hegemonialkorsett der Wissenschaft immer schon Fallengelassene, das nicht lohnt, wieder oder jemals aufgehoben oder aufgesammelt zu werden. Wir erkennen den Papierkorb als einen strategischen Ort an, wo wir nach Beispielen der Low Theory suchen, um unsere Care-Arbeit an ihnen, unseren Kampf als Alternative zu einer vermeintlich wissenschaftlicheren, philosophischeren Arbeit der High Theory zu etablieren. Mit Drop geht es um die Hindernisse, die uns unsere Begriffe bereiten, die emotionale Arbeit, die wir für sie vollbringen, das Attachment, das wir zu ihnen haben, obwohl sie uns in einen, mit Lauren Berlant (2011) gesprochen, grausamen Optimismus zwingen. Drop will auch zeigen, dass das vermeintliche Scheitern an den Begriffen gar nicht so sehr an ihrer Semantik oder Einsatzfähigkeit liegt, sondern am System, in dem sie sich etablieren und funktionieren sollen. Wir wollen dazu einladen, Begriffe zu droppen, in den Papierkorb zu legen, gerade weil der Papierkorb als Ort des Scheiterns, im Sinne eines Ortes der Low Theory, neue Potenziale bereithält, die sich gerade dann zeigen, wenn ein Begriff erst einmal fallengelassen wurde. Das Droppen bringt mit Blick auf unsere Methode/Begriffsarbeit einige Unschärfen zutage. Wollen wir Begriffe wirklich fallen lassen, loswerden, etwa weil sie im pragmatischen Sinne (nach Deleuze oder auch Isabelle Stengers) nicht wirken – in einem bestimmten Milieu keine Wirkung entfalten und daher nutzlos sind? Oder wollen wir Begriffe strategisch fallen lassen, um ihnen an einem Ort außerhalb rigider Systeme, am nicht-schlechten Ort des Papierkorbs zu neuem Potenzial zu verhelfen? Wäre Letzteres überhaupt ein ›richtiger‹ (death)-drop? Wir können uns nicht entscheiden und nehmen die Unschärfe oder Gleichzeitigkeit in Kauf, wir draggen den Drop. So ist es möglich, Begriffe aus- und wieder einzusortieren, sollten wir sie fälschlicherweise fallen gelassen haben. Wir wollen diesem Gefühl der Falschheit Raum geben – dem eigenen und dem der Anderen, die es sicherlich ›gut mit uns meinen‹. Entscheidend ist es sich nicht darin zu verlieren, wer nun richtig liegt, sondern immer wieder nach der epistemologischen Performativität der Be- und unserer Zugriffe zu fragen: Was erlauben sie uns zu tun und zu denken? (Sedgwick 2003)

Literatur

Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham: Duke University Press.

Berlant, Lauren Gail (2011): Cruel Optimism. Durham, NC, London: Duke University Press.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London: Routledge.

Butler, Judith (1993/2011): Bodies That Matter. On the discursive limits of »sex«. New York, London: Routledge.

Boudry, Pauline/Lorenz, Renate (2010): Temporal Drag. Ostfildern: Hatje Cantz.

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2000): Was ist Philosophie? Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Deleuze, Gilles (1993a): Proust und die Zeichen. Berlin: Merve.

Deleuze, Gilles (1993b): Logik des Sinns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Edward, Mark/Farrier, Stephen (2020): Contemporary Drag Practices and Performers: Drag in a Changing Scene. Bd. 1, London: Methuen Drama.

Freeman, Elizabeth (2010): Time Binds. Queer Temporalities, 
Queer Histories. Durham, NC, London: Duke University Press.

Halberstam, Jack (2011): The Queer Art of Failure. Durham, London: Duke University Press.

Hall, Stuart (1990): »Gramsci’s Relevance for the Study of Race and Ethnicity«, in: Kuan-Hsing Chen/David Morley (Hg.): Stuart Hall: Critical Dialogies in Cultural Studies, New York: Routledge

Hall, Stuart (1991): »Old and New Identities, Old and New Ethnicities«, in: Anthony D. King (Hg.): Culture, Globalization and the World System, London: Macmillan, S.42–69.

Harney, Stefano/Moten, Fred (2016): Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium. Übersetzt von Birgit Mennel. Wien, Linz, Berlin, London, Zürich: Transversal Texts.

Donna Haraway (1997): Modest_witness@second_millenium.FemaleMan©_Meets_OncoMouse, 
New York, London: Routledge.

Lorenz, Renate (2012): Queer Art. A Freak Theory. Bielefeld: Transcript.

Manning, Erin (2020): For a Pragmatics of the Useless. Durham, London: Duke University Press.

Newton, Esther (1979): Mother Camp Female Impersonators in America. Chicago: The University of Chicago Press.

»drag« in: Oxford English Dictionary, online: https://www.oed.com (15.11.2021).

RuPaul Interview mit Dazed & Confused (01.06.2015), https://www.dazeddigital.com (15.11.2021).

Sedgwick, Eve Kosofsky (2003): »Paranoid Reading and Reparative 
Reading, or, You’re So Paranoid, You 
Probably Think This Essay Is About You«, in: Michèle Aina Barale/Jonathan Goldberg/Michael Moon (Hg.): Touching Feeling: Affect, Pedagogy, Performativity, Durham: Duke University Press, S. 123–152.

Schirmer, Uta (2010): Geschlecht Anders Gestalten. DragKinging, geschlechtliche Selbst-verhältnisse und Wirklichkeiten. Bielefeld: Transcript Verlag (2010).