HOW TO

1. Lest gemeinsam die Kurzfassung des IPCC Berichts.

• Findet Formen, eure Bestürzung und Trauer 
 auszudrücken und, so gut es geht, aufzufangen.


2. Lest Texte zum Thema Klima und Mobilität, Landwirtschaft, Industrie, Müll, Bauwirtschaft, Energie, Umweltrassismus, etc.

3. Überlegt jeweils, was das mit eurem Fach und eurer Region zu tun hat.

• Macht Mindmaps zu den Themen und lokalen 
 Bezügen.

• Sammelt und systematisiert, mit welchen 
 Methoden man lokale Fälle recherchieren kann (historisch, partizipativ, ethnographisch …).

• Nutzt die Zoterobibliothek und Tool Box der AG
 Klima und Lehre der GfM.

• Recherchiert lokale Klimafolgen in der Region (Stadt, Gemeinde, Metropolregion etc.).

• Kontaktiert Betroffene und ladet sie in eure Forschungsvorhaben ein. Nutzt z.B. oral history für die Recherche.

4. Bildet Cluster und entwickelt individuelle/Teamprojekte zu einem der klima-ökologisch relevanten Thema und bezieht es auf die Region.

• Gebt euch in kolloquiumsartigen Sitzungen
 gegenseitig kollegial Feedback.

5. Setzt einen Blog auf – verwendet Kartentools wie 
Open Street Map und Story Map, um die Punkte lokal zu kartieren.

• Nutzt vorhandene Maps wie den Global Atlas 
 of Environmental Justice.

• Nutzt das Wissen, um mit lokalen Engagierten der Klimabewegung in Kontakt zu treten.

6. Hier ist eine kleine Inspiration 
https://decarbonize-siegen.de

Ziel des Seminars Decarbonize/Decolonize Siegen war es, kritische lokale Perspektiven auf die Drillingskatstrophe Klima, das massive Artensterben und die globale Vermüllung zu entwickeln und dies vor allem unter Berücksichtigung von Perspektiven sozialer und globaler Gerechtigkeit. Den Rahmen bildete ein wöchentlich stattfindendes 4-stündiges Masterprojektseminar in Dialog mit einem 2-stündigen BA Seminar zum Thema Anthropozän kuratieren unter der Leitung von Magdalena Götz. Zunächst haben wir uns mit den Grundlagen des anthropogenen Klimawandels vertraut gemacht, z. B. durch die Lektüre des aktuellen IPCC-Berichts (Schritt 1). Er gehört eigentlich in jeden Kurs! Dazu haben wir dezidiert intersektionale Perspektiven in Beziehung gesetzt und Texte aus Indigener, Schwarzer, feministischer und Degrowth-Perspektive zu Klimawandel, massivem Artensterben und Vermüllung gelesen (u. a. Liboiron 2021, Tatu Hey/Ituen 2021) (Schritt 2). In einem dritten Schritt haben wir gemeinsam überlegt, was geeignete Themen und Fragestellungen für Siegen und die Region sein könnten – bereits bei der Diskussion der Texte haben wir den lokalen Bezug herausgearbeitet und Orte auf einer mentalen Karte markiert (Schritt 3). Diese Themen wurden dann mit Feedback aus der Gruppe von Sitzung zu Sitzung zu Frage-stellungen konkretisiert und in Kleingruppen sowie individuell ausgearbeitet. Dabei haben wir thematische Cluster – etwa zu Mobilität – gebildet, die von Studierenden in Gruppen ausgearbeitet wurden (Schritt 4). Die Projekte wurden am Ende der Vorlesungszeit im Rahmen eines Get-Togethers aller Studierenden des Seminars für Medienwissenschaft in Form von Postern und auf Instagram (@decolo.carbo.nize.siegen) publiziert und vom Kurs decolonize decarbonize. Kuratieren im Kontext von Dekolonisierung und Klimakatastrophe ausgestellt. Anschließend wurden die Texte redigiert und in mehreren Feedbackschleifen überarbeitet. Sie erscheinen auf dem Blog Decarbonize Siegen im Frühjahr 2024 (Schritt 5). Herzstück des Blogs ist eine Karte, auf der die Themen Orten zugeordnet werden, so dass das Wissen um die Klimakatastrophe lokalisiert wird.

Hintergrund

Ich beginne meine Vorträge
oft damit, dass ich erkläre, wo ich aktuell unterrichte und forsche. Ich sage dann, dass zum Beispiel Siegen ein Ort ist, an dem einer der größten europäischen CO2-Emittenten produziert, die Deutschen Edelstahlwerke. Warum mache ich das? Ich versuche die Wissensproduktion zu situieren und zu lokalisieren und sie damit an Orte der Klimakatastrophe als aktuell sich entwickelnde Menschheitskatastrophe zurückzubinden. Ich beziehe mich auf einen Akteur an meinem Arbeitsort, der dazu beiträgt, dass die BRD gegen die Pariser Klimaschutzziele verstoßen wird, wie RWE in Essen oder Ford in Köln. Denn Teil der Verleugnung ist es, dass viele Menschen in unserem unmittelbaren beruflichen Umfeld handeln, als ob »Carbon Europe« (Pohl 2023) immer woanders passiert. Deshalb greife ich auf eine fast schon altmodische Methode zurück (»think global, act local« hieß es noch in den 2000ern, als ich mein ökologisches Freiwilligenjahr absolvierte) und versuche mit Studierenden, Wissen rund um die Klimakatastrophe, das massive Artensterben und die Vermüllung lokal sichtbar zu machen.

Kritisches Kartieren und lokale Initiativen


Die oben skizzierte Lehrpraxis ist im Bereich des 
Critical Mapping und des studentischen Publizierens angesiedelt und verbindet Recherche, Vermittlung und öffentliche Präsentation aus Wissenschaft, Aktivismus und Journalismus. Critical Mapping ist von Initiativen wie Orangotango entwickelt worden (Orangotango o. J., vgl. auch Wildner/Streule 2022). Karten setzen Wissen über Orte und Orte zueinander in Beziehung, sie intervenieren auf den Achsen Zeit und Raum und beteiligen mehrere Akteur:innen am Forschungsprozess. Sie politisieren vermeintlich neutrale Karten, indem sie diese um Themen wie Entmietung, Wohnungsentzug oder rassistische, misogyne oder antisemitische Gewalt aufbauen. Im Bereich Klima und Umwelt dokumentieren Mappings Umweltverbrechen, Klimaaktivismus und Emissionen (Global Atlas of Environmental Justice
o. J.; Climate Trace o.J.). Sie greifen auf lokale Initiativen sowie auf lokales und außeruniversitäres Wissen zurück, welches sie zugleich überregional und strukturell in Beziehung setzen. Umgekehrt entsteht so auch Wissen für lokale Zivilgesellschaft und ermöglicht, vor Ort aktiv zu werden und Verantwortlichkeiten im Umfeld zu adressieren.

Im Bereich der Dekolonisierung sind ähnliche Verfahren der Lokalisierung von Wissen globaler Problematiken entwickelt worden, neben Stadtführungen zu Orten der kolonialen Geschichte und Gegenwart sind auch Blogbeiträge zu verschiedenen Städten entstanden (van der Heyden/Zeller 2007). Inoffizielle und durch Initiativen organisierte Stadtrundgänge finden in vielen Städten an Jahrestagen statt und machen auf fehlende Erinnerungsmedien z. B. zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah aufmerksam, so auch in Weimar die Organisation Lernort e. V. und Initiativen mit Betroffenen von Rassismus – etwa Berlin postkolonial e. V – haben in den letzten Jahrzehnten wichtige Arbeit geleistet, das Thema in den städtischen Raum getragen und so Umbenennungen von kolonialrassistischen Straßennamen erwirkt (Zwischenraum Kollektiv 2017; Zimmerer
2013; Kwesi Aikins 2011). Im Zuge dieser Initiativen habe ich 2020 im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Bauhaus-Universität Weimar einen Blog mit Karte zum Thema der postkolonialen Stadt initiiert. Gerade in Weimar, einer Stadt, die weit über den Ort hinaus bedeutsame und belastete Bezüge hat, ist Geschichte umkämpft. Leider zählt zu oft nur jene des klassischen Weimars (Engelberg-Dočkal 2019), das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald ist knapp 6 km außerhalb der Innenstadt. Ein wichtiges Ziel und zugleich Effekt der Lehrveranstaltung und des Projekts, waren der Kontakt und Austausch mit anderen Projekten, die sich mit der NS-Geschichte beschäftigten, wie die KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie mit unserem Projekt Auf dem Weg zum Erinnerungsort, das die NS-Geschichte des Gebäudes der Fakultät Medien erforschte (Bee et al. 2024). Stadtführungen können, wie z.B. in Cottbus, eine postkoloniale und postsozialistische Geschichte verbinden (Trzeciak 2020). Im Sinne eines multidirektionalen Erinnerns macht sie Geschichte u.a. durch Oral History im Rahmen von Stadtführungen sichtbar (vgl. zum verschränkten Erinnern auch Bauche et al. 2024). Stadtführungen zu Orten marginalisierter Geschichte, wie die Schwarze Stadtführung in Paris, sollen in diesem Kontext nicht zur Touristifizierung von Städten beitragen, sondern weniger repräsentierte Perspektiven sichtbar machen und so zu einem multiperspektivischen Erinnern in der Stadt beitragen (Boukhris 2017). ↗ Annika Wappelhorst (2022) hat hier die Selbstdarstellungen von post- und dekolonialen Stadtrundgängen durch Interviews dokumentiert. ↙

Umweltorte zu erinnern ist der Ansatz von Ökologische Erinnerungsorte (Uekötter 2014), das z.B. Orte von Protestbewegungen, aber auch Umweltdenkmäler thematisiert. Während dieses Projekt Natur- und Kulturgeschichte verbindet, zielen die Climate Mappings wie von Decarbonize Siegen auf konkrete Verursacher:innen im Stadtraum und Umland und soll gleichermaßen zum Verständnis von klimaschädigenden Sektoren und Strukturen beitragen. Zudem ging es mit den öffentlichen Stadtführungen im Decolonize-Seminar darum, im Stadtraum zu intervenieren, das blieb in Siegen bisher aus. Ähnlich wie im Decolonize-Seminar wurden historische und aktuelle Perspektiven zusammengeführt.

Was kann eine solche Perspektive leisten?

Durch Karten und Recherchen wird Klimawissen lokalisiert, konkrete Auswirkungen und Verursachungsprinzipien können benannt oder exemplarisch ausbuchstabiert werden, um ihre Dynamiken und Auswirkungen greifbar zu machen. Selbst wenn anthropogene Klimaerwärmung nicht linear-kausal funktioniert und Skalierungen zu beachten sind, können pars pro toto Orte sichtbar werden, die exemplarisch für die zentralen Problematiken wie Energieproduktion, Forstwirtschaft, Mobilität, Gebäude, Bildung oder Infrastruktur, aber auch ihre Folgen wie Gesundheit, Artensterben oder Dürre stehen. Die Sensibilität für die konkrete Umgebung soll so erhöht werden, insbesondere wenn die Erkenntnisse veröffentlicht werden und die Stadtgesellschaft sie zur Kenntnis nimmt.

(Produktions-)Orte und Akteure wie die Deutschen Edelstahlwerke, ehemalige Kohlegruben im Siegerland, Hitze- und Dürreschäden im Mittelgebirge, aber auch Betonwüsten, Hochstraßen, Steingärten und Flughäfen, Atomanlagen oder Fertigungsstätten, Fast Fashion Shops... können Orte sein, die spezifisch auf ihre Rolle in der Klimakatastrophe untersucht werden. Diese sind nicht auf die Berechnung des eigenen lokalen Budgets oder »Fußabdrucks« zu reduzieren. Wenn man sich vor Augen führt, welche Orte mit der Klimakatastrophe verbunden sind, wird deutlich, wie unsere Gesellschaften und unsere Infrastrukturen um fossile und extraktive Strukturen herum aufgebaut sind. Das bietet viele Ansatzpunkte, sich mit der Klimakatastrophe strukturell auseinanderzusetzen, kann aber auch schlicht durch die Ausmaße der Erkenntnis überfordern. Umgekehrt kann aber auch die Perspektive von Klima(gerechtigkeit) überall angewendet werden.

Die Konzentration auf Orte heißt nicht, dass politische und kapitalistische Strukturen negiert werden sollen – hinter jedem Ort stehen strukturelle Ursachen, die in den studentischen Beiträgen durch Theorie und Bezug zu anderen Recherchen sichtbar gemacht werden. Es geht somit nicht um die Verlagerung der Ursachen hin zu individueller Verantwortung, sondern gerade darum, Wissen vor Ort und für die Zivilgesellschaft vor Ort sichtbar zu machen, etwa auch um politische, industrielle und universitäre Verantwortlichkeiten zu benennen und Handlungsmöglichkeiten zu skizzieren (auch wenn letzteres im Rahmen des Seminars nicht Aufgabe der Studierenden war, weil es überfordernd sein kann): ExxonMobile weiß seit Mitte der 90er Jahre von der anthropogenen Erderwärmung (Supran et al. 2023) – welche Orte in der Stadt sind mit ExxonMobile verbunden? Welche Think Tanks wie Eike oder Heartland Institute, die Fake News verbreiten und Mechanismen des Zweifels sponsern (Oreskes/Conway 2010), gibt es in der jeweiligen Stadt? Es ist nicht immer möglich, konkrete Informationen über die genauen Emissionen des Autoverkehrs in Siegen zu erhalten. Aber man kann sich Messgeräte besorgen und die Feinstaubbelastung in bestimmten Bereichen messen. ↗ Es gibt dabei einen Unterschied der verschiedenen Emmissionsarten. Feinstaubbelastung ist jedoch gesundheitsbelastend und oft sozial strukturiert. Siehe https://www.umweltbundesamt.de.... Zu vorzeitigen Toden durch Feinstaub, siehehttps://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/luftverschmutzung-viertel-millionen-menschen-starben-durch-feinstaub-a-7b04e9c5-7793-48f8-a63f-0b62868da99c. ↙ Man kann recherchieren, was der Verkehr insgesamt in der BRD an Emissionen verursacht (über 22 %), wie das historisch entstanden ist, welche Vorschläge an die Politik es aus der Forschung gibt und wie viel durch mehr Radwege und den Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur eingespart werden könnte. Man kann bei der Stadt anfragen …

Beiträge

Auffällig an den selbstgewählten Themen im Rahmen der Lehrveranstaltung war, dass die Verantwortung der Industrie weniger thematisiert wurde als die von Einzelpersonen, etwa von Menschen, die ihren Garten nicht im Sinne von Biodiversität gestalten. Auch wenn private Gärten keine kleine Fläche in Deutschland ausmachen, und durchaus wichtige Lebensräume für Pflanzen, Pilze, Insekten, Singvögel und andere haben können, war ich zunächst ein bisschen enttäuscht von dieser Verantwortungsverschiebung. Unternehmen wie Autoteilezulieferer in Siegen haben in einer Region oft ein positives Image. Ich als Neuankömmling in der Stadt schien das nicht zu verstehen. Unter anderem sind lokale Unternehmen dadurch, dass sie »viel für die Region tun«, oft Arbeitsplätze schaffen, Schwimmkurse organisieren, Infrastruktur mitfinanzieren und Kunst fördern, angesehen bzw. unverzichtbar.

Als wichtiger Bereich, der alle Teilnehmenden persönlich betraf, hat sich in dieser Lehrveranstaltung der Bereich Mobilität herauskristallisiert. Da die Universität auf verschiedene Orte in der Stadt verteilt ist, die Busse nicht gut getaktet sind und das Nahverkehrsnetz schlecht ausgebaut ist, war Mobilität ein großes Thema. Fahrradfahren ist aufgrund der fehlenden Infrastruktur in Siegen eher abenteuerlich. Vor allem in Bezug auf Klasse (Erkmen/Derinalp 2024), Behinderung (Norkeit 2024) und Geschlecht (Waporidis 2024) wurde die Siegener Mobilitätsinfrastruktur und -kultur analysiert und kritisiert. Die Geschichte, wie Siegen zur Autostadt wurde, wurde in einem Artikel aufgearbeitet (Hoffmann 2024), in einem anderen, wie problematisch die vorhandene Infrastruktur für Menschen mit (Seh-)Behinderungen sein kann (Norkeit 2024, plötzlich endende und zugeparkte Gehwege, fehlende Leitstruktur), in einem dritten Beitrag, einem Hörspiel, wird deutlich, welche Problematik öffentliche Räume aus Sicht von FLINTA bergen können, wenn man durch Gehen, Fahrrad- sowie Busfahren auf diese stärker angewiesen ist als durch das Auto (Waporidis 2024). Soziale Folgen der ÖPNV-Nutzung unterschiedlicher Gruppen – die, die ein Auto haben vs. die, die es sich nicht leisten können – und Klimagerechtigkeit (der Verkehr ist mit über 20 % einer der größten Klimaschädiger in Deutschland) wurden verbunden (Erkmen/Derinalp 2024; vgl. zu Mobility 
Justice Sheller 2018). Hinzu konnten wir über Infrastruktur und Mobilität als Medien sprechen sowie überlegen, was für Maßnahmen nötig wären und welche Rolle dabei der Ausbau öffentlicher Infrastruktur, Leihflotten und Fahrradwege spielen können. D.  h. hier konnte an persönliches Interesse sowie Alltagswissen angeknüpft werden. Hinzu kommt, dass neue Methoden ausprobiert werden konnten (wissenschaftliche wie Interviews, Gruppendiskussionen, Archivforschung, Zeitzeug:innenberichte, Mappings aber auch künstlerisch-experimentelle oder aktivistische Methoden wie Adbusting (Gerner/Staudigel 2024).

Medienpraktiken

Zu den Medienpraktiken, die im Rahmen eines Climate Mappings erlernt werden können, gehören das Publizieren, das Finden einer geeigneten Methode und Forschungsfrage sowie die Formatabhängigkeit der Präsentation (↘ Elisa Linseisen) für die Veröffentlichung und die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Forschungsposition. Die Medialität und Materialität einer Karte, eines Blogs, eines Posts in den Sozialen Medien, einer Ausstellung, eines Stadtrundgangs, eines Podcasts oder Hörspiels kann praktisch nachvollzogen werden. Die Lehrveranstaltung Decarbonize Siegen hat in kleinem Maßstab mehrere dieser Formate bespielt. Die reflexive Auseinandersetzung mit der Medialität der Formate kam etwas kurz und könnte zukünftig eine wichtigere Rolle für eine medienwissenschaftliche Lehre spielen. Die Umsetzung der unterschiedlichen Formate kann dann je nach Fähigkeiten und Interessen von den Studierenden selbst übernommen werden. Wir hatten in beiden Projekten Unterstützung von Bernhard Frena, der den Blog und die Karte angelegt hat, weil die Umsetzung unseren kapazitären Rahmen überstieg. Wenn es eine Stadtführung zu ausgewählten Orten geben soll, können auch Präsentationskompetenzen und Vermittlungskompetenzen nicht nur für ein akademisches Fachpublikum ausgebildet oder vertieft werden. Bei der Ausstellung haben sich die Studierenden unter der Leitung von Magdalena Götz mit Grundlagen des Kuratierens auseinandergesetzt und einen Instagramkanal eingerichtet. Hier können wiederum Auseinandersetzung mit Sozialen Medien und ihren Dynamiken relevant werden. Die Frage der Vermittlung und der Medialität des Wissens spielt also auf verschiedenen Ebenen eines Public Science Projekts eine informierende Rolle.

Publizieren

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass das gemeinsame Publizieren in der Gruppe viele Lerneffekte haben, aber auch bestehende Ausgrenzungen verstärken kann. Der Druck des selbst geschriebenen Textes steht dem Stolz auf das eigene Produkt gegenüber, manchmal besteht beides gleichzeitig. Hier sind besonders habituelle Ausschlussmechanismen zu berücksichtigen. Lehrende sollten dies gut im Blick haben und Studierende dabei unterstützen, sich als Wissens- und Bildungsakteur:innen wahrzunehmen. Martin und Eckert (2019) haben hierzu Überlegungen zum Schreiben im Seminar vor dem Hintergrund der Habitustheorie Bourdieus angestellt. Schreiben von und mit Studierenden ist zudem mit Aufwand verbunden, man muss die Texte redigieren und intensiv mit den Studierenden über die Texte kommunizieren – das ist gerade in der Qualifizierungsphase von Lehrenden unverhältnismäßig ressourcenintensiv, aber für entfristete Lehrende aus meiner Sicht eher leistbar. Gemeinsames Redigieren kann hier helfen, d. h. Pat:innenschaften für Texte zu vergeben und so Studierenden redaktionelle Möglichkeiten zu geben sowie die Möglichkeit, im Seminarraum zu schreiben. Dabei gilt es, eine sensible Balance zu halten zwischen der Anpassung an bestimmte universitäre Konventionen (Professionalisierung), an Quellenarbeit und wissenschaftliche Standards – und dem Zulassen neuer, experimenteller Schreibweisen, die sich kreativer, essayistischer ausdrücken und damit auch eine andere Zielgruppe ansprechen können (als epistemische, stilistische Intervention). ↗ Dorothea Walzer hat in ihren Seminaren an der RUB bereits einiges an Wissen zum Publizieren zusammengetragen (Walzer 2024, im Erscheinen). ↙ So kann das Publizieren in Blogs den Gewohnheiten des Kompetenz- und Wissensaustausches von Plattformen entgegenkommen. Es dürfte aber auch klar geworden sein, dass Studierende unterschiedliche Anliegen als das der Dozentin haben, was sich auch in den Texten spiegelt. Das möchte ich im Hinblick auf das Vorgänger:innen-Projekt Decolonize Weimar! betonen, weil hier vom zweiten Semester bis zur Masterarbeit sehr heterogene Texte hinsichtlich Anliegen und Geübtheit entstanden sind – und diese Heterogenität ist durchaus ein Vorteil.

Nicht zuletzt ist das Publizieren auch eine Möglichkeit, der manchmal erdrückend erscheinenden Ohnmacht angesichts der Klimakatastrophe zu entkommen. In diesem Zusammenhang können auch Orte als Best Practice sichtbar gemacht werden.

Reflexion

Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass decolonize und decarbonize im Sinne einer globalen Umwelt- und Klimagerechtigkeit nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten: Wir haben beide Themen zusammen bearbeitet, es hat sich in dieser Lehrveranstaltung aber ein Schwerpunkt auf Umwelt- und Klimathemen herauskristallisiert. Im Rahmen von post- und dekolonialen Stadtrundgängen und Karten kann man auch Umweltgewalt und Emissionsstrukturen sichtbar machen und umgekehrt – in Decarbonize-Stadtrundgängen können auch rassismus- und ableismuskritische sowie feministische Dimensionen von Klimagewalt – jetzt und in Zukunft – sichtbar gemacht werden. Es wurde in der Lehrveranstaltung auch strukturell diskutiert, inwieweit die einzelnen Bereiche mit Medien zu tun haben – z. B. in den Bereichen Logistik, Mobilitätsinfrastruktur, sogenannte Smart City etc., ein Vorgehen, welches sich zukünftig stärker erweitern und systematisieren ließe. Durch die Heterogenität der Medien, die mit der Klimakatastrophe zu tun haben, kam dies im Einzelnen etwas kurz.

Es ist ethisch geboten und methodisch interessant, hier wie in allen Fällen wertschätzend und partizipativ auf lokale Gruppen und ihr Wissen zurückzugreifen – Klimabewegungen, Naturschutzverbände, die die Zeichen von Dürre und Artensterben täglich vor Augen haben, Initiativen of Color, Sinti:zze und Rom:nja, von Umweltrassismus besonders betroffene Gruppen (Tatu Hey, Ituen 2021). Dies setzt methodische Reflexion und Sensibilität sowie gezielte Betreuung seitens der Lehrperson voraus. Wissen sollte übersetzt, gemeinsam produziert und nicht einfach ›genommen‹ und extraktiv genutzt werden. Eine solche Wissensintervention kann zukünftig auch nachhaltige Vernetzung zwischen der Universität und dem Stadtraum produzieren.

Schluss

Zusammenfassend lässt sich sagen,
dass durch eine Decarbonize-Intervention abstrakte Themen und schwer durchschaubare Strukturen eine Bedeutung im konkreten Kontext erhalten können. Oft ist es ungewohnt, konkrete Verantwortlichkeiten von Unternehmen und Politik
auszusprechen. Natur wird politisiert, und Verantwortung so benennbar. Geisteswissenschaften könnten auf diesem Weg von außerhalb der Uni viel stärker als wichtige Wissensakteurinnen in der Klimakatastrophe wahrgenommen werden. Nach innen werden entsprechende Kompetenzen thematisch und methodisch gefestigt oder erlernt.

Die Stadt erscheint durch Climate Mappings als ein historisiertes Netzwerk und kann so politisiert werden, was den Studierenden – so sei zu hoffen – Motivation und hoffentlich Skills für weitere Wissensproduktion und schließlich politisches Handeln sowie zivilgesellschaftliches Engagement ermöglichen soll (zwei Studierende haben etwa im Rahmen der Lehrveranstaltung einen kritischen Brief an die Stadt geschrieben). Keinesfalls soll Lähmung und Hoffnungslosigkeit verbreitet werden: Die Autostadt war nicht immer da und das heißt auch sie ist nicht ewig – das ist mein hoffnungsvolles Fazit aus dem Beitrag von Fabi Hoffmann (2024).

Literatur

Bee, Julia/ Hallmann, Lilli/ Klemstein, 
Franziska/ Noeske, Jannik (Hg.) (2024):
Auf dem Weg zum Erinnerungsort. 
Das Gebäude der NS Medizinbürokratie 
in Weimar. Weimar: Lucia.

Bauche, Manuela/ Marshall, Dana/ Strähle, Volker (2024): 

»Das Projekt Ihnestraße 22: Auf dem Weg zu einem Erinnerungsort zum Kaiser-Wilhelm Institut für Anthropo-logie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem«, in: Bee/ Hallmann/ Klemstein/ Noeske (Hg.), Auf dem Weg zum Erinnerungsort.
Das Gebäude 
der NS Medizinbürokratie in Weimar, 
Weimar: Lucia, 168–177.

Boukhris, Linda (2017): 

»The Black Paris project: the production and reception of a
counter-hegemonic tourism narrative in postcolonial Paris«,
in: Journal of Sustainable Tourism, 25:5, 684–702.

BUNDjugend (2021): 
Kolonialismus und Klimakrise.

Über 500 Jahre Widerstand. Climate Trace: https://climatetrace.org

Eckert, Lena/ Martin, Silke (2019): 
»Habitussensible Lehre in den
Kultur- wissenschaften. Praxishandbuch Habitussensibilität und Diversität in der Hochschullehre«,
in: Kergel/ Heidkamp (Hg.), Wiesbaden: Springer, 275–291.

Environmental Justice Atlas: https://ejatlas.org/

Engelberg-Dočkal, Eva (2019):

»Klassikerstadt!«, in: Engelberg-Dočkal/Trepte (Hg.), Stadtbilder Weimar.

Städtische Ensembles und ihre Inszenie-rungen nach der politischen Wende,
Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books.

Erkmen, Esma/Derinalp, Yesim (2024):

»Studentische Mobilität. Siegen, Mobilität und Klassismus«,
in: Decarbonize Siegen Blog, im Erscheinen.

Gerner, Denis/Staudigel, Ylva (2024):

»Diskursgarten«, in: Decarbonize Siegen Blog, im Erscheinen.

Hoffman, Fabi (2024):

»Siegens Transformation zur Autostadt 
in der Nachkriegszeit des Zweiten 
Weltkriegs«,
in: Decarbonize Siegen Blog, im Erscheinen.

Liboiron, Max (2021): 

Pollution is Colonialism, 
Durham: Duke UP.

Norkeit, Felix (2024):

»Barrierefreiheit für alle! 
Wie blindenfreundlich ist Siegen?«,
in: Decarbonize Siegen Blog, im Erscheinen.

Orangotango: 
Critical Mapping, https://orangotango.info/critical-mapping/

Oreskes, Naomi/ Conway, Erik M. (2010):
Merchants of Doubt: How a Handful of Scientists Obscured the Truth on
Issues from Tobacco Smoke to Global Warming, New York: Bloomsbury.

Pohl, Dennis (2023):

Building Carbon Europe. 
London: Sternberg Press.

Reifenrath, Michael (2024):

»Attitude Behavour Gap in der 
nachhaltigen Modeindustrie«, in: 
Decarbonize Siegen Blog, im Erscheinen.

Sheller, Mimi (2018): 

Mobility Justice. The Politics of Movement in an Age of Extremes, London/New York: Verso.

Supran, Geoffrey/Oreskes, Naomi/Rahmstorf, Stefan (2023):

»Assessing ExxonMobil’s global warming projections«, in: Science 379, 153.

Tatu Hey, Lisa/Ituen, Imeh (2021): 

Der Elefant im Raum, Umweltrassismus in Deutschland. Studien,
Leerstellen und ihre Relevanz für Klima- und Umweltgerechtigkeit,
Heinrich Böll Stiftung,
https://www.boell.de/de/2021/1....

Trzeciak, Miriam Friz (2020):

»Multidirektionale Formen des Erinnerns und Vergessens.
Das Beispiel einer postkolonialen und postsozialistischen Stadtführung«,
in: Gesellschaft – 
Individuum – Sozialisation (GISo). 
Zeitschrift für Sozialisationsforschung, 1 (2).

Uekötter, Frank (2014):

Ökologische Erinnerungsorte, 
Göttingen: V&R.

van der Heyden, Ulrich/ 
Zeller, Joachim (Hg.) (2008):

Kolonialismus hierzulande, 
eine Spurensuche in Deutschland, 
Sutton: Erfurt.

Walzer, Dorothea (2024):

»How to Self-publish in Student-Writing? Selbstpublizieren im Theorie-Praxistest«,
in: Experimente lernen, Techniken 
tauschen. Ein spekulatives Handbuch no2,

Berlin/Bochum: nocturne, im Erscheinen.

Wappelhorst, Annika (2022): 

Forging New Narrative Step by Step. 

Postcolonial and Decolonial City 
Walking Tours in Germany,
Masterarbeit 
Universität Jönköping.

Waporidis, Xenia (2024):

»Flinta Mobilität in Siegen«, in: 
Decarbonize Siegen Blog, im Erscheinen.

Streule, Monika/ Wildner, Kathrin (2022):
»Gemeinsam Karten lesen – kollektive Wissensproduktion in der Stadt-forschung«, in: Dammann/Michel (Hg.), Handbuch Kritisches Kartieren, 
Bielefeld: transcript, 125–138.

Zimmerer, Jürgen (Hg.) (2013):
Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, 

Bundeszentrale für Politische Bildung: Berlin.

Zwischenraum Kollektiv (Hg.) (2017): 

Decolonize the City! Zur Kolonialität 
der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven, Münster: Unrast Verlag.