HOW TO
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An Videoessay Seminaren (Baute 2014) können
am besten um die 15, maximal 20 studierende
teilnehmen.
Man braucht:
- einen Film als gemeinsame referenz und »untersuchungsgegenstand« des seminars
- einen raum zum Filmvorführen und -diskutieren
- Computer mit Digitalschnittsoftware
(bspw. Final cut, Premiere, Davinci resolve) - Tonaufnahmegeräte
- mindestens 20 Stunden Zeit – besser mehr –,
die auf zwei Seminarblöcke verteilt werden
(die jeweils zwei oder drei Tage dauern)
Die aufgaben der lehrkraft ändern sich im rahmen
dieser seminare mehrfach.
- Anfänglich ist recht viel vorbereitend zu bereden,
z. B. mögliche Formen audiovisueller Essays, zu denen
Referenzen gezeigt werden können (bspw. Videoes-
says, die in vorangegangenen Seminaren mit ähnlichen
Rahmenbedingungen entstanden sind). - Dann muss der zu analysierende Film geschaut
werden. - Danach – mittels der Vorführung einzelner
Sequenzen, von Schnitten, Einstellungen, Einzel-
bildern dieses Films – so genau wie möglich über
das Gesehene sprechen. - Aus diesem Sprechen, das schonmal ein, zwei
oder drei Tage dauern kann, formen sich dann nach
und nach mögliche Themen für Essays. - Diese Essaythemen ordnen wir Produktions-
gruppen zu. Eine Produktionsgruppe umfasst
mindestens zwei und maximal drei Leute.
Das zusammengenommen ist der erste Block
eines solchen Seminars. Dabei hat es eher noch
›theoretisch‹ zuzugehen, es handelt sich um das
Formulieren von Absichten.
Bestenfalls liegen dann zwei oder drei Wochen,
aber nicht viel mehr, zwischen oben skizziertem
ersten und dem zweiten Block. in dieser Zwischen-
zeit müssen die Produktionsgruppen ihre Arbeit
konzeptuell und organisatorisch weiter vorbereiten.
Im zweiten Teil des Seminars wird es dann
›praktischer‹.
- Die Lehrkraft begleitet die Prozesse der Montage,
also den Rohschnitt, der sich peu à peu verfeinert.
Dieser Rohschnitt (der sich ausschließlich aus
Material des behandelten Films speist) ist zunächst
am ehesten als »Stoffsammlung« zu beschreiben.Die Gruppen wählen grob und blockhaft Ausschnitte aus dem Film aus; legen Kataloge spezifischer Motive an; indizieren rekurrierende Ton- und Bildverfahren, Schnittbesonderheiten; und so weiter. - Der Montageprozess hat dann nach und nach immer
raffinierter zu werden, einerseits auf der ebene der
Bildmontage, vor allem aber durch die anderweitige
erschließung der Bilder durch einen selbstverfassten
und -eingesprochenen Kommentartext. Die Lehrkraft
ist dabei dafür da, die Gruppenprozesse zu begleiten
und mit hinweisen hilfreich zu sein: Bei der struktu-
rierung der sich herauskristallisierten Beobachtungen,
der Argumente, der Konzeption, Verfassung, Aufnah-
me und Montage der Kommentartexte. - Außerdem obliegt es der Lehrkraft, Feedback durch
andere Gruppen zu provozieren, die ja zeitgleich
mit ähnlichen Prozessen und deren Problemen zu
tun haben.
Am Ende des zweiten Blocks sind die Videoessays längst nicht fertig.
- Nach der offiziellen, gemeinsam verbrachten Seminar-
zeit arbeiten die Studierenden bis zum Ende des
Semesters an ihren Videoessays weiter. Bei Bedarf
erhalten sie währenddessen Kommentare von der
Lehrkraft. - Schön, aber nicht immer möglich, ist, wenn es sich
schließlich ergibt, die fertiggewordenen Videoessays
(und den Film, von dem sie handeln) gemeinsam
und mit interessiertem Publikum anzuschauen und zu diskutieren; in einem Kino vor Ort z. B., so dass
die Arbeiten nach außen geraten.
aber leider haben Unis nur manchmal Geld dafür.
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[ Michael Baute ] Lass uns konkret von diesem Seminar
ausgehen, das du gemacht hast, über Farocki. Das ist ein
Seminar an der HU-Berlin, ein Bachelorseminar.
[ Katja Kynast ] Ja, es war ein Bachelorseminar, das ich
im Wintersemester 2014/15 am Institut für Kulturwis-
senschaft gegeben habe, wo ich wissenschaftliche Mit-
arbeiterin war. Ich hatte in den vorigen Semestern einige
Seminare im Bereich der Kultur- und Wissensgeschich-
te gegeben und hatte Lust, dieses Mal etwas zu einem*r
zeitgenössischen Künstler*in zu machen. Im Hambur-
ger Bahnhof war zu der Zeit Harun Farockis Installati-
on Ernste Spiele ↗ Harun Farocki: Ernste Spiele, 06.02.2014 bis 18.01.2015,
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin. ↙ zu sehen, die ich
mir, auch zur Vorbereitung, angesehen habe. An dem
Vormittag hat Farocki dort gerade mit einer Gruppe jun-
ger Leute, Studierende wahrscheinlich, einen Work-
shop gegeben. Im Vorlesungsverzeichnis hatte ich auch
einen Ausstellungbesuch angekündigt und ich dachte
daran, Farocki zu einem Gespräch ins Seminar einzu-
laden. Im Sommer 2014 ist Farocki unerwartet verstor-
ben und das war erst einmal ein Schock. Ich erwähne
das in diesem Kontext vor allem, weil dies das Semi-
nar sicher verändert hat, anders grundiert hat, und vor
allem auch die Studierenden im Umgang mit dem Werk
beeinflusst hat.
Das Seminar habe ich »Harun Farocki – Filme,
Installationen, Kontexte« genannt. Es hätte aber auch
»Harun Farocki – Filme und Texte« heißen können,
denn wir haben uns eigentlich in jeder Sitzung
sowohl mit Farockis filmischen / künstlerischen
Arbeiten beschäftigt als auch mit seinen Texten: als
Autor der Filmkritik sowie vieler autobiographischer und
filmtheoretischer Texte (Farocki 1998, 2001, 2011).
Wir haben zum Beispiel auch jede Sitzung damit
begonnen, dass wir uns aus Farockis autobiographi-
schem Text Rote Berta Geht Ohne Liebe Wandern (Farocki
2009) vorgelesen haben; jeweils eine Passage, die den
Zeitraum des aktuell von uns bearbeiteten Werkes
umfasst. Ich mag die Texte aus der Roten Berta sehr
und die Studierenden konnten ihnen, meine ich, auch
viel abgewinnen. Aber ich vermute auch, dass sie das
Vorlesenlassen immer auch als Disziplinierung ver-
standen haben; da kommen ja Erinnerungen an die
Schulzeit hoch. Und es ist tatsächlich ein zweifelhaftes
Exerzitium, ein Seminar, das sich ja im Gegensatz zur
Vorlesung durch eine kritische Diskussionskultur und
interaktive Gestaltung auszeichnet, mit der ›Stimme
des Meisters’ zu beginnen. Aber die Texte sind einfach
so toll, eröffnen unmittelbar den zeithistorischen Kon-
text, die Produktionsbedingungen und ein reflexives
Verhältnis zur jeweiligen Arbeit, dass ich das trotzdem
durchziehen wollte.
Einige rote Fäden des Seminars haben sich dann
erst im Laufe des Semesters durch die gemeinsamen
Text- und vor allem Filmlektüren herauskristallisiert.
Man hängt oft bestimmten Ideen in der Vorbereitung
nach, aber im Seminar stellt sich dann heraus, dass
sie zum Beispiel zu abstrakt waren und am Kern vor-
beigehen. Viele methodisch-theoretische und auch
thematische Bezüge bilden sich erst im Seminar und
natürlich durch die Interessen, Vorkenntnisse und
Fragen der Studierenden heraus, das ist oft meine
Erfahrung gewesen.
Im Prinzip haben wir Farockis Werk als Fundus
genutzt, sowohl was die Theorien angeht als auch das
Material und die Methoden, die, wie ich finde, in der
theoretisch-methodischen Offenheit bei einer gleich-
zeitigen Präzision in der Beschreibung und der Analyse,
der kulturwissenschaftlichen Herangehens-
weise sehr entspricht.
Das Seminar behandelte also sowohl Harun
Farocki, beziehungsweise dessen Werk, als auch The-
men, Konstellationen, die er (filmisch) erforscht. Wir
haben uns an manchen Tagen mehr mit seiner Film-
ästhetik beschäftigt, etwa mit Fragen der Text-Bild-
Montage oder dem Prinzip der »Minimalen Variation«
(Farocki 1969: 10–11) und an anderen haben wir
Farockisfilmische)ForschungenzubestimmtenThemen
und Gegenstandsbereichen weitergetrieben. So haben
wir uns beispielsweise im Anschluss an die Exkur-
sion im Hamburger Bahnhof mit Überwachungs- und
Kriegstechnologien beschäftigt oder nach Sichtung des
kürzeren Films Der Ausdruck der Hände (Harun Farocki,
D 1997) philosophische und kulturwissenschaftliche
Ansätze zur »denkenden Hand«, zur »Zuhandenheit«
und zu Taktilität und Taylorismus diskutiert. Farocki
hat sich hier, sowohl in methodisch-theoretischer Hin-
sicht als auch was das thematische Feld betrifft und wie
es abgesteckt wird, als sehr produktiver Autor für ein
kulturwissenschaftliches Seminar erwiesen.
Ich habe dabei auch wiederholt die Erfahrung
gemacht, dass es die Seminarsituation und die Diskus-
sionen verändert, wenn statt eines Textes ein Film dis-
kutiert wird. Mir fällt es viel leichter mit einem Film eine
Seminarsituation – im Gegensatz zur Vorlesung oder
Methodenübung – herzustellen und wirklich gemein-
sam zu diskutieren und sich darin zu üben. Es reichen
nach meiner Erfahrung übrigens auch schon Bilder, es
muss nicht Film sein.
Die Frage, die sich dann daran anschließt, ist,
was sind interessante Weisen von Lektüre? Und wie
kommt man zu diesen? Es stand ganz klar die Frage
im Raum, wie die Studierenden auch noch auf andere
Weise anknüpfen wollen und können als in Form eines
Referats oder einer Hausarbeit und sehr schnell habe
ich dann an deine Arbeit mit Studierenden gedacht und
dich dann ja auch ins Seminar eingeladen.
Multimediale Präsentationen
[ M. B. ] Gibt es institutionelle und formale
Rahmenbedingungen für solche ›anderen Weisen der
Lektüre‹?
[ K. K. ] Bei den Praktiken, die wir hier besprechen, sind
an einer Institution wie der Universität generell und ver-
schärft bei dem Pensum, das die Studierenden in ihrem
Bologna-beschleunigten Studium (Horst et al. 2013)
absolvieren müssen, die formalen Voraussetzungen von
Bedeutung. Das Farocki-Seminar fand im Vertiefungs-
modul »Episteme – Strukturen – Medien« statt und es
war zu erwarten, dass einige Studierende eine Modulab-
schlussprüfung (MAP) ablegen wollen. MAPs sind meist
Hausarbeiten, Referate mit Verschriftlichung, mündli-
che Prüfungen oder Klausuren. Die Prüfungsordnung
der Humboldt-Universität sieht aber auch sogenannte
multimediale Prüfungen vor.
Dies ist in der fächerübergreifenden Satzung (ZSP-
HU) geregelt. § 96 definiert multimediale Prüfungen als
»Prüfungen, in denen innerhalb einer bestimmten Bear-
beitungszeit ein Thema selbständig aufbereitet und
unter Nutzung unterschiedlicher Medien auf wissen-
schaftlichem Niveau präsentiert wird« (Obergfell 2017)
und lässt also einiges an Interpretationsspielraum.
Auf die Kriterien für »wissenschaftliches Niveau«,
also die Frage, wie multimediale Präsentationen, in
unserem Fall also Videoessays, bewertet werden, kom-
men wir ja noch zu sprechen. Interessant finde ich hier
schon einmal die Formulierung, dass das Thema auf
wissenschaftlichem Niveau ›präsentiert‹ werden muss,
was ja bedeutet, dass die Art der Präsentation selbst,
also ästhetische Kriterien, in die Bewertung einfließen.
Vielleicht überinterpretiere ich da und es ist auch sicher
sinnvoller, sich hier die (Bewertungs-)Praxis anzusehen.
[ M. B. ] Du benutzt die Prüfungsform »multimediale
Präsentation« auch bei anderen Seminaren?
[ K. K. ] Ja. Welche Prüfungsformen im Seminar
möglich sind, entscheidet der / die Dozent*in
und muss dies an das Prüfungsbüro melden. Ich habe,
wenn ich mich richtig erinnere, eigentlich immer auch
multimediale Prüfungen erlaubt. Meist haben nur ein
oder zwei Studierende davon Gebrauch gemacht, unter
anderem sicher auch, weil die fachspezifische Prü-
fungsordnung festlegt, dass mindestens drei MAPs im
Bachelorstudium Hausarbeiten sein müssen. Die Kul-
turwissenschaft ist eben bei aller Hinwendung zu Prak-
tiken, Techniken usw. eine textbasierte Wissenschaft
und die grundständige Lehre soll die Studierenden
dahingehend befähigen. Dies gilt in besonderem Maße
für die auf Kulturgeschichte und –theorie fokussierte
Berliner Kulturwissenschaft.
Es war auch so, dass die filmischen Präsentati-
onen oder Videoessays, die ich in vorigen Seminaren
bekommen habe, vom Niveau sehr schwankten. Die Stu-
dierenden wurden und werden nicht in diesem Medium
ausgebildet und in meinen anderen Seminaren wurden
auch auf der theoretischen Ebene nicht so intensiv film-
ästhetische Fragen diskutiert, wie in dem Seminar zu
Farocki. Ich habe auch in vorherigen Seminaren, in
denen multimediale Präsentationen entworfen wurden,
die Studierenden bei der Arbeit beraten und unterstützt,
soweit es mir möglich war, aber die Voraussetzungen
für eine intensive Betreuung waren nicht gegeben. Und
als sich abzeichnete, dass in dem Farocki-Seminar viel
mehr Studierende eine multimediale Prüfung, wir nen-
nen es ab jetzt vielleicht Essayfilm, als Form wählen
wollen, war es mir wichtig, der Arbeit an den Filmen hier
auch den nötigen Rahmen geben zu können.
Essayfilm
[ M. B. ] Da kam dann ich mit meinen Anschlüssen an den
»Essayfilm« ins Spiel. Ich kann, bezogen auf diesen ›nöti-
gen Rahmen‹, vielleicht kurz einen Aspekt hervorheben,
der mich interessiert: Der Essayfilm scheint mir inner-
halb der Geschichte des filmischen Mediums auf einen
Bedarf zu reagieren, nämlich dass im Film Material in
Formen zu bringen sein müsste, die auf Einheit-
lichkeit oder Angleichung nicht soviel Wert legen
(Einheitlichkeit und Angleichungen, die beispielsweise
durch Genrevorgaben vorgesehen sind). Es wäre für
unser Gespräch nicht zielführend, nun die Geschichte
und Theorie von Essayfilmen anzubringen. Erwähnens-
wert scheint mir, das häufige Vorkommen von (eigenen
und fremden) Zitaten, in beispielsweise Filmen von
Chris Marker / Agnès Varda, von Godard, oder auch von
Farocki, Autor*innen also, deren Arbeiten oft als prä-
gend für den Essayfilm angesehen werden. Dieses Vor-
kommen von Zitaten im Essayfilm ist ja anschließbar an
Fragen ›wissenschaftlichen Arbeitens‹: mittels Zitaten
werden auch dort unterschiedliche Quellen miteinander
in einen Austausch gebracht. Und im besten Fall stellt
dieser Austausch mittels der – hier dann: essayisti-
schen, also ›testenden‹, ›ausprobierenden‹ – Verbindun-
gen etwas über die Summe der Zitate Hinausgehendes
her. Und noch besser wird es dann, wenn innerhalb die-
ses Prozesses die unterschiedliche Herkunft und Mate-
rialität der Zitate nicht vom Begehren nach einer allum-
fassenden Synthese eingeebnet werden.
[ K. K. ] Es gibt ja auch am Institut für Kulturwissenschaft
eine Tradition mit Filmessays zu arbeiten. Diese Tradi-
tion ist vor allem mit dem Namen Christina von Braun
verknüpft, die als Filmemacherin und Kulturwissen-
schaftlerin 1994 auf den Lehrstuhl für Kulturtheorie
berufen wurde. Sie hat viele Seminare gegeben, in
denen Studierende Filme erarbeitet haben. Diese wur-
den durch Tutorien begleitet, in denen das technische
Know-How vermittelt wurde. Über ehemalige Studie-
rende und Mitarbeiter*innen von ihr, hatte sich diese
Tradition immer ein wenig fortgesetzt, wenn auch nicht
in gleicher Form und Intensität.
Kriterien multimedialer Präsentationen
[ M. B. ] Kaum eine*r ist ja als Dozent*in ausgebildet, sol-
che Produktionsformen zu begleiten – redaktionell,
editorisch– und sie dann später auch noch zu bewerten.
Gibt es da über die Tradition von Christina von
Braun eine Art Rahmen? Vorgaben, wie kul-
turwissenschaftlich-multimediale Präsentationen, zu
denen auch Videoessays gehören könnten, auszusehen
haben? Länge? Wie viel Zitat? Wie viel Selbstgedrehtes?
Wie viel Vorgefundenes? Gibt es sowas?
[ K. K. ] Das ist natürlich ein wichtiger Punkt und auch
eine Frage, die immer wieder im Kollegium diskutiert
wurde. Wie bewerten wir Arbeiten, die nicht textbasiert
sind? Über die Bewertungskriterien für Hausarbeiten
können sich Geisteswissenschaftler*innen leichter ver-
ständigen und sie werden auch transparent gemacht,
beziehungsweise ebenfalls in Tutorien vermittelt. In
Hausarbeiten wird beispielsweise geprüft, ob der for-
male Aufbau (Gliederung, Inhaltsverzeichnis usw.)
stimmt, ob korrekt zitiert wurde, die Originalität der
These beziehungsweise Fragestellung und Schlüssig-
keit der Argumentation werden bewertet, und natürlich
die Wissenschaftlichkeit der Argumentation (Belegbar-
keit der Thesen, verwendete Quellen und Literatur) usw.
Wie lässt sich das auf eine multimediale Prüfung
übertragen? Beziehungsweise müssen wir erst einmal
die Frage stellen, was wir übertragen wollen und wel-
ches Wissen, welche Fertigkeiten die Studierenden in
einer multimedialen Prüfung anwenden und zeigen
sollen. Die Kriterien wurden und werden immer wieder
unter Kolleg*innen diskutiert. Ästhetische Entschei-
dungen, die künstlerische Umsetzung des Projekts sind
hier sicher wichtig, aber vor allem geht es darum, zur
Reflexion ästhetischer Entscheidungen zu befähigen. In
der Kulturwissenschaft wird es deshalb so gehandhabt,
dass zu jeder multimedialen Prüfung auch ein schrift-
licher Teil gehört, in dem die thematischen und ästhe-
tischen Entscheidungen des praktischen Teils kritisch
analysiert, kontextualisiert und reflektiert werden.
Autor*innenschaft
[ M. B. ] Weil ich meist außerhalb des universitären
Betriebs arbeite, ist deine Frage nach den Kriterien im
Abgleich mit der üblichen Unipraxis für mich nicht
leicht zu beantworten. Ich habe keine Erfahrung,
wie Arbeiten normalerweise beurteilt werden. Mich
interessieren Lektüren und ihre Artikulationen und zu
deren Beurteilung nutzte ich ein pragmatisches Kriteri-
um, das ich »Stimmigkeit« nenne. Mir geht es dabei um
den Prozess des Aneignens von Genauigkeit und Vielfäl-
tigkeit im Betrachten und dessen Bedenken, also um die
Validität der Lektüren. Für die Beurteilung beobachte
ich also die Rezeption und die daraus entstehenden Lek-
türen, und frage mich, ob die Quellen (in meinem Fall
meist Filme) reich und vielfältig und genau angeschaut
werden. Was sich für mich durch eine Autor*innenschaft
ausdrückt, die so gestaltet sein und wirken soll, dass sie
als Reflexion der Lektüre den Transfer in eine andere
Form organisiert. Ich frage mich also zweitens, ob die
Lektüre mittels einer adressierbaren Autor*innenschaft
plausibel und »stimmig« gemacht wurde.
Was meine ich mit der »Verbindung von Lektüre
und Autor*innenschaft«? Die Lektüre ist für mich noch
keine Autor*innenschaft. Lektüre kann ja ohne ihre
Artikulation bestehen. Ich kann sagen: Ich bin Leser*in
und kann das auch sein, ohne das Lesen in eine artiku-
lierte Form zu bringen. Sobald das Rezipieren kommu-
niziert wird, fängt Autor*innenschaft an. Teilnehmende
stellen ihre Lektüre vor und sind dann verantwortlich
dafür, dass diese kritisierbar oder revidierbar ist.
In den Videoessay-Seminaren, die ich an Unis,
Kunst- und Filmschulen mache, nutze ich dieses
Verständnis von Lektüre und Artikulation als Auf-
forderung, experimentell am Formulieren eigener
Autor*innenstimmen zu arbeiten. Man muss nicht viel
mehr mitbringen als eine Neigung dafür, ein zu entfa-
chendes Autor*innenschafts-Begehren, das Interesse,
eine ›Stimme‹ zu entwickeln.
Daraus leite ich für mich schließlich dieses viel-
leicht »weich« nennbares Kriterium für die Beurteilung
ab: »Stimmigkeit«. Die Lektüreartikulation bekommt
innerhalb der Videoessay-Form Stimmigkeit mittels
gesprochener, den Bildern zugeordneter Kommentar-
sprache. Diese Kommentarsprache ist ein
Text, der mit dem Sichtbaren der Bilder kom-
munizieren muss. Die gleichzeitig ablaufenden Bilder
werden über die Augen, der kommentierende Text über
die Ohren aufgefasst (und hat deswegen eine material
andere Stimmigkeit als von mittels der Augen aufgefass-
te Texte). Das Resultat dieser zugegeben etwas schema-
tischen Differenz ist: Ich kann ganz einfach an der Time-
line des Films »stimmige« oder »weniger stimmige«
Passagen ausmachen und deren Verteilung in meine
Beurteilung einfließen lassen. »Gut« und »stimmig« ist,
wenn ablaufendes Bild und ablaufender Text eine sinn-
hafte Verbindung eingehen; weniger gut und stimmig ist,
wenn das nicht passiert.
Workshop
[ K. K. ] Deshalb hat mich der Workshop auch so nachhal-
tig beeindruckt. Ich hatte dich eingeladen, weil du sehr
viel Erfahrung in Videoessay-Seminaren hast, dich mit
Harun Farockis Werk sehr gut auskennst. Aber letztlich
war dieses Denken outside the box, dass du eben zum
Beispiel auch mit ganz anderen Kriterien an so eine
›MAP‹ rangehst, unglaublich produktiv.
[ M. B. ] Meine Funktion in deinem Seminar war zunächst
ja nicht auf die Konzeption von Videoessays ausgerich-
tet. Ich war als Fachmann für Farocki eingeladen, weil
ich bei einigen seiner Filme und Kunstprojekte mitge-
arbeitet hatte. Ich sollte einerseits darüber berichten,
andererseits über Farockis Zusammenarbeiten mit
dem Spielfilmregisseur Christian Petzold und schließ-
lich über ein Kulturprojekt ↗ »Kunst der Vermittlung – Aus den
Archiven des Filmvermittelnden Films« (http://kunst-der-vermittlung.d...), letzter
Zugriff 18. September 2019. ↙ , das Volker Pantenburg, Stefanie
Schlüter, Stefan Pethke, Erik Stein und ich (unter ande-
rem anschließend an Farockis audiovisuelle Werke zur
Filmgeschichte) durchgeführt hatten. Im Anschluss an
meine Präsentation haben dann einige der Studieren-
den Interesse gezeigt, ihre Seminararbeiten als Film
bzw. Videoessay zu gestalten, also als multimediale
Präsentationen. Auf dieses Interesse antwor-
tend, haben wir dann am Ende des Semesters
einen kurzen Workshop gegeben, bei dem wir – ich ein
bisschen wie ein Redakteur – die Konzepte der Studie-
renden diskutiert haben. Dieser Workshop war zeitlich
allerdings nicht so ausgreifend wie bei den Videoessay-
Seminaren, die ich sonst mache (siehe das how to oben);
ich glaube, wir hatten einen halben Tag Zeit, die Projek-
te zu besprechen. Und danach haben die Studierenden
alleine daran weitergearbeitet.
[ K. K. ] Es sind in den Workshops mit dir, die an das
Farocki-Seminar anschlossen, ganz beeindrucken-
de, auch überraschende, Filme entstanden. Die Filme
nehmen sehr unterschiedlich formal und / oder inhalt-
lich auf Farockis Arbeiten oder das Seminar Bezug und
unternehmen davon ausgehend eigene bildliche und
theoretische oder auch bildtheoretische Forschun-
gen. Bei den meisten Arbeiten, vielleicht bei allen,
würde ich sagen, dass dort geforscht wurde, dass sich
Autor*innenschaft formulierte.
Gemeinsam ist allen hier entstandenen Filmen,
ohne dass wir das als Kriterium vorgegeben hätten,
dass sie sich intensiv und auf politische Weise mit Blick-
dramaturgien, Blickregimen und Fragen der Wahrneh-
mung beschäftigen.
Schaulust von Sophie Habeck zum Beispiel arbeitet
zu einer Sequenz aus der Fernsehsendung Wetten Dass
vom Dezember 2010. Eine Sequenz, die beginnt, als der
Wettkandidat Samuel Koch vorgestellt wird und die mit
dem Abbruch der Sendung endet. Schaulust analysiert
mittels Voice-Over die Kameraführung und Montage,
die Wahl des Ausschnitts, Narrative, die in der Prä-
sentation der Figuren (Mutter, Vater, die ›Ersatzeltern‹
Thomas Gottschalk und Michelle Hunziker), enthalten
sind, den Einsatz von Musik, die Dramaturgie des Spek-
takels. Der Videoessay fokussiert den Moment, in dem,
ausgelöst durch den Unfall von Samuel Koch, die Insze-
nierung des Spektakels das Skript verlässt, während die
Routinen der ›Schaulust‹ unter anderen Vor-
zeichen weiterarbeiten.
[ M. B. ] Es gibt in dem Film die konzeptionelle Entschei-
dung für das Durchlaufenlassen der behandelten
Sequenz in Echtzeit (was den Film auch entsprechend
lang macht: 20 Minuten 54 Sekunden). Als Zuschauer*in
ist man also die ganze Zeit orientiert, am Zitierten. Die-
se permanente Anwesenheit des Behandelten wäre in
einem ›reinen Text‹ kompliziert zu bewerkstelligen. Nur
bei einigen Momenten wird diese Sequenz angehalten
und das Bild eingefroren, um Akzente zu setzen. Doch
meist lagert sich der lakonische, distanziert Beobach-
tungen artikulierende Kommentar ganz unaufdringlich
an die Bilder an.
Dieses Verfahren erzeugt bei mir einen
»Autor*innenschaftseffekt«. Es wird ein Verfahren
gefunden, parallel zur Ausbreitung des Materials eine
adressierbare, kommentierende ›Stimme‹ zu gene-
rieren, eine Stimme, die sich die ganze Zeit über dem
Stress aussetzt, in einem überprüfbaren Verhältnis zum
Behandelten agieren zu müssen.
[ K. K. ] Ich erinnere mich außerdem an Kneel von Richard
Gersch und Jamie MacDonald, der ausgehend von
Harun Farockis Schöpfer der Einkaufswelten (Harun
Farocki, D 2001) die Lenkung von Blicken und Körpern
thematisiert und mit Choreographien und Gestiken, die
aus einem religiösen Kontext stammen, assoziiert.
Eine andere Arbeit von Jasmin Astaki-Bardeh hat
sich mit der Ästhetik in den Selbst-Darstellungen von
Social-Freezing-Unternehmen beschäftigt. Hier war
der Textanteil verhältnismäßig umfangreicher, weil die
filmischen Arbeiten Teil eines größer angelegten Pro-
jekts sind.
Ein Videoessay mit dem Titel gan/z/erstückelt von
Johanna Tirnthal beschäftigte sich mit Bildverhältnis-
sen und dabei vor allem mit Montage als Ideologie sowie
als Form der Ideologie- und Gesellschaftskritik. Film-
historische und montagetheoretische Analysen waren
dabei in einem selbstgesprochenen Kommentar
über das montierte Footage-Material gelegt.
Eine weitere Arbeit mit dem Titel Perspektivwechsel von Gia
Lisitano fragte nach dem Zusammenhang von Darstel-
lungstraditionen und gesellschaftlichen Strukturen
beziehungsweise Machtverhältnissen. Das macht sie,
indem sie den Zugriff auf Bilder thematisiert, wie sie von
Suchmaschinen und kunstgeschichtlichen Traditionen
vorgegeben sind. Man sieht, typisches Farocki-Motiv,
die Arbeit an einem Monitor.
[ M. B. ] Ich erinnere mich auch noch an Augmented Percep-
tion von Celine Jünger. Das Thema des Films ist schon
im Titel adressiert. Der Untertitel des 7 Minuten langen
Videos ist: »mit Farocki denken«. Der Film nutzt Topoi,
Motive und Verfahren aus Farockis Werk.
In der ersten Einstellung sieht man einen Schreib-
tisch, an den die Protagonistin tritt. Dann Schnitt: Eine
nahe Einstellung über die Schulter der Protagonistin. In
ihrer linken Hand hält sie einen schwarzen Filzstift, mit
dem sie auf ihren rechten Zeigefinger das Wort »Digitus«
schreibt. Dazu hört man einen von ihr aus dem Off einge-
sprochenen Text: »Meine Finger fungieren als Vermitt-
ler zwischen mir und meiner digitalen Umwelt. ›Digitus‹
ist Lateinisch für ›Finger‹. Das abgeleitete Adjektiv ›digi-
talis‹ bedeutet ›den Finger betreffend‹. Durch die neue
Technologie ist eine neue, allgemeingültige Sprache von
kommunikativen Gesten entstanden. Auch sie ist, wie
jede menschliche Arbeit, auf eine sehr geringe Anzahl
von Grundbewegungen aufgebaut, wie Hinlangen,
Greifen, Bringen.«
Während wir den letzten Satz hören, gibt es einen
zweiten Schnitt auf die dritte Einstellung des Films. Man
sieht nun nicht-selbstgedrehtes Material: Eine in meh-
rere kleine Bildkader aufgeteilte Zusammenstellung von
»Touch Gestures«, mit denen man mittels Gesten der
Finger bei Smartphones oder Computern Funktionen
ausführen kann (Scrollen, Zoomen usw.).
In diesen ersten drei Bildern etabliert Jüngers
Essay ihr Verfahren und ihre ›Autorinnen-Stimme‹. Der
Film agiert mit selbstgedrehtem und mit im
Internet vorgefundenem Material und wird
später auch ein Verfahren etablieren, bei dem er (mit-
tels Split-Screen) diese beiden Ebenen miteinander ver-
schaltet, ihre Gleichzeitigkeit, Co-Präsenz vermittelt.
Grob gesagt, handelt der Film von dieser Verschaltung –
des »Lebens« und dessen digitaler, computerisierter
Organisation.
Wir könnten nun noch lange über diese Arbeit
(und die anderen) sprechen, aber vermutlich uferte
der Text dann aus. Lass uns mit ein paar Ausschnitten
aus einem Text von Celine Jünger schließen, in dem sie
über das Seminar und ihre multimediale Präsentation
berichtet:
»Durch die Beschäftigung mit dem Werk von
Harun Farocki und dessen Rezeption entwickelten wir
im Seminar ein bestimmtes Verständnis des Bildli-
chen, welches dieses Werk durchdringt und erlernten
somit eine spezifische Perspektive auf unsere visuelle
Umwelt. Beispielsweise untersuchten wir Bilder nach
ihren (operativen) Funktionen und analysierten, von
welche Machtstrukturen sie durchzogen sind.
Im Seminar wurde uns aber nicht nur ein Verhält-
nis zum Werk von Harun Farocki vermittelt, sondern
auch ein Verständnis der filmischen Form als Medium
des Erkenntnisgewinns, der Forschung und Reflexion.
Dies wurde besonders durch die Möglichkeit verstärkt,
selber mit dieser Form arbeiten zu können.
Diese neue Perspektive veranlasste uns Fragen an
die Bilder zu stellen, die uns im Alltag begegneten und
ließen sie zum Ausgangsmaterial für eigene audiovisu-
elle Arbeiten werden.
Dass ich meinerseits nicht auf die schriftliche
Form beschränkt war, habe ich als besonders ergiebig
empfunden, da ich so das neu erlangte Verständnis
direkt in der eigenen Bildproduktion anwenden und
erproben konnte.
Die Form des Videoessays bot es an, durch die
Montage von Found Footage Material, Bilder in neue
Zusammenhänge zu stellen und somit eine Bedeutungs-
ebene zu schaffen, in der ich meine theoretischen
Überlegungen transportieren konnte.
Im Laufe des Semesters beschäftigten wir uns viel mit
Wahrnehmungsprozessen und so wurde die Reflexion
darüber, wie die Arbeit im Seminar meine eigene Wahr-
nehmung von Bildern verändert hat, selbst Bestandteil
meines Videoessays.
Es wurde mir ermöglicht, die Form des essayis-
tischen Films durch das eigene Anwenden einer freien,
assoziativen und subjektiven Arbeitsweise erfahren zu
können und somit ein sehr viel tieferes Verständnis von
dieser Gattung zu erlangen.
Ich habe es als sehr befreiend empfunden, das
Seminar mit einer Arbeit abzuschließen, die von der
Auseinandersetzung mit Farockis Werk inspiriert war,
ohne dass ich dabei eine, wie normalerweise von mir als
Studentin der Kulturwissenschaft gefordert, gewisse
objektive Haltung einnehmen musste, um meine Arbeit
in die wissenschaftliche Rezeption des behandelten
Werkes einzureihen.
Durch die freie Aufgabenstellung sah ich mich
selbst viel mehr als eine Autorin, der ein kreatives
Potenzial zugetraut wird.
Die im Seminar gelesenen Texte habe ich vielmehr
als Inspirationsquelle für eigene Gedanken wahrge-
nommen, als wie gewöhnlich als mögliche Textbelege,
mit denen ich meine Reflexionen stützen und wissen-
schaftlich rechtfertigen könnte.«
Literatur
Baute, Michael (2014):
»Über Video-Essay-Seminare«, in:
Zeitschrift für Medienwissenschaft 11,
S.193–196.
Farocki, Harun (2011):
Soft Montages. Weiche Montagen,
Yilmaz Dziweior / Kunsthaus Bregenz (Hg.),
Köln / Bregenz: Walther König.
Farocki, Harun (2009):
Rote Berta Geht Ohne Liebe Wandern,
Köln: Strzelecki Books.
Farocki, Harun (2001):
Nachdruck / Imprint. Texte / Writings,
Susanne Gaensheimer / Nikolas
Schafhausen (Hg.), Berlin: Vorwerk 8.
Farocki, Harun / Silverman, Kaja (1998):
Von Godard sprechen, Berlin: Vorwerk 8.
Farocki, Harun (1968):
»Minimale Variation, Semantische
Generalisation«, in: Film, vol. 7, 11,
S. 10–11.
Horst, Johanna Charlotte et al. / Unbedingte
Universitäten (Hg.) (2013):
Bologna-Bestiarium, Zürich / Berlin:
Diaphanes.
Obergfell, Eva Inés (Die Vizepräsidentin für
Lehre und Studium) (2017):
Fächerübergreifende Satzung zur Rege-
lung von Zulassung, Studium und Prüfung
der Humboldt-Universität zu Berlin
(ZSP-HU), Verkündungsstand: 01.07.2017
(Nichtamtliche Lesefassung).