Intro

Die Teilnehmenden werden mit verbundenen Augen, wie Bergsteiger:innen mit einem Seil durch einen Ort geführt. Die anleitende Person gibt Anweisungen, auf bestimmte sinnliche Eindrücke zu achten, hier zu tasten, zu riechen, vielleicht auf die Temperatur zu achten, etwas vorsichtig zu berühren, oder einfach darüber nachzudenken, welche Eindrücke sich gerade ergeben.

Diese Übung habe ich im Kontext der historisch-politischen Bildung entwickelt. Sie kann aber für verschiedene Kontexte angewendet werden. Letztlich ermöglicht sie einen sinnlich-kreativen Zugang zu einer Umgebung und begünstigt zugleich die Auseinandersetzung mit den eigenen Sinnen. Sie ist ein idealer Einstieg für ortsspezifisches Arbeiten.

Es gibt möglicherweise interessantere Ergebnisse, wenn die Teilnehmenden den entsprechenden Raum oder Ort zum ersten Mal auf diese Weise begehen.

Andererseits kann es natürlich das Wohlbefinden steigern, wenn die Teilnehmenden zumindest einmal einen Blick in den entsprechenden Raum werfen durften – schließlich sollen die Teilnehmenden den Raum mit verbundenen Augen erkunden.

Ziel ist es, Eindrücke zu generieren, aus denen Fragen an einen Ort abgeleitet werden können, oder die als Ausgangspunkt für kleine Inputs durch den:die anwesende:n Expert:in dienen.

Material

  • Schlafmasken / Augenbinden
  • Schnur / Seil, lang genug, sodass die Teilnehmenden sich daran festhalten können und vor und hinter sich etwa 1 m Schnur haben
  • Schreibmaterial
  • Ggf. gut aufbereitetes Infomaterial zum Ort
  • Ein:e Expert:in (durch den alternativen Zugang zum Ort, entstehen wahrscheinlich auch alternative Fragen, dann ist es gut, wenn eine Person diverses Wissen abrufen, oder mit komplexeren / unüblicheren Fragen umgehen kann)


Zeit

  • Variabel, je nach Ort, Gruppengröße, Tempo
  • Es sollte genügend Zeit zum Erkunden des Ortes gegeben werden 15–45 Minuten
  • Schreiben: 20–45 Minuten Vorlesen, gemeinsames Auswerten, aufkommende Fragen besprechen und Diskutieren: 45 Minuten

Ablauf

1. Die anleitende(n) Person(en) sollten eine Art Pfad oder Route durch den zu erkundenden Ort
vorbereiten. 
Gibt es Abschnitte, an denen etwas besonderes
ertastet werden kann?
Gibt es Hindernisse, die umgangen oder aus dem
Weg geräumt werden müssen?
Sind z. B. Geräusch- oder Geruchsquellen im Raum, die von etwas anderem ablenken könnten?
(nicht ausgeleerte Mülleimer, ein offenes Fenster,
ein Radio, eine Lüftung …)
Nicht alle Bedingungen müssen kontrolliert werden; im Zweifelsfall helfen manche Impulse, den Ort in der Gegenwart zu verorten. Außerdem haben Teilnehmende in der Auswertung z. T. Ideen, die nicht zu antizipieren sind. Unter Umständen kann ein nicht geleerter Mülleimer bspw. so stark riechen, dass der eigentliche Geruch des Raumes überdeckt wird und dadurch die Wahrnehmung desselben verändert.
Die anleitende:n Person:en hat:haben keine
Augenbinde auf.

2. Es sollte eine Atmosphäre geschaffen werden, in der sich die Teilnehmenden sicher fühlen. Das macht es leichter, sich auf die sinnlichen Eindrücke einzulassen und »in der Übung zu versinken«. Es macht also Sinn, wenn diese Methode nicht die erste in einem Workshop ist.

3. Vielleicht gibt es eine inhaltliche Einführung – das ermöglicht bewusstes Achten auf den ein oder anderen Impuls und regt die Wahrnehmung an. Andererseits kann es auch spannend sein, den Ort erstmal wirken zu lassen.
Falls eingeführt werden soll, können Fragen
beantwortet werden wie:
Wo genau gehen wir hin?
Wie wurde oder wird dieser Ort genutzt?
Gibt es irgendwas, worauf besonders geachtet
werden soll?
Gibt es Gefahren?

[…]

4. Die Teilnehmenden bekommen Augenbinden
ausgeteilt. Diese werden aufgesetzt, sobald sich alle »Zeitreisenden« entlang einer Schnur im Abstand von etwa 1 m aufgestellt haben. Die Reisegruppe hält sich an der Schnur oder dem Seil fest.

5. Nun wird die Gruppe langsam, geduldig und sicher
mit dem Seil zum Ziel geführt.
An Engpässen, Stufen oder niedrigen Passen sollte darauf geachtet werden, dass niemand sich stößt oder stolpert. Auf die großen, wie auch auf die kleineren Mitglieder der Gruppe achten (gibt es z. B. Menschen, die sich den Kopf stoßen könnten).

6. Angekommen am Ziel, kann zum Beispiel angesagt werden, dass die Gruppe für eine Minute still ist und auf den Raum hört. Es können aber auch Elemente ertastet werden, der Boden, die Wände, die Luft oder auch Objekte, die hier vorkommen.

7. Je nach Raum, kann die Gruppe auch für einen Moment »von der Leine« gelassen werden, also die Umgebung frei erkunden. Die anleitende:n Person:en sollten die Gruppe dabei gut im Blick haben und ggf. wieder auf den Pfad zurückführen oder vor Gefahren schützen.

8. Wenn jede Person genügend Zeit hatte, kann der Raum wieder geschlossen verlassen werden. Hier kann natürlich variiert werden. Es lohnt sich aber,
die Augenbinden länger aufzuhaben und wenn
alle ihre Augenbinden erst außerhalb des Raumes absetzen – den Raum mit sehenden Augen zu
betreten ist auch später noch möglich.

9. Die Gruppe verlässt den Raum geschlossen, mit
verbundenen Augen, geführt durch die Guides.
Es wird wieder auf Engpässe und gefährliche Stellen geachtet.

10. Im Workshopraum angekommen, dürfen die
Teilnehmenden die Augenbinden abnehmen. 

11. Die Eindrücke können nun schriftlich festgehalten werden.
Das kann vollkommen frei und in mehreren
Durchläufen geschehen.
Ich arbeite gerne mit dem »Automatischen Schreiben«; Hierbei schreibt die Gruppe, ohne durchzustreichen oder den Stift abzusetzen, für 10 Minuten (oder auch 5, oder auch 20 Minuten, je nach Alter und Gruppe) alle Eindrücke auf. Die Form ist dabei frei.
Eine andere Möglichkeit ist, freie Zeit zum Formulieren eigener Gedanken nach der Erfahrung zu geben.

12. Die Erfahrungen können nun vorgelesen werden. Aufgabe der Moderation ist es, aus dem Geschriebenen Fragen an den Ort abzuleiten, oder Themen herauszudestillieren, die mit dem:der Expert:in zu klären sind. 
Natürlich darf auch auf literarische Qualitäten der Texte eingegangen werden, im Zentrum stehen aber inhaltliche Fragen:
Was wurde wahrgenommen? 
Welche Gedanken entspinnen sich von hier aus? 
Welche Diskussionen lassen sich anhand dessen führen?

13. Je nach Vorgehen und Reihenfolge werden die gesammelten Gedanken nun sortiert, eingeordnet und diskutiert. Hier kann die Expertise der begleitenden Person vom Fach helfen, um zu ergänzen. Das kann auch methodisch gelöst werden. Wichtig ist, dass im Raum stehende Emotionen gehalten und aufgefangen werden. Diese können eine wichtige Verbindung zwischen dem Gefühlten und den zu vermittelnden Inhalten bilden. Ziel ist, eine Brücke zwischen der Lebensrealität der Teilnehmenden und dem begangenen Ort bzw. seiner Geschichte zu schlagen.


geführt
an gespannter schnur
durch eine überschriebene zeit


Diese Methode kombiniert verschiedene Ansätze meiner eigenen Praxis und Erfahrung als Workshopleiter in Bereichen der politischen und kulturellen Bildung, aber auch meine Praxis als Künstler.

Während meines Studiums an der Bauhaus-Universität Weimar hatte ich das Glück, in Seminaren von Astrid Drechsler und Simon Frisch zu studieren. Diese haben mit uns zur Schulung der (auditiven) Wahrnehmung im Kurs Wahrnehmen und Üben Hörspaziergänge gemacht, die z. T. auch mit verbundenen Augen stattfanden. Einen weiteren Einfluss stellt Pauline Oliveros dar, die mit ihrem »Deep Listening«-Ansatz ebenfalls einen Bezugspunkt bildet.

Jeglichen Klang – oder in diesem Kontext: jeglichen Reiz – gilt es bewusst wahr- und ernstzunehmen:

Welche Geschichten erzählen uns diese Eindrücke?

es hallt
es ist kalt
es bröckelt
es rieselt
was bleibt


Dazu kommt meine eigene Praxis als Schreibender, bzw. als Workshopleiter in diesem Bereich.

Meiner Erfahrung nach begünstigt das Schreiben über eine Erfahrung die bewusste Auseinandersetzung mit dieser, es ermöglicht ein Externalisieren und Darübersprechen.
Es sortiert Emotionen und macht sie im Kontext einer Diskussion oder eines Gesprächs vermittelbar.

die temperatur der vergangenheit 

reicht mir ungefragt die hand

sie versucht zu erzählen

Entstanden ist dieser Versuchsaufbau, wenn man es so
nennen will, 2021 in einem Workshop in der Gedenkstätte
Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock. Zur NS-Zeit kamen hier sowjetische Kriegsgefangene an. Sie waren dort inhaftiert und wurden für ihre Zwangsarbeitseinsätze auf den umliegenden Höfen ›vorbereitet‹. Das bedeutet: Wer hier nach langer Reise ausgehungert, häufig krank und geschwächt, ankam, wurde rasiert, mit Häftlingskleidung eingekleidet, vermessen, gewogen, geprüft, registriert und gewaschen. Ein wesentlicher Teil dieses Prozesses fand in der sogenannten ›Entlausung‹ statt und wird von Zeitzeug:innen häufig und größtenteils als demütigend beschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zur Nutzung als Gedenkort, wurde das Gelände auf unterschiedliche Weise genutzt, weshalb nicht mehr alle Spuren sichtbar sind. Was jedoch geblieben ist, ist die kalte und fabrikhallenähnliche Atmosphäre. 

Jana Otto, damals Praktikantin beim Westfalen-Blatt, nahm an dem Workshop Teil und hielt ihre Eindrücke aus dem Workshop fest:

»Es war eine sehr intensive Erfahrung. Man spürte sofort die beklemmende Kälte, den Geruch von altem, nassem Zement und die Dunkelheit, die von diesem Ort ausging«, sagte eine der Teilnehmerinnen. Zurück im Vorraum, wurden die Eindrücke und Empfindungen niedergeschrieben. Nach dem Ende der Schreibphase haben die Teilnehmer den Waschraum besichtigt und sich über die damaligen Verhältnisse ausgetauscht. Noch intensiver wurde es, als Oliver Nickel Fotos von Kriegsgefangenen und deren Umgebung zeigte. Jeder sollte sich ein Bild nehmen und versuchen, sich in die gezeigte Situation hineinzuversetzen. Die eigenen Gefühle und Eindrücke wurden aufgeschrieben. Danach schauten sich die Teilnehmerndie Ausstellung im Arrestgebäude an.« ↗ Zitat Jana Otto, Westfalen Blatt 18.11.2021 https://www.westfalen-blatt.de... zuletzt aufgerufen am 5.04.2024. ↙

Ein besonderes Augenmerk muss darauf gelegt werden, dass diese Methode zu Beobachtungen führt, die zum Teil schwer zu antizipieren sind. So hat es geholfen, dass der Historiker und Leiter der Gedenkstätte Stalag 326, Oliver Nickel, anwesend war. Dieser konnte Dank seines tiefen Wissens über den Ort flexibel auf die Beobachtungen der Gruppe reagieren. Immer wieder konnte er Berichte von Zeitzeug:innen einstreuen, die sehr eindrücklich beschreiben, wie sie damals in dem Lager ankamen und wie sie behandelt wurden. Auch konnte Oliver Nickel auf entsprechende Berichte aus dem Archiv verweisen bzw. hatte passendes Archivmaterial vorbereitet.

es braucht die augen eines

anderen menschen

um zu sehen

was geschah

Durch dieses geballte faktische Wissen konnten schwierige Momente gut aufgefangen werden. Wenn beispielsweise die Teilnehmenden anfingen zu mutmaßen – bis zu einem bestimmten Grad ist das im Rahmen der Übung vorgesehen, jedoch gilt es auch die Diskussion nicht ins vollkommen Spekulative abdriften zu lassen. Vielmehr sollen lineare Vorträge über die Geschichte(n) und Hintergründe eines Ortes durchbrochen werden und Teilnehmende dazu inspiriert werden, sich zu überlegen, was sie an diesem Ort interessiert; worüber sie gerne mehr erfahren würden, aber auch den Ort an sich aus sich selbst heraus zu begreifen.

In unserem Fall ließ sich anhand der Leere des Raumes viel über die Weiternutzung des Ortes nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen, aber auch über das, was von diesem Ort blieb und ihn bis heute auszeichnet: Die oben erwähnte Kälte.

entlaust
entmenscht
stacheldraht
eingegrenzt


Davon ausgehend, haben sich Gespräche über die Ankunft der Gefangenen entsponnen, die in der Anfangszeit des Lagers mehrere Kilometer vom Bahnhof Schloß Holte bis zum Stalag 326 durch Wind und Wetter laufen mussten und darüber, wie sie den Beginn ihrer Gefangenschaft wohl wahrgenommen haben:

Wie oben beschrieben, wurde das Entkleiden, Waschen und Rasieren vor den deutschen Soldaten als demütigend empfunden. Für andere stand in dem Moment im Vordergrund, irgendeine Form von Hygiene zu erfahren. Entscheidend ist: Was an diesem Ort passierte, vergessen die Teilnehmenden des Workshops nicht, ebenso wenig, was es bedeutete.

Ich bin überzeugt, dass sich auf diese Weise vermitteltes Wissen besser festigt, weil es sinnliche Eindrücke mit daraus entstehenden, eigenen Emotionen und belegten Informationen kombiniert. Es legt sich gewissermaßen eine Atmosphäre auf die Berichte von Zeitzeug:innen und Historiker:innen.

Nun ist es nicht immer möglich, so mit eine:r Expert:in zusammenzuarbeiten, wie ich es in diesem Fall tat. Wichtig ist vor allem ein Bewusstsein dafür, dass diese Methode spekulativ und experimentell ist und eine selbstbewusste, sensible und wache Moderation erfordert.

Einerseits sollen die Teilnehmenden motiviert werden, sich Gedanken zu machen, gleichzeitig muss aber auch ein respektvoller Umgang mit dem Ort geübt werden.

wie alt kann ein mensch
mit dieser geschichte werden
wie kann ein mensch mit diesen erinnerungen
wie alt werden
wie


Ebenfalls interessant war eine weiterführende Diskussion zur Frage nach der Aneignung von Perspektiven:

Inwiefern dürfen Schreibende sich die Perspektive einer betroffenen Person aneignen?

Für mich ist hierbei wichtig, wie mit entstandenen Texten umgegangen wird: 
Grundsätzlich ist alles Geschriebene, was durch und im Rahmen dieser Methode entsteht, erstmal eine Art Werkzeug zur Erlangung von Erkenntnis, ein Gesprächsanlass und ein Versuch, Emotionen zu externalisieren. Die Produktion eigenständiger Literatur ist eine ganz eigene Aufgabe, die meiner Erfahrung nach nicht im selben Kontext wie diese Übung stattfinden kann, weil beide Ziele im Zweifelsfall konkurrieren. Was nicht heißt, dass dies zwingend der Fall ist, jedoch habe ich in der Praxis selten erlebt, dass entsprechende – vor allem zeitliche – Voraussetzungen für ein Workshop-Angebot erfüllt worden sind, um gleichermaßen künstlerisch Relevantes zu erschaffen, wie auch eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema zu gewährleisten. Daher bin ich auch der Meinung, dass alles, was in so einem Workshop entsteht, auch erstmal dort bleiben sollte, als Momentaufnahme, als Versuch, als etwas, was für sich stehen kann.

Noch einmal verweise ich darauf, dass der Workshop hervorragend durch Oliver Nickel begleitet wurde, der immer wieder inhaltliche Impulse lieferte und Wissen in Form von Archivmaterial, Berichte und Fotos bereitstellte. Dieses ging weit über das hinaus, was Teilnehmende sich hätten vorstellen können. Damit möchte ich auch eine Grenze dieser Methode definieren: Es gibt Dimensionen von Orten oder Ereignissen, die sich an ihnen abgespielt haben, die sich nicht auf diese Weise – oder vielleicht gar nicht – nachvollziehen lassen. Dennoch hoffe ich, dass dieser Zugang inspiriert, sich mit diesen Aspekten auseinanderzusetzen.

Abschließend hoffe ich also mit dieser Methode einen Vorschlag zu machen, mit dem Lerngruppen sich einen Ort erschließen können und durch sinnliche Erfahrung desselben eine Verbindung zwischen sich selbst und der Vergangenheit ziehen zu können. Auch glaube ich, dass sich dieses Vorgehen auch auf weniger komplexe Orte und in anderen Disziplinen anwenden lässt: Als Erstkontakt zu einer natürlichen Umgebung, einem öffentlichen Platz oder, oder, oder. Es würde mich interessieren, was andere von diesem Vorschlag denken, welche Erfahrungen du mit dieser Übung machst oder vielleicht auch welche Bedenken du hast.

Schreib mir gerne an post@deanruddock.de.

Ich wünsche aber vor allem eine gute Reise durch Raum, Zeit und Dunkelheit.


Fußnoten