»open up comprehension to weirded intelligences«
and »strategise method according
to witchish practices [that] might remove
me from the bad theatre of academia«
HOLY PESTER 2016



How To (beispielsweise)

  1. Sich eine Verletzung, Grenzübertretung oder
    Anmaßung aus dem »bad theatre of academia»
    (oder einer anderen Institution) vergegenwärtigen.
  2. Schallend aus dem Bauch heraus lachen. Dosierung nach Bedarf und Vermögen, möglichst jedoch mindestens 30 Sekunden lang.
  3. Ein Tier bitten, es berühren zu dürfen (möglichst eines, das atmet und anwesend ist, alternativ ein erinnertes oder vorgestelltes).
  4. Die linke Hand auf den Körper des Tieres legen. Im Rhythmus seines Atmens mitatmen.
  5. Mit einem langen Ausatmen aus dem Fenster hinausschweifen. Flug- und Fliehkräfte sammeln.
  6. Zurückkehren an diesen Ort, in diesen Körper.
  7. Die Erleichterung oder die Wut oder die Kraft oder die Müdigkeit, oder was immer sich regt, begrüßen und auf einen Tee einladen.
  8. Sich beim Teetrinken mit dieser Regung über das Wirken der Institution unterhalten und über das, was in ihr zu wenig oder keinen Raum hat; über Begegnungs- und Beziehungsweisen, die in ihr unmöglich scheinen, aber zu wünschen, erträumen und vorzustellen wären.
  9. Gemeinsam einen Bannkreis ziehen (streuen, stricken, tanzen, basteln oder anders materialisieren) gegen das disziplinierende und verletzende Wirken der Institution; als sinnbildlichen Schutzkreis für Reparatives, Wohltuendes, Ersehntes.
  10. Über Nacht ruhen lassen (oder einige Stunden).
  11. Sich an das Ausfliegen, Teegespräch und Schutzkreisziehen erinnern (sorgfältig, aber nicht zu penibel).
  12. Es aufschreiben oder zeichnen.
  13. Das Gezeichnete oder Geschriebene einer:m Verbündeten schicken.

Abb. 1


How To
(Write a Recipe as Witches Do)

… »Our pragmatic and empirical concern would then require cultivating, together with those we trust, an informed art of disloyalty, the art of discretely dismantling academic habits, of confusing the gaze of the inquisitors, of regenerating ways of honouring whatever it is that makes us think and feel and imagine.«
STENGERS 2018: 131

  • Schreibt ein Hexenrezept auf, damit Ihr es zur Hand habt und mit anderen teilen könnt, wenn es die Situation verlangt. Ein Hexenrezept beschreibt das How-to für ein gegen-institutionelles Ritual 🕸️🕸️Als sorgfältig gestaltete Performances unterscheiden sich Rituale von beiläufigem, achtlosem Tun. Rituale intensivieren und verkörpernSpells, egal ob sie mit wortsprachlichen Spells agieren oder nicht. »A spell is a story we tell ourselves that shapes our emotional and psychic world«, so die neuheidnische Hexe Starhawk. »The counterspell is simple: tell a different story« (Starhawk 2002: 155). Und selbst wenn das nicht immer einfach ist, aktivieren feministische Hexen Counter-Spells gegengiftig herrschaftliche Erzählungen, die in und durch die Institutionen wirken., d. h. für ein performatives Tun im Rahmen einer sorgfältig gestalteten Situation. Schreibt ein Rezept für ein Ritual with »things, images, and metaphors to shape the movements of energy, to change probabilities» (Starhawk 1982: 29); für ein Ritual, das einen Möglichkeitsraum hervorbringt (physisch, imaginär, emotional), in dem sich Aufmerksamkeiten verschieben, reorientieren, verändern lassen; einen Möglichkeitsraum, in dem minoritäre Kräfte repariert, gepflegt und begeistert werden können.
  • Welche Empfindungen, Begehren, Affekte und Verkörperungen sind Euch vertraut, die verletzt, verleugnet, verlacht oder vernichtet wurden, und die zu schützen, stärken und reaktivieren sind? Benennt im Hexenrezept konkrete Zutaten, Techniken, Tools und Props, deren Zusammenwirken einen temporären Bann- bzw. Schutzkreis materialisieren kann gegen giftige »power-over« 🕸️; gegen die Disziplinierungen und Zugriffe institutioneller Macht. Bennent, mit welchen mehr-als-menschlich Kräften, Beziehungs- und (Be-)Handlungsweisen in einem solchen Schutzkreis widerspenstige »powers-from-within« 🕸️🕸️Hexenrezepte entstehen in ökofeministischen Küchen und handeln von
    »Ecologies of Practices« (Stengers), deren Wechselwirkungskräfte divers
    und dicht verstrickt, co-abhängig und co-kreativ, semiotisch und
    materialistisch, und sowieso queer, weil non-binär sind. »As means of
    gaining power-over, magic is not very effective – hence its association
    with self-deception, illusion, and charlatanry in our society. Magical
    techniques are effective for and based upon the calling forth of
    power-from-within, because magic is the psychology technology of
    immanence, of the understanding that everything is connected« (Starhawk
    1982: 13).
    gelernt und geübt werden können – »powers of connectedness, sustenance, healing, creating« (Starhawk 1982: 4). Bedenkt dabei, dass Wechselwirkungsprozesse nie ganz berechenbar und kontrollierbar sind, und dass gerade darin transformative Potentiale schlummern: Unsichere Wirkmöglichkeiten einer Kunst der Aufmerksamkeit, die nicht nach Autorität, Allmacht und Meisterlichkeit strebt (und auf andere Spells setzt als Zauberlehrling und Hexenmeister).

  • Achtet darauf, dass sich Euer Hexenrezept aus verkörperten Wissen und Erfahrungen speist; aus Wissen im Plural ums Wirken von Freude, Lust und Begehren, von Bittersüßem und Saurem, von Wut, Schmerz, Trauer und Angst. (»Where there is fear, there is power«
    (Starhawk 1982: 47)). Tauscht Euch aus, experimentiert, auch mit Rezepten von anderen. In Hexenküchen wird mit Vorgeschichten und co-kreativ gekocht. Zwar formulieren Rezepte Regeln 🕸️🕸️Rezepte formulieren »dichte« Regeln, so die Wissenschafts-historikerin
    Lorraine Daston. Reich an praktischer Erfahrung erzählen Rezepte von
    ermöglichenden Bedingungen (»Enabling Constraints«, würde
    Stengers sagen) und relevanten Details, während sie Spielraum für
    situative Eigenheiten und Improvisation lassen. Statt Belehrung oder
    polizeilicher Vorschrift, beschreiben
    sie die Partitur einer »orchestration of the senses, mind, and
    body« (Daston 2022: 80). Auf methodologischer Ebene handelt Rezeptschreiben
    von der Frage, »how to build practice into the rules themselves« (Daston
    2022: 70). Rezepte machen implizites Wissen explizit und erlauben
    dadurch, Erfahrungsreichtum so
    (mit) zu teilen, dass er sich verbreiten und vervielfältigen kann.
    Bei der Dosierung ist wie immer Vorsicht geboten, denn:
    »Increasing specificity and quantitative precision is one way of rendering the
    tacit explicit, but it is not the only or even the most effective way to
    do so. On the contrary, anyone who has struggled through an instruction
    manual fat with prolix detail knows that too much specificity, too much exactitude converts explicit back into tacit knowledge« (Daston 2022: 74).
    , doch die sind immer wieder neu zu interpretieren und weder treu noch exakt zu befolgen. Zudem aktiviert oft eher das, was ›schiefgeht‹ die Möglichkeitssinne, als das, was gradwegs gelingt. (»The Queer Art of Failure« ist für feministische Hexen »a better bet than success« (Halberstam 2011: 4)
  • Wen soll euer Rezept adressieren? Formuliert das Hexenrezept sorgfältig und möglichst gut nachvoll-ziehbar. Welche Selbstverständlichkeiten und Vorwissen setzt euer Rezepttext unausgesprochen voraus? Benennt die Zutaten und Abläufe des von Euch empfohlenen Rituals konkret und genau, aber nicht allzu penibel. (Beware of Micromanagement!) Das Wie ist nicht minder wichtig als das Was, gerade für gegen-institutionelles Wirken. Varianten eröffnen Mög-lichkeiten; aber trefft Entscheidungen und gewichtet Relevanzen – »taking-into-account what otherwise will likely remain unaccounted for« (Manning 2016: 35). Euer Rezept sollte Aufmerksamkeitshilfestellungen dafür geben, »what it is a good idea to pay attention to« (Pignarre/Stengers 2011: 133). Aber kein Rezept
    passt für jede Tischgesellschaft und jede Gelegenheit gleich ›gut‹. Rezepte erzählen von materiellen Bedingungen und situierten Möglichkeiten; Rituale sind positioniert und orientiert. Maßgeblich für ihre Transformationskraft ist vor allem, dass sie von wirklicher 🕸️🕸️»And as you learn the magic, learn to believe it. Don’t be ›surprised‹ when it works, you undercut your power.«
    (Diane di Prima 1971: 59).
    Wichtigkeit für euch ist. You have to mean it!
    (Saxena/Zimmerman 2017).


Von Rezeptkunst, pragmatischen Spekulator:innen und institutionskritischen Hexen

Rezeptkunst 

Gerade im Kunstfeld ist das Rezept ein oft diffamiertes und unterschätztes Medium. Die Floskel, Kunst verfahre ›nicht nach Rezepten‹ verrät, wie sich Beschwörungen einer sogenannten ›freien‹ Kunst gegen deren Lern-, Vermittel- und Mit-Teilbarkeit abzudichten versucht. Dabei ist das Rezeptive in ästhetisch-kreativer wie auch vermittlungspraktischer Hinsicht durchaus interessant. Rezepte lassen sich als Vermittlungstexte lesen, die ein Voneinander-Lernen ermöglichen, statt die Mächte autoritärer Erklärung, unidirektionaler Belehrung und universalisierender Wissensansprüche zu stärken. Obwohl sie Regeln und Anleitungen formulieren, ›funktionieren‹ sie weder wie Normen, die diffus und schwer lokalisierbar sind, noch wie allgemein-gültige Vorschriften, die schlicht befolgt werden könnten. In Rezepten finden sich Zuvor-gemachte-Erfahrungswissen aufgeschrieben und kondensiert, die als Regeln nur insofern weiterwirken, als sie beständig neu re-aktiviert werden. Sie vermitteln sich praktisch, prozessual und kreativ, nie ganz berechenbar, quer durch Bereits-Verkörpertes, Aktuell-Situatives und Potentiell-Transformatives. Philippe Pignarre und Isabelle Stengers schreiben in Bezug auf feministisch aktivistische Hexen über Rezepte (2005: 133): Erstens: »[T]hey do not have the power of explaining why they ›work‹ in terms that transcend the situation in which they ›work‹« – Rezepte sind partial situiert und situativ praktisch orientiert, keine gelehrt-belehrende Theorie. Zweitens:
»[T]hey cannot be borrowed without also being taken up again differently, reinvented, modified, or if one tries another recipe, interrogated so as to learn what it is a good idea to pay attention to« – mit Rezepten zu arbeiten ist Interpretieren, Verändern, kreatives Tun; kein ›souveränes Schöpfen‹ aus dem Nichts heraus, sondern ein Üben von Aufmerksamkeit für mögliche Transformationen. Und drittens: »They catalyse imaginations and fabricate an experience for ›the milieu‹, which avoids the need for each new group to have to ›reinvent everything‹ from scratch« – Rezepte eröffnen eine Co-Kreativität, die von den Erfahrungen anderer lernt und ihre Möglichkeitssinne in einer Welt entfaltet, in der es weder ein Bei-Null-Anfangen noch Zum-Ende-Kommen gibt. Als Medien einer Mehr-als-Textbook-Vermittlungskunst sind sie textgewordenes, verkörpert-sinnliches Wissen. Sie verlangen, erneut mit Körpern und Sinnen materialisiert zu werden; heiss und fettig, klebrig und messy.

»The recipe is a method for responding to things. Things have agency in many directions. Like words, they have histories and contexts, but when I perform the recipe, things become other things in a messier transformation than words in a sentence. […] The recipe is a text that can produce spattering because it was spattering before it was language. Language is only a holding pattern for the recipe – not its origin, nor its terminus.«
(Johnson 2023: 51).

Kreuz und quer verlaufen durch Rezepte Vermittlungswege über Hände, Löffel und Zungen; durch Küchen, verkleckerte Bücher, Töpfe und Mägen; im Schälen, fein Schneiden oder Karamellisieren; durchs Verändern von Konsistenz und Chemie. Statt top-down zu erklären oder zu belehren, regen Rezepte an und inspirieren. Wo sie weitergegeben und geteilt werden, werden sie auch verändert, annotiert und immer wieder neu interpretiert. Wiederholung ist Aktualisierung ist Veränderung. (Rezeption = Produktion.) Dass sie sich weitervermitteln und in immer wieder neuen Konstellationen nie ganz dieselben bleiben, macht ihre Relevanz aus, wer sie ursprünglich einmal wie genau aufschrieb, ist viel weniger wichtig. »The recipe is a collective text, a chorus. When I try to write at the kitchen table, the I becomes blurred, so I see double, triple, I, I, I, I, we.« (Johnson 2023: 151). Jenseits von individualistischem Autor:innenschaftskult vermitteln Rezepte Anregungen für ein Üben von Aufmerksamkeitskünsten: Für ein sorgfältiges Wahrnehmen sinnlicher Qualitäten; ein Sich-öffnen für unvorhergesehene Affizierungen in mehr-als-menschlichen Begegnungen und Bewegungen; eine Responsivität für fruchtbare Potentiale in Prozessen, die immer irgendwie spritzen, zerlaufen und kleckern. The »recipe encourages me to tend to ingredients, responding to their qualities, their potential for transformation« (2023: 55), schreibt Rebecca May Johnson in einem zauberhaften Buch über die feministische Performativität von Rezepten. Sie erzählt, wie sie im Wieder-und-Wieder-Kochen des immer selben Rezepts dessen Zutaten aufmerksam zu begegnen lernt – »to watch them closely, ready to accommodate their whims, which are not human« (2023: 51 ).

Solches Kennenlernen weist weit über Tellerränder und die eigene Zunge hinaus. Denn die körperlich situierten Aufmerksamkeiten, die sich so üben lassen, ermöglichen die verstrickte und veränderliche Relationalität der gemeinsam-geteilten, mehr-als-menschlichen Welt etwas besser zu kennen.

»When I think about performing the recipe I think about the movements of subatomic particles or the orbits of moons and planets, there is a physics to it. The recipe introduces me to principles of touch, knifework, heat and time. The temporality of white becoming gold in oil. I must be careful about how I move my hands, the interventions they make can be significant, they are always in relation.« (Johnson 2023: 58f.).

Beim Lesen von Johnsons Schilderungen der Agencies von Datteltomaten, zerrupftem Basilikum und Knoblauch (der unterm hackenden Messer viel zartere Aromen entfaltet als in der Presse) habe ich das, was die »Actor-Network-Wissenschaftstheorie« lehrt, auf einmal viel eindrücklicher, sinnlicher und gehaltvoller begriffen. Und seither koche ich anders: Mit wacheren Sinnen nehme ich wahr, was in meine Nase aufsteigt, sich entfaltet und verändert, sich zwischen und mit meinen Fingern verbindet, mir Lust macht oder beißend in den Augen brennt. Auch erinnere ich mich öfter daran, woher ich das Rezept kenne, das ich gerade koche; wer es mir empfohlen oder beigebracht hat; mit wem und für wen ich es schon einmal zubereitet habe.

»The materials I work with have agency: the garlic, the tomato, the oil, the salt and the basil (if I have it). And so does the space in which the translation takes place: the kitchen, the stove, the heat and the climate, economics, the mood of this-time-now.«
(Johnson 2023: 110).

Rezeptkunst bedeutet in vielfältigen Abhängigkeiten und partialen Verbindungen kollaborativ zu (trans-)formieren, in vielfältigen Abhängigkeiten und partialen Verbindungen, ohne Garantien aufs Gelingen, aber doch auch nicht als völliges Zufallsgeschäft. Und als ein produktives Rezipieren, das sich für die potentiellen Effekte von lebensweltlichen Verbindungen, materiellen Details und unsicheren Variationen interessiert, ist Rezeptkunst auch eine Praxis pragmatischer Spekulation.

Pragmatische Spekulator:innen 

Anders als ein haltloses Phantasieren bleibt Spekulation, wie Stengers sie denkt, an weltliche Verstrickungen und verkörperte Bedingtheit gebunden. Aus je spezifischer Situiertheit heraus, spürt pragmatische Spekulation den latenten Potentialen von Veränderung nach, die – neben dem, was als naheliegend und Realistisch-Wahrscheinliches gilt – auch noch wichtig sein oder werden könnten. Anders als in der westlich-europäischen Philosophie prominent, stellt Stengers Spekulation 🕸️🕸️Spekulation als situierte, weltlich-verstrickte und verkörpert-perspektivische Praxis zu denken, ist in der
europäisch-westlichen Philosophiegeschichte alles andere als selbstverständlich. Hier bezeichnete Spekulation von der Antike bis in die Moderne v.a. eine Kontemplation der Wahrheit an sich, erster Prinzipien, letzter Gründe, der Ideen und Gott. Deshalb degradierte der neuzeitlich positivistische Empirismus Bacons’ die Spekulation zur ›bloßen Spekulation‹ als ein haltloses Hypothesenentwerfen. Kants Idealismus bezog sich dann zwar wieder affirmativ auf einen »spekulativen Gebrauch der Vernunft«, meint damit aber ein Erkennen des »rein« Begrifflichen, Erfahrungsunabhängigen. (Im 21. Jahrhundert ist den Jungs des sog. »Spekulativen Realismus« im Umfeld der Goldsmith University selbst Kant dann nicht mehr erfahrungsunabhängig genug; sie fragen nach Realität jenseits menschlichen Erkennens.) Auch Hegels Spekulation zielte auf ein über Situatives hinausgehendes Erkennen des absolut Wahren, wogegen Feuerbach dann ein kritisch-materialistisches Denken als Gegenteil von Spekulation in Stellung brachte, um der sozio-physischen Bedingtheit des Denkens Gewicht zu geben. Marx griff diesen anti-spekulativen Dreh auf, als er die Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen verlangte.
 nicht als eine Weise der Kontemplation vor, die von lebensweltlicher Erfahrung, körperlicher Sinnlichkeit und materieller Beschränkung abstrahiert. Sie versteht sie stattdessen als eine mehr-als-realistische Praxis sorgetragender Umsicht. Über die Etymologie von speculari, beobachten, spähen, entwirft Stengers die Figuration der Spekulator:in als »the one who observes, watches, cultivates the signs of change in the situation, opening themselves to what, in this situation, might be of importance« (Debaise/Stengers 2017: 18f.). Diese:r Spekulator:in verfolgt weder polizeiliches Überwachen noch ein Streben nach absoluter Gewissheit; vielmehr pflegt sie ein sorgsames Unterscheiden im Interesse von Relevanzen im Konjunktiv gepflegt; und Möglichkeiten, die unsicher sind, aber situationsverändernd ins Gewicht fallen könnten.

Zentral für die Spekulator:innen-Kunst der Aufmerksamkeit ist also ein kritisches Differenzieren zwischen abstrakten (und oft paranoiden) Gedankenexperimenten und materiell situierten Latenzen. Beständig werden Spekulator:innen bewegt von »the pragmatic question par excellence: does the possible whose insistence I sense add or detract from the situation? They will have to accept that the way they answer is part of the situation, and that they will have to make them-selves response-able, answerable for its consequences« (Debaise/Stengers 2019: 19). Und weil situiertes Spekulieren mit materieller Verstricktheit und situativen Eigenheiten agiert, meint sich response-able machen, dabei nicht das Zur-Verantwortung-Ziehen eines Individualsubjekts, sondern eine einzuübende ästh/ethische Fähigkeit zu vielfältigen Resonanzen.

Stengers und Pignarre argumentieren für ein pragmatisch materialistisches Verständnis von Spekulation. Inspiriert von feministisch aktivistischen Hexen antworten sie auf Marx, es sei zu engstirnig von ihm gewesen, Kapitalismuskritik zur »positiven Wissenschaft« zu erklären. Zwar hätten Marx und Engels eine Nähe zwischen Kapitalismus und (power-over-)Hexerei immerhin geahnt, als sie »die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat« mit dem »Hexenmeister« verglichen, »der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor« (Marx/Engels 1948: 25). Weil sie aber ganz auf Entzauberung, Fortschritt und nüchterne Empirie (»Sober Senses«) setzten, unterschätzt Marx’sche Kritik das subtile Wirken des Kapitalismus als entkörpertem »Hexensystem ohne Hexenmeister« – und verpasst so die Möglichkeit mit pragmatisch-kreativem Spekulieren Gegengifte im Affektiv-Mikropolitischen zu aktivieren (Vgl. Pignarre/Stengers 2011: 40ff.).

Abb. 3


Kritische Wissenschaften, die vor allem besserwissen, ›schonungslos‹ aufdecken und belehrend erklären, was wahres Wissen oder bloss naives Wunschdenken ist, materialisieren auch da Dominanz, Autorität und Exklusion, wo sie für Herrschaftsfreiheit und genaue Untersuchung des Materiellen argumentieren. Auch in den Wissensökonomien des »Bad Theatre of Academia« sind Profilierung, Konkurrenz, Durchsetzung und Exzellenz treibende Kräfte und wirkende Werte. Akademisch bleibt die Frage nach der eigenen Performativität viel zu oft außer Acht: »What does knowledge do – the pursuit of it, the having and exposing of it, the receiving again of knowledge of what one already knows? How, in short, is knowledge performative, and how best does one move among its causes and effects?« (Sedgwick 2003: 124).

Das Interesse der pragmatischen Spekulator:in hingegen ist zugleich kritisch und reparativ. Kritik ist für sie ein sorgendes Differenzieren, das nach den Effekten herrschender Kräfte ebenso fragt wie nach dem vielleicht möglichen Wirken dessen, was aktuell fast unmöglich erscheint. Sie imaginiert, fabuliert und experimentiert, auch auf ver-rückten Weisen gemeinsam mit illegitimierten Subjekten. Ihr gegen-disziplinäres Spinnen hat dabei nichts mit ›alternative Facts‹ und Wissenschaftsrelativismus zu tun. Gerade weil sie darum weiß, dass ausbeuterischer Kapitalismus, Rassismus und Klimaerwärmung wirklich sind und sich (auch wider besseren Wissens) beständig fortsetzen, engagiert sich die pragmatische Spekulation für geschundene Möglichkeitssinne, die einen entscheidenden Unterschied machen könnten.

»The realistic way is that we capitulate.« (Yates Garcia 2019: 16), wissen auch ökofeministische Hexen. Mit ihnen lässt sich lernen, dass es darauf ankommt »[...] to create, fabulate, in order not to despair [...]« (Stengers/Despret 2014: 47), um »[...] weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« (Adorno 1951: 62). Eine Hexe ist eine Herrschaftskritiker:in ist eine pragmatische Spekulator:in.

Institutionskritische Hexen (Casting Circles)

Was uns verletzlich macht, erlaubt Kontrolle über uns, birgt aber auch Potentiale für ein Pflegen ganz anderer, co-kreativen Relationen. Ökofeministische Hexen-›Magie‹ wirkt mit Kenntnissen dessen, dass sich Energien in Bewegung befinden, form- und beeinflussbar sind; dass Geschichten, Bilder und Rituale materialisierende Effekte haben; dass Wechselwirkungsprozesse in semiotisch-materiellen Gefügen nie vollends berechenbar sind. Widerspenstig zeigen sie auf, dass sich Leben dort, wo es vergiftet wurde, reanimieren, reparieren und verändern lässt. So lässt sich Stengers und Pignarre zufolge von den aktivistischen Hexen der Reclaiming Witchcraft Bewegung lernen, nicht klein beizugeben angesichts eines Kapitalismus, der (wie geisterhaft ortlose »Hexerei ohne Hexenmeister«) zugleich global dominant und subtil subjektivierend wirkt (Pignarre/Stengers 2011). »Wir müssen, wie die Hexen, lernen Bannkreise zu ziehen, die uns vor unserem ungesunden, ansteckenden Milieu schützen«; Schutzkreise gegen verletzende, zurichtende, vernichtende und unausweichlich erscheinende Disziplinierungen – »[...] ohne dass wir uns von den anzugehenden Dringlichkeiten konkreter Situationen abschotten.« (Stengers 2018: 131, Übers. I. K.). Feministische Hexen-Schutzkreise dienen nicht Realitätsflucht, Sektierertum oder identitätspolitischer Exklusion; sie schaffen vielmehr temporäre Räume für anderweitig delegitimierte oder negierte Vorstellungskräfte. Was Stengers und Pignarre von aktivistischen Hexen zu lernen empfehlen, ist so eine »[...] gutinformierte Kunst der Untreue; die Kunst akademische Gewohnheiten aufzubrechen, den durchdringenden Blick gnadenlos Richtender zu verwirren und die Potentiale dessen zu stärken, was unser Denk-, Empfindungs- und Vorstellungsvermögen aktiviert« (Stengers 2018: 131, Übers. I.K.). Sofern akademische Disziplinierung ein Üben von Sorgfalt, Geduld und Differenzierungsvermögen ist, kann sie dabei helfen, gutinformiert experimentierfreudig, ver-rückt und untreu zu werden. Für das transformierende Aufbrechen der einengenden, lähmenden und schmerzhaften Effekte disziplinärer Autorität sind dabei co-kreative, statt konkurrenzlogische Beziehungen nötig, sowie die Pflege von verleumdeten Möglichkeitssinnen, von denen sich in Begehren, Lust, Trauer und Schmerz noch immer Spuren finden.

Wie wichtig das Reaktivieren von Möglichkeitssinnen als Gegengift gegen all-zu-realistische Resignation ist, betont auch Starhawk, bekennende »Pagan, feminist, Witch, and anarchist«. Seit Jahrzehnten engagiert sie sich mit gewaltfreien Ritualen in anti-kapitalistischen Protesten. Counter-spellend und kettenbildend nahm sie gemeinsam mit anderen Reclaiming Hexen u.a. an den Protesten in Seattle 1999 und Genua 2001 teil, um sich für globale Gerechtigkeit, ökologische Responsivität und Vielfalt einzusetzen, entgegen internationalen Institutionalisierungen von Profit, Extraktivismus und Privatisierung. Starhawk gab in diesen Zusammenhängen politisch-spirituelle Non-Violence-Kurse zum Umgang mit Polizeigewalt und Verhaftung, publizierte How-tos und Erfahrungsberichte, wurde verhaftet und saß mit anderen Aktivist:innen tagelang im Gefängnis. Nach den Protesten in Seattle berichtet sie, auch in Antwort auf Medienberichte, die überproportional Gewaltausschreitungen fokussierten:

»The action included art, dance, celebration, song, ritual, and magic. It was more than a protest; it was an uprising of a vision of true abundance, a celebration of life and creativity and connection that remained joyful in the face of brutality and brought alive the creative forces that can truly counter those of injustice and control. Many people brought the strength of their personal spiritual practice to the action. I saw Buddhists turn away angry delegates with loving kindness. We Witches led rituals before the action and in jail and called on the elements of nature to sustain us. In jail, [… we] found the spirit to sing in our cells, to dance a spiral dance in the holding cell, to laugh at the hundred petty humiliations the jail inflicts, to comfort each other and listen to each other in tense moments, to use our time together to continue teaching and organizing and envisioning the flourishing of this movement.« (Starhawk 2002: 19).

Stengers und Pignarre erinnern mit Starhawk daran, dass die kreativen, dezentralen und größtenteils gewaltfreien Protestaktionen 1999 in Seattle die dort stattfindende Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation wirklich zum Abbruch brachten. Und daran, dass der Protestslogan »Another World is Possible« als möglichkeitsaffirmierender Counter-Spell dem wirtschaftsliberalen Spell »There is no Alternative» nicht das letzte Wort überließ. Nicht weltfremd oder naiv, sondern realitätsbezogen ist solches Counter-Spelling Wunschdenken – to »break the spells that bind us« (Starhawk 2002: 158). Eine kritisch-spekulative Antwort auf Einschüchterungen durch Hierarchie-, Profit- und Konkurrenzlogiken. Starhawk und die Reclaiming Hexen verknüpfen dabei anti-kapitalistische Politik mit einer Spiritualität, die materialistisch, situiert, verflechtungs- und geschichtsbewusst ist. Weder verklärend noch übersinnlich geht es ihrem politisch-spirituellen Wirken um Aufmerksamkeit für noch-nicht-realisierte Latenzen und sozio-ökologische Wechselwirkkräfte 🕸️🕸️In Dreaming the Dark. Magic, Sex and Politics diskutiert Starhawk ein komplexes Immanenz-Denken als anti-autoritäre »awareness of the world and everything in it as alive, dynamic, interdependent, interacting, and infused with moving energies« (Starhawk 1982: 9). Obwohl sich ihre Bücher eher in Esoterikläden als in politisch-philosophischen Bibliotheken finden, ist Starhawks Immanenzphilosophie ähnlich differenziert wie die politisch-ästhetische Ökosophie Guattaris oder Barads Ausführungen zur intra-aktiven Performativität des Materiellen. Wenn Starhawk auf verstrickte Relationalitäten in mehr-als-menschlichen Gefügen verweist, berücksichtigt sie dabei rassistische, sexistische, klassistische und ableistische Strukturen stets mit. So thematisiert sie in Bezug auf Hexenrituale auch Gefahren von Cultural Appropriation und empfiehlt: »We might begin with: Deepen our knowledge. Truly learn and study the traditions that call to us. […] Don’t just pick a name out of a book – devote real time and effort to developing an in-depth knowledge of both a deity and its surrounding culture. Moreover, learn about the history and support the present-day struggles of the people.« (Starhawk 2002: 205). in einer komplex verstrickten Realität, die zu lernen erlaubt »[...] not what we should believe but how we can learn to listen.« (Starhawk 2002: 262).

Sich im Kontext feministischer, kapitalismus- und institutionskritischer Politik selbst Hexe zu nennen, bringt performativ Wahlverwandtschaften zu jenen Personen hervor, die in der frühen Neuzeit als ›Hexen‹ fremdbezeichnet, verfolgt und ermordet wurden. Für kritische Spekulator:innen ist dabei wichtig, dass die verkehrende Wi(e)deraneignung des Hexen-Begriffs die Differenz innerhalb der Wahlverwandtschaft präsent hält. Oft wurde Feminist:innen seit den 1970er Jahren vorgeworfen, sie seien »zu emotional« 🕸️🕸️Johannes Dillinger erklärt es »zum Pensum seriöser Historiker« die affektiv affirmativen Hexenbezüge von Feminist:innen gnadenlos zu »pulverisieren« (2007: 120). Für die Frauengesundheitsbewegung einflussreiche Bücher wie Barbara Ehrenreichs und Deirdre Englishs Witches Midwives & Nurses
(1973) sind ihm ein Graus. Die These, die Hexenverfolgung habe im Interesse der sich institutionalisierenden Medizin vor allem auf Heilerinnen und Hebammen gezielt, gilt geschichtswissenschaftlich inzwischen als widerlegt – was die Neuauflage von Witches Midwives & Nurses (2010) im Vorwort auch explizit thematisiert. Abgesehen davon stellt sich das Problem von gutinformierter Richtigstellung für kritisch-spekulative Hexen sowieso völlig anders. Ihr Interesse gilt dem emanzipatorischen und reparativen Aktivieren dessen, »whatever it is that makes us think and feel and imagine« (Stengers 2018: 131); performativen Geschichten, die für Frauengesundheitsaktivist:innen ermächtigend wirken; und einer gegen-disziplinären »art of dealing with, and learning from, what scientists too often consider messy, that is, what escapes general, so-called objective categories.« (Stengers 2018: 120).
 und geschichtswissenschaftlich undiszipliniert, wenn sie sich affirmativ auf historische ›Hexen‹ bezogen und diese als Widerstandskämpferinnen, Kräuterkennerinnen, Hebammen und Freigeisterinnen imaginierten. Naiv, so der Verdacht, gingen sie verleumdenden Konstruktionen aus Heinrich Kramers Hexenhammer (1486) und anderen misogynen Pamphleten auf den Leim. Aber wenn feministische Witches kritisch spekulativ transtemporale Verwandtschaft herstellen, dann geschieht das trans- und performativ, in »Temporal Drag« (Freeman 2010: 63), durch Wiederholung mit Differenz. In der verkehrenden Wi(e)deraneignung der Hexen-Bezeichnung aktivieren sie eine »Möglichkeit des Widerstands, die der historischen Hexe versagt war« (Bovenschen 1977: 265) und reparieren mit undisziplinierten Care-Kehr-Poetiken quer durch die Zeit geschundene Möglichkeitssinne.

Seit dem Wall Street Hex 1968 bekennen sich Performance-Aktivist:innen in wechselnden Konstellationen zu W.I.T.C.H. – was u.a. als »Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell» und »Women Inspired to Commit Herstory» ausbuchstabiert wurde (Morgan 1970: 538ff.). An der University of Chicago verbrannten Studentinnen 1969 öffentlich ihre Abschlusszeugnisse, weil diese lediglich das bezeugten, was einem rein männlich weißen Kanon als legitimiertes Wissen galt. Statt sich zu seinen diszipliniert legitimierten Töchtern machen zu lassen, schrien sie dem Kanon mit dessen lodernden Papieren entgegen: »Knowledge is power through which you control our minds, our spirit, our bodies, our soul. HEX!«
(Vgl. Heather Booth in She’s Beautiful When She‘s Angry (Mary Dore, USA 2014)). Auch wenn sich akademische Institutionen heute, ein halbes Jahrhundert später, ein wenig bemühen, Disziplinen, Kanon und Literaturlisten diverser aussehen zu lassen, wirken patriarchale Hierarchisierungen, Wertungen und De-/Legitimierungen weiterhin nach. So weist Rebecca May Johnson beispielsweise auf die philosophische und literaturwissenschaftliche Vernachlässigung des Rezepts als Textsorte hin. Akademischen Erörterungen gilt das Rezept kaum als Ausdruck und Ort von »Serious Thought«
(vgl. Johnson 2023: 67). Wo universitäres Streben sich explizit oder implizit noch immer an herausragenden Dichtern, Künstlern und Denkern, exzellenten Errungenschaften und revolutionären turns orientiert, scheint das nur logisch: Texte, die aus kochenden Körpern kommen und dorthin zurück wollen, die zwischen Freund:innen und Verwandten geteilt und weitergegeben werden, können philosophisch wie poetisch kaum der Rede wert sein … Dagegen stelle ich mir vor, mit Johnson und den feministischen W.I.T.C.H.E.S aus einem gemeinsamen Kessel essend zu wissen: »The recipe is a collective text, a chorus.«
(Johnson 2023: 67).

Im Umfeld der Chicagoer W.I.T.C.H.es entstand Ende der 1960er Jahre das Jane Collective als klandestiner Abortion Counseling Sevice of Women’s Liberation. Illegalisiert im Untergrund verhalf Jane 1969 und 1973 etwa 11.000 unfreiwillig schwangeren Personen zu Abtreibungen – bis der U.S. Supreme Court 1973 mit dem Roe versus Wade-Entscheid 🕸️🕸️Der Roe versus Wade kam damals auch insofern zur rechten Zeit, als er sieben Jane-Mitglieder vor einer Verurteilung bewahrte, die bei einer Razzia verhaftet und wegen »Verschwörung zur Abtreibung« mit einem Höchststrafmaß von bis zu 110 Jahren (!) angeklagt worden waren. Schwangerschaftsabbrüche legalisierte. Dass genau dieser Entscheid 2022 wieder aufgehoben wurde und die Kriminalisierung von Abtreibungen heute auch international wieder erstarkt, aktualisiert die Dringlichkeit feministischen Hexens und Schutzkreise-Ziehens.

Jane verband gesundheitspolitisches und wissensökonomisches Sorgetragen. Denn das Kollektiv organisierte nicht nur Abtreibungen, sondern trug in verschiedenen Conscious-Raising-Gruppen auch dazu bei, dass bislang kaum geteilte Wissen um strukturelle Gewalt und psychischen wie physischen Schmerz, körperliche und gynäkologische Prozesse, gefährliche und sicherere Abtreibungsmethoden, Geschlechtskrankheiten, Verhütungs- und Behandlungsmethoden bekannter wurden. Verwandte feministische Selbsthilfegruppen breiteten sich in den 1970ern international aus und verhalfen solchen Kenntnissen auch durch zahlreiche, oft anonym und kollektiv herausgegebenen, Publikationen in verschiedenen Formaten zur weiteren Verbreitung. Rezepte und How-tos waren dabei ein wichtiges Format: im von den Rasenden Höllenweibern herausgegeben Hexengeflüster (1975) beispielsweise findet sich eine Bastelanleitung für eine Lampe, die zur Selbstuntersuchung an ein Spekulum gesteckt werden kann. Das Teilen, Erlernen und Erweitern solcher mitunter sehr kreativer Wissen (im Plural) sowie die Möglichkeit das körperliche Erleben, das diesen ihre Dringlichkeit gibt, wahrzunehmen und artikulieren zu können, setzte Sicherheitsräume voraus. Oft skeptisch beäugt, verteufelt oder zumindest verlacht (teils bis in die Gegenwart) zogen die Consciousness-Raising-Gruppen der Frauengesundheitsbewegung differenzfeministische Bannkreise gegenüber machoidem Revolutionsgebaren, patriarchal-medizinischer Autorität und von Männern dominierten Debatten zur Pille.

»How people have bitched, expounded and sniggered about the womens’ groups in the 1970s who learned that it was sometimes necessary for them to meet together ›without men‹! They were called ›witches‹, and it was an insult, but in fact in their groups they accomplished the first gesture of witches, without first naming it as such: the casting of the circle, the creation of the protective space necessary to the practice of that which exposes, of what puts at risk in order to transform.« (Pignarre/Stengers 2011: 131f.).

Wenn Streitfreudigkeit, Sorge, Sinnlichkeit und andernorts delegitimierte Erfahrungswissen dabei als ›weibliche‹ Kompetenzen und Erbe von Hexen als widerständigen Heiler:innen und Hebammen zelebriert wurden, dann ist dies auch als selbstermächtigendes Ritual innerhalb einer misogynen Kultur zu begreifen. Hexenschutzkreise werden temporär gezogen »to cultivate arts of protection against capture« (Stengers 2008: 56); um Beziehungsformen, Aufmerksamkeiten und Möglichkeitssinne geschützt zu hegen und pflegen; um sich der »power-over« patriarchaler Institutionen zumindest für Momente zu entziehen; um den Kreis dann wieder öffnen zu können »to encounter differently what it was first necesarry to keep outside« (Pignarre/Stengers 2011: 139). 

Als Wissenschaftsphilosophin schlägt Stengers ihren Leser:innen vor, sich inspiriert von feministischen Hexen, Erfahrungen kritisch spekulativ in Erinnerung zu rufen, die sie die Standards des akademischen Milieus lehrten: »maybe a few derisive remarks, knowing smiles, offhand judgments, often made about somebody else, which have nevertheless got the subtle power to pervade and infect our thinking life, to shape the way we frame and address our questions« (Stengers 2008: 49). Was lässt sich mit Scham, Angst, Schmerz und Wut über die reale Gewalt anhaltender power-over lernen sowie über die latenten Möglichkeiten dessen, was gegenwärtig als unrealistisch gilt – und für das es sich gerade deshalb weiterzuhexen lohnt?

Witches »tell us their recipes and ask us:
›And you, where do you draw your capacity to
hold up and to act from? How do you succeed in creating the protection
that the poisoned milieu in which we all live necessitates?
What protects you from the vulnerability that our common enemy hasn’t stopped profiting from?
What do you do? What have you learned?‹«
(Pignarre/Stengers 2011: 141).


Abb. 4


Literatur

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Abbildungen

Abb. 1–4 von Ines Kleesattel; gestickter Bannkrrreis in Abb.1 frei nach einem Spell von Kim de l’Horizon.


Fußnoten