AFFEKTION IN ZEITEN DER ECHTZEIT
Affektion = Befall eines Organs; Eindruck,
Einwirkung von Dingen auf die Sinne.
Du wachst auf, weil etwas auf dich einwirkt. Feuer. Der Rauch steht im
Raum. Aber nicht nur dein physischer, sondern auch dein psychischer
Körper reagiert: Es ist der Eindruck, nicht die Idee von der Katastrophe.
Dir fällt das Wort gar nicht ein, alles findet direkt im Zwischenhirn statt,
schlagartig, wie der Schlafschlag, nur umgekehrt. Der Sinneseindruck,
eine Skizze, wird ans Hirn telegraphiert. Dann, als würdest du die loci-
Methode anwenden, und Zimmer nach etwas durchsuchen – Mnemo-
technik–, aber auch dies umgekehrt, weil alles ex tempore geschieht,
musst du handeln. In Echtzeit. Da ist aber diese eigenartige Eigenzeit:
Der unvorbereitete Körper bewegt sich in Zeitlupe im Raum, das Denken
schliert nach. Sofort musst du wissen, wo in der Welt der Nacht die Tür ist,
die Treppe. Bis die Feuerwehr ins Zimmer einbricht.
Die Covid-19-Kontingenz ist keine Katastrophe,
sondern eine Krise. Ihr Eindruck auf uns ist auf seltsame Weise ante tem-
pore. Oder: Etwas findet statt und findet doch noch nicht statt. Und trotz-
dem ist neben der Zukunftsmusik ›Nach Corona’ auch das Wort ›Echtzeit‹
zu hören, etwa bei Nikil Mukeriji und Adriano Mannino.Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit [Was bedeutet das alles?], Stuttgart: Reclam 2020. Dabei brennt es
gar nicht. Nicht flächendeckend. Es gibt genug Zeit. Es gibt Zeit, nach
Konzepten zu suchen. Es gibt auch Zeit, Sonettkränze zu schreiben.
Vierzehn verflochtene Teile, dazu ein Meisterstück – aus dem Italien des
18. Jahrhunderts unter dem Namen Corona nach Deutschland gewandert.
Patrick Stewart liest online ein Sonett am Tag, während der ökologisch
korrekte Waschmittelproduzent Sonett im März rund um die Uhr an Des-
infektionsmitteln arbeitet.
Wir haben Zeit, aber es scheint Zeit, dass es
Zeit ist (wie es in Celans Gedicht »Corona« heißt). Gleichzeitig ist es, als
befänden wir uns in einem Traum, und es ist nicht ganz klar, ob Reden
(in Träumen) wirksam ist.
Ich frage mich seit Monaten, was wir eigentlich
verspüren, denn darüber ist auch wenig zu lesen. Ich meine nicht den
Überdruss, die Entrüstung (und frage ohnehin aus einer privilegiertenPosition heraus).
Mariana Enríquez, Königin des argentinischen realismo
gótico und Autorin von Lo que perdimos en el fuego (2016) schreibt über
›das Morden nach Zahlen‹ während der Pandemie. Seit Februar rechnen
wir unaufhörlich in Fällen. So Enríquez über das Corona-Crescendo, des-
sen dunkle Seite – die Sterblichkeit – publik wird, während von Heilung
kaum die Rede ist. Vor dieser Bemerkung, in dem von der UNAM initi-
ierten Diario de la PandemiaVgl. insgesamt: https://www.revistadelaunivers... (25.2.2021)., will die Autorin, weil sie Angst vor dem
Virus hat, gar keine Ansicht haben. Ähnlich Lina Meruane, Verfasserin von
Viajes viralesLina Meruane, Viajes Virales, Santiago de Chile: Fondo de Cultura Económica 2012.. Ist das Unvermögen, wenn sich eine Spezialistin viraler
Narrative und eine autora gótica nicht zum Szenario äußern? Bei Enríquez
schimmert sogar eine Art Ekel durch, Ekel davor, etwas sagen zu müssen.
Das Mandat für Echtzeit-Texte trifft auf Autorinnen, die einerseits immun,
andererseits nicht immun sind. Sie haben keine Distanz, sind erregt,
nicht effektiv. Dabei ist dieser Krise so viel Distanz inhärent.
Was an der Krise erregt was? Gibt es zum Bei-
spiel ›medizinisch Andere‹ in dieser Pandemie, die Ekel erregen können?
(In ekeltheoretischen SchriftenVgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. heißt es, Ekel habe eine Schutzfunktion,
er bewahre vor der Invasion von Toxischem, Pathogenem. Vor Parasiten,
Maden, Würmern. Ekel aber antizipiere auch das eigene Ende, allerdings
nicht als erhabenen Akt des Vergehens, sondern als schleimige Trans-
formation.) Sind es die, die um Luft ringen, die wir aber nicht sehen? Die,
deren Haut an den Füßen Symptome aufweist? Erinnern die Bilder von
diesem dermatologischen Krankheitsbild nicht an etwas anderes? Wel-
che Gestalt hat die Krankheit? Gibt es eine Covid-19-Phänomenologie? Es
scheint, wir müssten uns selbst ein Bild machen. Paul B. Preciado hat
über die eigene Erkrankung geschriebenPaul B. Preciado, »Vom Virus lernen«, HAU, 7.4.2020, https://www.hebbel-am-ufer.de/hau300/vom-virus-lernen/? fbclid=876 (25.2.2021).: Oregano-Öl habe das Atmen
wieder leichter gemacht. Der Cocktail hat aber nicht für die Atemnot im
Anthropozän gereicht. Theresa Schubert ruft ein selbstkannibalistisches
Zucht-Labor ins Leben: Iss dich selbst, wenn du Fleisch essen musst. Ein
Exerzitium an der Ekel-Front ... welche Gestalt und welche Genetik soll
das Fleisch haben, das der Mensch isst, welche Gestalt und welche Gene-
tik die Krankheit, die die Menschheit in die Knie zwingt?
Bislang weiß ich nicht – weißt du es? –, wie die
Krankheit sich anfühlt. Die Körperempfindung der Krise scheint tabu:
einerseits das konkrete Erleben der Krankheit, andererseits das lang-
zeitige Erleben des social distancing – oder, die ›bessere Alternative‹,
body distancing bzw. physical distancing. In Le ParasiteMichel Serres, Le Parasite, Paris: Grasset 1980. hat sich Michel
Serres unter anderem mit den globalen Konditionen von Kommunikation
und der Möglichkeit ihres Hackings befasst: der Parasit als eine mikro-
skopische Interferenz, und als Medium der Relation. Serres versteht
das Komplexerwerden von (gesellschaftlichen, informativen) Systemen
als Immunisierung. Preciado sinniert vierzig Jahre später darüber, ob
Foucault sich während des Lockdowns hätte einsperren lassen. Was würde
Serres zur Covid-19-Krise sagen? Ein Organismus lebt besser mit seinen
Mikroben, apostrophiert dieser Philosoph seinerzeit, er gesunde an ihnen.
Die evolutionäre Komplexität des Parasits sei darüber hinaus ein Meis-
terprodukt der Evolution (und habe diese selbst hervorgebracht). Deswe-
gen müsse die Erforschung der parasitären Funktion (global, formal und
operativ) durchgängig, durchlässig sein. Vor allem aber erklärt Serres,
es gebe keine Kommunikation ohne Interferenz, weil keinen Kanal ohne
Rauschen. Erinnern wir uns an Jodie Foster als Ellie Arroway in Robert
Zemeckis Contact (1997), der nach dem gleichnamigen Roman (1985) des
Exobiologen Carl Sagan gedreht wurde. Nach einer Reise in den Weltraum
hat die Protagonistin Aufzeichnungen bei sich, die bloß noch als Rauschen
zu erkennen sind (Arroway sei Wahrnehmungsstörungen anheimgefallen,
heißt es). Serres fordert Einlass für das Rauschen: Der Parasit möge an
den Tisch gebeten werden, damit er die Tafelordnung destabilisiere, die
Hausordnung belagere. Die Beibringung seiner Energie und Information,
deren Eingemeindung, könne zu einer neuen Ordnung führen.
Fünf Jahre nach der parasitären Kommunika-
tionstheorie – die den Parasiten auch explizit als distant-produktiven
Opponenten des Kapitalismus zentriert –, sucht Serres in Les cinq sensMichel Serres, Les cinq sens. Philosophie des corps mêlés 1, Paris: Grasset 1985.
nach einer Ästhetik der Sinnlichkeit. Er entwirft eine tangible Erkennt-
nislehre, lanciert eine Art philosophische Kontakt-Anzeige. Die philoso-
phie des corps mêlés, die Serres darlegt, ist gleichzeitig ein Aufruf undeine Vorführung darüber, wie von der Theorie zur Praxis übergegangen
werden, wie hier eine Kontaktzone entstehen könne. Kein kämpferisches
und auch kein liebendes Ereignis ohne Kontakt! In der von Transmissio-
nen und Nachrichtendistribution dominierten Welt sollen deswegen die
Situationen des Körpers ermessen werden. Seine Situiertheit, seine
Signale: Atem, Schweiß, Müdigkeit. Diese resultieren nicht mehr aus der
körperlichen Anstrengung, sondern sind nach einer Kultur der Hygiene
(und Aseptik) ausgerichtet (bei Preciado heißt es Pharmakopornographie).
Sind wir immer noch Körper? Ja. Und wir sind
sie mit unserer Haut (wie auch Serres insistiert). Die Haut ist Grundsatz
wie Varietät, Verteilung und Ausbreitung; ein Organon, in dem Außen
und Innen in Berührung kommen. Die Haut ist der Eingang zur Welt, das
synästhetische Allesorgan, das Mischorgan: »la peau intervient entre
plusieurs choses du monde et les fait se mêler«.Ebd., 97. Doch in der Corona-
Krise, von der wir nicht wissen (von der nicht einmal die Epidemiologie
noch die Futurologie weiß), wieviel Ankündigung von etwas anderem sie
ist, verstetigt sich womöglich, dass dich, dass mich niemand berührt. Ich
muss mich zusammenfalten, um zwei zu werden und meine Haut in der
zusammengefalteten Welt zu spüren. Dabei vernehme ich ein Rauschen:
Ich kann nicht wissen, wie lang das so weiter geht.
Lina Meruane hat in ihrer Studie zur viralen
Literatur in Lateinamerika die Reise des HI-Virus, die Kontaktverläufe
eines einst effektiven kosmopolitischen Zirkulierens lustvoller Körper
verfolgt. Sie hat eruiert, wie diese sich konstant deplatzierende Körper-
Gemeinschaft fragil und »terminal« wurde, und eine »Cocktail«-Genera-
tion folgte, in der sich bis dato die Angst vor dem Kontakt und jener vor
der Kontaktlosigkeit gleichermaßen eingeschrieben hat. AIDS als major
metaphor. Über selbige spricht auch Jean BaudrillardJean Baudrillard, La Transparence du mal: essai sur les phénomènes extrêmes, Paris: Galilée 1994. (1994) und führt
in seinen Überlegungen zur Viralität noch den Begriff der Prävention an,
um ihn sogleich zu desavouieren. Eine virale Gesellschaft könne nichts
mehr vorwegnehmen, sondern nur noch immunologisch zu reagieren
versuchen. In der Covid-19-Krise liegt die Paradoxie darin, dass wir zwar
distanziert zu sein haben, über die offiziellen Abwehrmaßnahmen aber
dennoch miteinander verbunden sind. Wir sind ein kollektiver Körper
aus distanzierten (Par-)Zellen, aus denen einige, wie wiederum Preciado
phantasiert, ausscheren und mutieren könnten (wohin, ist nicht ganz klar,
weil das Virus überall ist, in biologischer und elektronischer Gestalt).
Baudrillard wie Serres haben überlegt, ob das
Virus nicht auch eine Funktion für unser System oder gar eine anti-
dotische Funktion gegen den Tod besitzt. Gut, dass die Autoren keine
Antwort wussten. ŽižekSlavoj Žižek, Pandemic! COVID-19 Shakes the World, New York: Polity Press 2020. indes totalisiert die Krise nach seinen ersten
Äußerungen zur transversalen Solidarität, dann überträgt er trauer-
psychologische Kategorien auf sie, um schließlich die Figur des Virus
biologisch zu klassifizieren und dann die Ansteckungsmetapher zu ver-
wenden. Ein Beispiel dafür, wie die Philosophie virologische Pop-ups
produzieren kann. Bei Žižek sprießt es sogar so sehr, dass der Autor
noch behauptet, eine personifizierte Natur habe das Virus als Drohung
an die Menschheit gesandt.
In der kontaktlosen Krise allerdings bin ich inten-
siv alleinstehend, und das trifft auf das Virus, das mich betreffen kann,
genauso zu wie auf die Prophylaxe (wenngleich die zuletzt Genannte kol-
lektiv verordnet ist). In dieser Intensität aber treffe ich auf Studierende.
Wir lesen Artauds Text zum Theater der PestAntonin Artaud, Le Théâtre et son double [1938], Paris: Gallimard 1985. und destillieren den Begriff
der »spirituellen Physiognomie«. Ebenso sehen wir uns die Überlegungen
zum Atem bei Artaud an, die Bedeutung des Parasits als interferierenden
Kommunikator in Camus’ La peste; später Caicedos »Infección«.Albert Camus, La Peste, Paris: Gallimard 1947; Andrés Caicedo, »Infección« [1966], in: A.C., Cuentos completos, Bogotá: Alfaguara 2014, 21–25. Wir sit-
zen an den Bildschirmen und atmen; ein paar Studierende sind abwesend
im Semester, weil sie die Quarantäne in Dörfern absitzen, in denen die
Stromversorgung prekär ist, oder weil sie von ihrer Familie während eines
Geschlechtsumwandlungsprozesses drangsaliert oder ignoriert werden.
Wie der Atem bei Artaud zwischen Publikum
und Darstellenden geteilt wird, teilen wir eine von außen gestörte quasi-
zönästhetische Situation, ein gemeinsames und doch parzelliertes Leib-
gemeingefühl. Ein Student läuft die drei Stunden des Seminars mit seinem
Computer die Wohnung auf und ab, bis in die dritte Woche nach Beginn
der Quarantäne. Dann hält er still. Unsere Bildschirme somatisieren –
ist das abnorm, oder sind wir in einer Erzählung von Mariana Enríquez?
Gleich zu Beginn der Quarantäne, mitten im kolumbianischen Semester,
im März 2020, wird die argentinische Psychoanalytikerin Alejandra Kohan
in einem Radiointerview gefragt, ob sie ihre Patient*innen vermisse. Sie
ist dazu eingeladen, über die noch nicht abschätzbaren psychologischen
Folgen der Corona-Krise zu sprechen. Auf die Frage weint sie. Der Radio-
sprecher ist kurz wortlos. Ich stelle mir vor, wie wir zusammen an den
Bildschirmen weinen. Eine Studentin macht es vor, wir lesen mittlerweile
Caicedo. Sind wir nun extensiv? Sind wir schon befallen, ohne, dass etwas
in uns eingedrungen ist?
Die Einwirkung der sanitären, sozialen, ökono-
mischen und ökologischen Krise wird vielleicht in den letzten Wochen
des Jahres 2020 deutlicher (von diesem Jahr wird mitunter gesagt, es
finde gar nicht statt, als sei es, Baudrillard zuliebe, der vom Aussetzen
des Jahrs 2000 sprach, verspätet aus dem Rahmen gefallen). Ich rechne
die Tage hoch und frage mich, wie ich weiter meinen Körper platziere,
nicht nur in der verordneten Distanz im öffentlichen Raum, sondern
auch am Bildschirm. Lina Meruane berichtet, manche Professorinnen
würden, weil sie Kinder hätten und zuhause keine Ruhe fänden, Fern-
lehre in ihren Autos machen. Trotz dieses ungleich gravierenderen Bil-
des bleibt die Parallele bestehen, auf der ich mich frage, wo ich meinen
Körper, meinen vitalen Körper – auch meinen Körper des Begehrens –
platziere, um diese Zeit zu durchqueren, von der ich noch nicht weiß,
wann sie wirklich richtig spürbar wird.
Ich bin wieder am Bildschirm. Wir debattieren
noch einmal über Le Parasite, anschließend folgen wir dem Tast-Text
José SaramagosJosé Saramago, Ensaio sobre a ceguera, Alfragide: Caminho 1994.; die Romane und Erzählungen, die wir lesen, mutie-
ren zu Hyphen. Wann werde ich diese Erfahrung im Kopf nachspielen
können (und wollen)? Womöglich werde ich erst dann ihre affektive
Dimension in aller Dichte und Tiefe empfinden. Gerade spielen wir
bloß etwas vor. Bei Artaud greift die Pest auf schlafende Bilder zu,
um diese in extremere Gesten zu verwandeln sowie die Kette aus Ele-
menten, die sind und denen, die nicht sind, umzukehren. Doch jetzt
ist Covid-19. Befinden wir uns in einem Hyperraum von Baudrillard?
Der Eindruck, einen Körper zu haben, ein Körper zu sein, wie auch
Jean-Luc Nancy betont, er ist in der näheren Zukunft womöglich
noch kapitaler als jetzt. Ich versuche, die Empfindung zu antizipie -
ren, die entstehen könnte, wenn Echtzeitnotwendigkeit und body
distance zum Paroxysmus werden. Meine Vorstellungskraft aber löst sich
in der Verzögerungszeit auf. Das Gedankenexperiment vollzieht sich bislang
nur latent.
IM JAHR DES PARASITEN
Denn in der gebotenen medialen Übertragung der Physis ergibt sich
unweigerlich ein akut auftretendes Delay – oftmals kaum merklich,
das das Präsens der Akte jedoch niemals gleichzeitig eintreten lässt.
Das geringste Problem ist dabei noch das Austreten der Worte unab-
hängig von der Lippenbewegung – typisches Syndrom der asynchro-
nen Anomalia. Sie gehört unweigerlich zur Mediatisierung unserer
Existenz, wenn diese sich auf die verbal-kommunikativen Funktions-
weisen reduziert. Auf trügerische, nur virtuelle Nähe gebracht wird
der Informationsaustausch während der Zoom-Video-Kommunika-
tion, die von technischen Artefakten überlagert wird. Bestenfalls
kristallisiert sich der Mensch in ihr zur reinen Information, was
davon abhängt, ob die Technologie des Kanals beherrscht wird.
In Echtzeit: Ich schalte mein Mikrofon an und
aus, gebe mir einen neutralen Hintergrund. Ziel ist, alle Spuren zu
verwischen, die auf das Lokalkolorit meines Zimmers verweisen und
niederschwellige Botschaften aussenden. Alles soll möglichst unper-
sönlich und körperlos werden, ein Nicht-Ort oder Nirgendwo, und
dabei meine Worte zur Geltung kommen lassen. Das Medium, mit
dem die Message transportiert wird, ist jetzt keine anthropologisch
hervorgebrachte Prothese eines als Mängelwesen angenommenen
Menschen mehr, von dem noch Arnold Gehlen ausging. Das Medium
ist auch nicht mehr die Botschaft, wie es zu Marshall McLuhans Slo -
gan wurde. Jetzt substituiert die Festplatte mein Gehirn, das Gehäuse
des Rechners ist mein Körper, das Mikrofon der Mund, die Lautspre-
cher die Ohren, was durch Kopfhörer deutlich markiert wird. Meine
Sinne sind in der audiovisuellen Übertragung meiner Existenz der
Apparatur angeheftet, nicht umgekehrt. The medium is the body.
Während wir mit den devices eins werden,
mutieren wir unweigerlich zu sesshaften Lebewesen, darin den
Pilzen nicht unähnlich. Bedeutungshyphen der exzessiv gewordenen
Lektüre transformieren sich in die unsichtbaren Hyphen, die
während der abgesessenen, zäh werdenden Echtzeit in den Boden
hineinwachsen. Nur wenn wir das Laptop in die Hand nehmen und
auf- und ablaufen wie der Student des Seminars, entkommen wir
unserer eigenen Pilzwerdung.
Das beschriebene Verhalten des Studenten,
vielleicht eine Form des Hospitalismus, erinnert an die Eingangs-
sequenz von Parasite (2019) des Koreaners Bong Joon-ho. Wir sehen,
wie der Protagonist mit hochgestrecktem Mobiltelefon versucht, das
Netz des Nachbarn einzufangen. Er bewegt sich durch die Souterrain-
wohnung wie durch ein Labyrinth, bis er neben der Toilette, auf
Straßenniveau, endlich Empfang hat. Parasite läutete das Jahr mit
einer spektakulären Oscar-Vergabe ein (der südkoreanische Film hat
als erstes nichtenglischsprachiges Werk gewonnen), ganz als habe
die Academy of Motion Picture geahnt, dass 2020 das Jahr des Para-
siten würde. Parasite ist ein Intruder-Thriller, in dem sich eine am
Existenzminimum lebende Familie mit gefälschten Urkunden und
Visitenkarten lukrative Dienstposten in der reichen Wirtsfamilie
erschleicht. Diegetisch betrachtet sind sie die Parasiten, die, um sich
im fremden Organismus ansiedeln zu können, erst einmal Platz für
sich schaffen und das vorhandene Personal ausschalten. Skrupel-
los eliminieren sie mit fiesen Mitteln ausgerechnet jene, die das
soziale Schicksal mit ihnen teilen – ein brutaler Stellungskampf, um
das eigene Überleben zu sichern. Der Inhalt verschmilzt gekonnt mit
dem Genre.
»Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen
Natur, in seinem Sein zu verharren.« Auf der Suche nach der Wesen-
heit des Virus entdecke ich in Michaela Otts AffizierungMichaela Ott, Affizierung. Überlebensaffekte im zeitgenössischen Film, Hamburg: Textem 2018, 25. diese
Fährte zu Spinozas Ethik. Im Kapitel »Von dem Ursprung und der
Natur der Affekte« führt dieser den Beweis vor: »Kein Ding hat etwas
in sich, von dem es zerstört werden könnte oder das seine Existenz
aufhöbe; vielmehr steht es allem, was seine Existenz aufheben kann,
entgegen; mithin strebt es, so viel es kann, d. h. gemäß der ihm eige-
nen Natur, in seinem Sein zu verharren.«Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt [1677], neu herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner 2007, 239 (Lehrsatz 6). Existenz fällt bei Spinoza
mit Essenz zusammen: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem
Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz
ebendieses Dinges.«Spinoza, Ethik, 239 (Lehrsatz 7).
Nirgendwo erfüllt sich dieses Einswerden des
Seins mit dem Wesen so sehr wie im Virus. Virus ist Essenz, Erb-
masse und DNA, ist reinstes Lebenselixier. Genuin ist es jedoch auf
eine Wirtszelle angewiesen, um die Replikation des Erbmaterials zu
vollziehen. Das Virus ist der Prototyp eines Parasiten.
»Im Gegensatz zu Bakterien, die wir nicht
nur als Krankheitserreger, sondern in vielen Fällen auch als helfende
Freunde kennen, begegnet das Virus dem Organismus nur als Para-
sit«, schreibt der Heidelberger Virologe Alfred Grafe 1977 in Viren –
Parasiten unseres Lebensraumes. Auffallend die Anthropomorphi-
sierungen. »Das Virus ist für die lebende Zelle ein unerwünschter,
zehrender Gast, dessen Ansprüche vom Gastgeber mit pathoge-
nen, toxischen, mutagenen, teratogenen oder onkogenen Schäden,
die oft zum Tode führen, bezahlt werden müssen. Virus bedeutet
Gefahr, weil es überall in der Absicht auftritt, sich Leben dienstbar
zu machen.«Alfred Grafe, Viren. Parasiten unseres Lebensraums, Berlin und Heidelberg: Springer 1977, 103.
Gefahr, Risiko und Angst: Das ist die Trias, die
unseren Umgang mit Corona bestimmt. Spinoza hingegen sagt: »Es
geschieht nichts in der Natur, was ihr selbst als Fehler angerechnet
werden könnte.«Spinoza, Ethik, 221 (3. Teil, Vorwort). Die oftmals mit Komplikationen oder gar tödlich
verlaufende Affektion durch das Virus im organischen Befall lässt
heute kaum Spielraum für eine positive Affizierung. Anders denken
die Virologen. Die Faszination des Virus begründe sich in dem evo-
lutionären Schub, den der Parasit leistet, erklären sie. Sie sind immer
auf Zukunft orientiert: als Mutanten (durch Veränderung der eige-
nen Gestalt) und als Mutatoren (durch Umprogrammieren der Wirts-
zellen). Als raffinierte Überlebenskünstler (siehe Spinoza) haben
Viren in der Evolution der Lebewesen auf diese Weise auch lebens-
relevante DNA verbreitet. Mindestens acht Prozent des menschli-
chen Genoms stamme von Viren ab, vermeldet das Helmholtz-Zent-
rum.GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in der Helmholtz-Gemeinschaft (Hg.), Vom Schlüssel zur Funktion. Genforschung in der GSF, München: GSF o.J., 24..
Das Journalismusportal RiffReporter schreibt, im April 2020:
»Wer die richtige genetische Ausstattung hat, wird besser mit dem
Erreger fertig und überlebt.«Henning Englen, »Wie Viren die Evolution des Menschen beflügelten«, https://www.riffreporter.de/de...(31.1.2021) Während bereits Nachrichten von der
Triage in Italien, Frankreich und New York um die Welt gehen.
Noch im März 2019, exakt ein Jahr vor dem
europaweiten Corona-Shutdown, meint der Virologe Christian Dros-
ten: »Das Bild, das viele von den ›bösen‹ Viren haben, wandelt sich.«
Er begründet das mit ihrer Funktion als wichtige Stellgröße in den
Ökosystemen: »Viren befallen Füchse, wenn ihre Beute, die Hasen,
eine Pause braucht. Oder die Hasen, damit sich die Karotten erholen
können. Selbst Karotten haben Virusinfektionen.«Carolin Binder, »›Viren haben auch gute Seiten‹. Interview mit Christian Drosten«, in: Focus Gesundheit »Starke Abwehr«, 7.3.2019, https://focus-arztsuche.de/mag... (26.12.2020).
Wenn nun der Mensch vom ›Coronavirus‹
SARS-CoV-2 befallen wird, geschieht dies am Ende gar, weil das
Ökosystem Erde eine Pause vom Menschen braucht? Hat doch alles
einen Sinn? Bereits im März 2020 gingen Satelliten-Aufnahmen
vom blauen Himmel über Wuhan um die Welt. Die Luftqualität habe
sich drastisch verbessert, es sei das erste Mal, dass sie einen so
dramatischen Schadstoffrückgang über ein so weites Gebiet sehe,
wird eine Umweltforscherin vom Goddard Space Flight Center der
NASA zitiert.»Coronavirus sorgt in China für bessere Luft«, in: Süddeutsche Zeitung, 1.3.2020, https://www.sueddeutsche.de/wi... Auch der Himmel über Europa ist strahlend blau. Es
heißt: weil die Kondensstreifen wegfallen. Die turbokapitalistische
Moderne hält den Atem an.
Dann aber wird mitten im November-Shut-
down der Flughafen Berlin Brandenburg eröffnet. Die Schonzeit fürs
Klima ist vorbei, die Zukunft hat schon wieder aufgehört. Logischer-
weise müssten wir nun eigentlich aus Corona entlassen werden, oder
nicht? Wir aber sitzen zuhause und zoomen unsere Mitmenschen an.
Wenn auch unter großer Qual. Wir leiden
zunehmend. Spinoza schreibt über das Leiden: »Dagegen, sage ich,
erleiden wir etwas, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer
Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind.«Spinoza, Ethik, 223 (3. Teil, Definitionen). Aber
es gelingt uns zunehmend besser, uns zu dematerialisieren und dem
digitalen Medium anzupassen, das nach der reinen Information ver-
langt. Ist das die Viruswerdung unserer Existenz? Ich beherrsche
Zoom immer virtuoser. Mit Icons – einem nach oben gerichteten
Daumen oder symbolisiertem Händeklatschen – erteile ich auf kin-
dische Weise meine Zustimmung. Wo aber ist der Daumen-runter-
Button? Ablehnung ist als negative Äußerung in den neuen Kommu-
nikationsmedien nicht vorgesehen. Wortmeldungen dann bitte in
den Chat, der Moderator trägt das gerne vor. Nein, bitte lieber nichts
sagen, das hält nur auf.
Apropos Zoom: »Ein Affektbild ist eine Groß-
aufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht«, schreibt Gilles
Deleuze in Das Bewegungs-BildGilles Deleuze, Das Bewegungsbild. Kino 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 123.. Wird unser Körper im digitalen
Kommunikationsmedium auf die nahe Einstellung herangezoomt,
schrumpft der Ausschnitt auf die Größe einer Postkarte oder gar
Briefmarke. In unserem Gesicht ist kein Affekt zu sehen. Zoom (oder
ähnliche Kommunikationsmedien) zerstören den Affekt. Außerdem:
Hier gibt es weder Berühren noch Fühlen. Wenn wir jedoch weder
tasten noch greifen, begreifen wir auch nicht. »La vraie condition
de l’homme, c’est de penser avec ses mains«»Die wahre Bestimmung des Menschen ist, mit den Händen zu denken.« [Übers. d. A.], zitiert mit dräuender
Stimme Jean-Luc Godard in Le livre d’image (2018) den Schweizer
Philosophen Denis de Rougemont, während er mit tastenden Hän-
den Filmstreifen montiert. »Le cinéma: une forme qui pense«»Das Kino: eine denkende Form.« [Übers. d. A.] hat
er deshalb in großen Lettern auf Texttafeln in Histoire(s) du cinéma
(1988) geschrieben. Godards atmende Stimme bringt bei der Vor-
führung aus sieben Lautsprecherboxen und einem Subwoofer den
Kinosaal zum Beben und entlädt sich final in einem gewaltigen Hus-
ten. Die Filmaufführung von Le livre d’image: ein vieldimensionales
Corona-No-Go.
Als ›Philosoph der Berührung‹ macht wiede-
rum Jean-Luc Nancy im Mai 2020 deutlich, dass das Sehen für die
Erkenntnis nicht genügt.
Das Fühlen spielt sich in der Nähe, im unmittelbaren
Kontakt, ab. Es verbindet sich mit allen anderen Sinnen.
Man möchte berühren, was man sieht. Alles, was
einen sensibilisiert, hat eine Qualität des Fühlens.
Wenn ich etwas sehe, aber nichts fühle, ist es leer,
seiner Sensibilität entleert.Astrid Kaminski, »›Der Körper als Seele.‹ Interview mit Jean-Luc Nancy«, in: taz, 25.5.2020, https://taz.de/Philosoph-ueber... (26.12.2020)
Die Leere im zweiten Shutdown ist raumgreifend.
Ich merke am eigenen Leib, dass sich die
Affektion durch Corona in allen fünf Sinnen vollzieht. In zweien bin
ich schon betroffen. Während ich auf die digitalen Medien angewie-
sen bin, um mein Leben weiterzuführen, reduziere ich mich auf die
Augen und Ohren. Aber ich bin wenigstens nicht Wirt. Denn wenn
das Virus die körperliche Grenze durchbricht, versagen auch der
Geruchs- und Geschmackssinn. Außerdem schaltet das Virus nach
und nach die natürlichen Medien des Körpers aus: zuerst die Haut
und den taktilen Sinn, wenn die Berührung während der Kontakt-
beschränkung verwehrt wird. Dann den Geruch und Geschmack,
vielfach dokumentiert als typische Krankheitssymptome. Am Ende
setzt das Atmen aus.
Das Gedankenexperiment vollzieht sich jetzt letal.
VIRALE UND MEDIALE RÄUME
Die Menschen sollen sich so verhalten, als hätten sie das Virus
bereits. Nur diese Strategie könne das inzwischen noch besser
übertragbare und mutierte Virus SARS-CoV-2 bremsen, heißt es in
einem Appell des britischen Gesundheitsministers. Die Menschen
sollen die Krankheit fingieren. Auch wenn das Fingieren im Gegen-
satz zur Simulation das Realitätsprinzip, so Jean Baudrillard, nicht
antastet, verändert es die Realitätswahrnehmung doch gewaltig.
In diese Aufforderung fühle ich hinein: Die Vorstellung verwan-
delt meinen Atem in den Transportraum des Virus, sie erzeugt eine
kranke Atmosphäre um meinen eigenen Körper, einen Radius wie
ein aufgeblasener Ballon. Kommt mir nicht zu nahe! Bei Theater-
proben diesen Sommer sollen die Schauspieler*innen an manchen
Orten Regenschirme gehalten haben, um den unnatürlich erschei-
nenden Abstand dauerhaft zu halten.
Ich imaginiere Weihnachtsfeiern, bei denen
sich Familienmitglieder mit selbst gebauten Abwehrtreibhäusern
aus Frischhaltefolie einrüsten, um sich trotzdem an einem gemein-
samen Ort begegnen zu können. Das Virus kann sich auf das starke
soziale Netz aus Freundschaft und Familie gerade in der für viele
hoch emotionalen Bindungszeit am Ende des Jahres verlassen.
Es spekuliert gewissermaßen auf die engen Bindungen sozialer
Lebensformen. Es sei denn, wir übertragen (freiwillig oder unfrei-
willig) auch unsere intimsten Verbindungen in die medienökologi-
schen Bedingungen, die uns das World Wide Web in Assemblage mit
Rechenzentren, Flüssigkristallbildschirmen, Kameras, Mikrofonen
und Lautsprechern bietet. Diese devices dienen als höchst empfind-
same Sensoren zur Übertragung unserer körperlichen Kommuni-
kationseffekte: Gesten, Stimme, Blicke. Aber auch zur Abwehr der
feuchten Begleiter unserer Sprachäußerungen im Medium Luft. Der
Transitraum der Aerosole wird beim Übertrag der kommunikativen
wetware in die neuen Kanäle wie beim Gang durch eine Reinraum-
schleuse bereinigt. Während mein Bild und mein Ton online geht,
bleibt das Milieu, in dem ich atme und lebe, mein ungeteilter Virus-
raum. Dem Studenten, der während meiner Zoom-Veranstaltungen
rauchte, konnte ich diese Gewohnheit großzügig zugestehen. Aber
auch im Sommer, als ich mit Kolleginnen in Los Angeles und Reno
zoomte, während bei ihnen die Luft von den Waldbränden stickig
war, bemerkte ich, was es bedeutet, nicht die gleiche Atmosphäre
zu atmen.
Das Medium Zoom steht für mich dafür, dass
mir beim Sprechen niemand mehr direkt in die Augen schaut. Auch
für das Tool Zoom gilt die generelle Zoom-Kritik, dass es keinen
weichen Zoom gibt, der ohne zu ruckeln wie beim berühmten Film
von Charles und Ray Eames Powers of Ten aus dem Jahr 1977 durch
Raum und Zeit und durch verschiedene Skalierungen schwebt. Die
Idee eines Zoom ist eine Metapher. Sie ist ein visueller Trick der
optischen Medien. »Connectivity, yes; scale, no«, schreibt Bruno
Latour am Ende seines Essays »Anti-Zoom«.Bruno Latour, »Anti-zoom«, in: Contact. Catalogue de l’exposition d’Olafur Eliasson, Paris: Flammarion 2014, 124. Jeder Zoom ist ein
Akt der Gewalt, bei dem etwas Essentielles verloren geht. Der Film
der Eames im Auftrag von IBM beginnt beim Picknick eines US-ame-
rikanischen, weißen Pärchens auf einer Decke an einem See in Chi-
cago. Würden wir aus dem Weltall in die Körper (genau genommen
durch die rechte Hand des Mannes) des auf einer Decke liegenden
Pärchens auf die 400 Nanometer herunterzoomen, die ein Corona-
Virus klein ist, gäbe es dort kein Licht mehr, keinen Schatten und
keine Farben.In der neuen Adaption dieses Films dringt die Kamera nicht mehr in eine Hand, sondern in das blaue Auge einer Frau ein. Der Film wurde zum mytho-motorischen Antrieb
für Google und die Google Earth Engine, Sender und Empfänger sind
hier nahtlos miteinander verbunden.
»Parasit sein heißt: bei jemandem speisen«Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, 17.,
schreibt Michel Serres 1980. Jeder Mensch ein Wirtshaus – oder ein
Gasthaus? Wer hier das Sagen hat, ist die entscheidende Frage bei
der Wahl der Metapher. Die Metaphern Gast und Wirt in der Parasi-
tologie entstammen der Sitte der Gastfreundschaft. Sie beleuchten
die Stoffwechselfrage. Der Parasit isst die Kost aus einer fremden
Küche und an einem fremden Tisch, dies zeichnet jeden Gasthaus-
besuch aus. Ein Gasthausbesuch steht für eine temporäre Symbiose.
»Das Verhältnis zu einem Wirt setzt einen permanenten oder quasi-
permanenten Kontakt zu ihm voraus [...] Es setzt voraus, dass diese
nicht nur von ihm, sondern auch in ihm leben, durch ihn, mit ihm
und auf ihm.«Ebd., 16: Aber wer darf an der reich gedeckten Tafel zugrei-
fen? Die »Beziehung des Eingeladenseins ist schon bald nicht mehr
einfach. Geben und Nehmen, auf Tischtuch oder Teppich, gehen
durch eine Black Box hindurch.«Ebd. Sind die Maßnahmen zur Ein-
dämmung der Pandemie die Störer in Serres’ System aus Sender
(Parasit) und Empfänger (Wirt)?
Und auch die Zeche prellt das Virus nicht,
wenn man den langfristigen Blick der Evolution anwendet. Zu diesen
Fragen gilt es Biolog*innen zu lesen. Lynn Margulis, die gemeinsam
mit James Lovelock die Gaia-Hypthese entwickelte, schrieb 1998 in
Der symbiotische Planet, dass Viren zu keinem der fünf Reiche der
Lebewesen gehören.Lynn Margulis, Der symbiotische Planet oder wie die Evolution wirklich verlief, Frankfurt a.M: Westend 2017. Sie entstanden vermutlich nach den Bakte-
rien, sind also schon länger da als Algen, Pflanzen, Pilze oder Tiere.
Viren leben nicht, denn solange sie keine lebende Zelle erreicht
haben, tun sie nichts. Deshalb sind sie auch keine Parasiten im
strengen Sinne, die durch einen Wirt überleben, dennoch pflegen sie
parasitäres Verhalten. Viren nutzen den Stoffwechsel ihres Wirtes,
der ihnen selbst als Kriterium des Lebendigen fehlt. Sie sprengen
also unsere Vorstellungen des Lebendigen, weichen diese Kategorie
auf. »Wie die symbiontisch lebenden Bakterien, so sind auch Viren
eine Quelle der entwicklungsgeschichtlichen Vielfalt. Die Popula-
tionen der virusinfizierten Lebewesen erhalten ihren Feinschliff
durch natürliche Selektion.«Ebd., 87f. Margulis hebt Viren in ihrer Rolle
als Triebkraft der Evolution hervor, denn Viren helfen nicht nur bei
der Entwicklung neuer Proteine, sie sind auch Teil unseres eigenen
Erbgutes. Gleichzeitig spricht aus diesem Satz die Kälte des evolu-
tionären Blicks auf die unmoralische, »natürliche Selektion«. Auch
wenn die Gaia-Hypothese dafür steht, dass es keinen Plan, keine
Moral hinter den Feedback-Schleifen des Systems Erde gibt. Dann
geht es aber weiter: »Übermäßiges Wachstum der Viren und anderer
Organismen ist aber in der Regel auf eine Schwächung und Zerstö-
rung des Ökosystems zurückzuführen. Von unseren Viren können
wir ebenso wenig geheilt werden, wie man uns vom Stirnlappen des
Gehirns befreien kann: Wir sind unsere eigenen Viren.«Ebd., 88. Stehen
wir also im Kampf gegen uns selbst?
Anders als die Metaphorik des Gastes führt
die Metapher des Freund / Feind-Dualismus in eine konfrontativere
Richtung: Hier stehen wir im Krieg gegen die Viren, die als Zell-
piraten unsere Körper attackieren. Die Viren bekommen den Platz
der Störung zugewiesen. Sie stören das System, deshalb müssen sie
bekämpft und vernichtet werden. Der Humanökologe Andreas Malm
betont in seinem Buch Klima|x, das er während der ersten Welle der
Covid-Pandemie im April 2020 verfasste, wie das System aus Kolo-
nialismus, Raubbau an der Natur, Wildtierhandel und Entwaldung
systematisch zum zoonotischen Spill-Over führt. Mobile, interme-
diäre Spezies wie Fledermäuse, Kamele, Schweine oder Bisamratten
treten als Überträger und »Brückenwirte« für Viren auf den Plan. Sie
bieten das »Inkubationsbett« für die Viren, die ihnen selbst meist
nichts anhaben. Die Viren – das lässt sich historisch zeigen – sprin-
gen dort über, wo der Druck oder Stress auf das Ökosystem massiv
gestiegen ist, wo die Biodiversität etwa aufgrund von exzessiver Ent-
waldung rapide schwindet. Zum Verbreitungsnetz der Tiere tritt das
globale Transportwesen hinzu. Malm zitiert den Medizinhistoriker
Mark Harrison, der beschreibt, wie sich die Spanische Grippe noch
vergleichsweise langsam von Bord der Dampfschiffe ausgehend in
wenigen Hafenstädten verbreitete. Heute sind es Autos, Züge und
Flugzeuge, die die Krankheiten großräumig verteilen, »als ob das
koloniale Transportnetz in Vorbereitung auf die Pandemie geplant
worden wäre.«Mark Harrison: Contagion. How Commerce Has Spread Desease, London: Yale University Press 2012, zitiert nach Andreas Malm: Klima|x, Berlin: Matthes & Seitz 2020, 109. Malm führt diesen Gedanken weiter.
»Hochoktaniges Benzin ist in der Lage, infizierte Menschen in einem
Bruchteil der Zeit, die Kohle dafür benötigen würde, an ihr Ziel zu bringen.«Ebd., 110.
Seine Schlussfolgerung lautet, es gelte das Kapital, in dessen Namen
alles Wilde an der Natur kahlgeschlagen und vermarktet wird, und
welches Zeit und Raum komprimiert, als »Metavirus und Schirm-
herrin der Parasiten« anzuerkennen.Ebd., 117. Also nicht dem Virus, son -
dern dem Kapital den Krieg zu erklären.
Wer kämpft also gegen wen? Wenn der
Pandemie heute der Sinn verliehen wird, dass dies die Rache der
Natur gegen die Menschen sei, ist dies allzu menschlich. Die Inter-
pretation passt so gut in unsere Erzählweisen von Schuld, Sühne
und dem vierten Pestilenzen-bringenden apokalyptischen Reiter.
Wir haben ein schlechtes Gewissen. Wie können wir denken (und
hier gilt es das ›Wir‹ im Sinne der Industrienationen zu verwenden),
ungestraft davonzukommen? Mensch gegen Natur, die alte Zwei-
teilung der Welt, die Quellpunkt und Folge vieler Problemlagen ist,
ist auch Teil der Metapher eines ›Kampfes gegen das Virus‹. Und so
lese ich fasziniert die Meldungen, die für diese Sicht ebenso stimmig
erscheinen, dass es seit Sommer 2020 vor Spanien zu unerklärlich
vielen Angriffen von Orcas auf Segelschiffe kommt, die in konzer-
tierten Gruppen die Ruder von Segelbooten so rammen, dass die
Segelboote sich nicht mehr steuern lassen. Als möglicher Auslöser
wird der zunehmende Lärm durch die Schifffahrt an der Atlantik-
küste genannt. »Aber war dieses Geräusch wirklich die Botschaft?
War es nicht vielmehr ein Rauschen, ein Parasit? Wer hat hier am
Ende das letzte Wort? Wer sät Unordnung, wer stiftet eine neue,
andere Ordnung?«Serres, Der Parasit, 11. Affektion: Einwirkung von Dingen auf die
Sinne. Der unvorbereitete Körper bewegt sich in Zeitlupe im Raum,
das Denken.