Die Zwillingsträumer
Wenig bis nichts deutet darauf hin, dass unsere Spezies – oder sollte man nicht besser sagen: wir Modernen? oder wir Angehörigen des globalen Nordens? – in der Lage und willens ist / sind, ihre / unsere Existenzweise so zu verändern, dass der absehbare Kollaps unserer Zivilisation und eines Großteils der Ökosysteme unseres Planeten ausbleibt. Und dies umso mehr, als längst nicht mehr Frage ist, ob unsere Gegenwart und Zukunft von katastrophalen Veränderun- gen des Klimas geprägt sind, sondern nur noch, welchen Grad diese Verheerung erreichen wird. Nüchtern betrachtet, scheint die einzige Chance unseres Planeten, der sixth extinction noch zu entrinnen, im totalen Zusammenbruch unserer Zivilisation zu bestehen – und Covid-19 ist ein Indikator dafür, wie fragil dieses globale Konstrukt tatsächlich ist. Von einem positiven Zukunftsszenario ließe sich nur träumen Was nichts Originelles hat, sondern im Gegenteil absichtsvoll an den Ausgangspunkt moderner Modellierungen von Zukünften zurückführt, die als
Gegenentwurf zur defizitären Gegenwart fungieren. Vor allen apparativen Zeitmaschinen ist der Traum das originäre Transportmedium der Uchronie,
denn er bringt den Protagonisten von L’An Deux Mille Quatre Cent Quarante ins Paris des 21. Jahrhunderts. Merciers Roman gilt als erster Text des
utopischen Genres, in dem die Bewegung in der Zeit an die Stelle der Bewegung im Raum tritt (Louis-Sébastien Mercier, L’An Deux Mille Quatre Cent Quarante. Rêve s’il en fût jamais, London: o.V. 1771). – wären es nicht die Träume und Wunschvorstellungen vor allem von uns Modernen selbst und das Streben nach ihrer Verwirklichung, die uns in diese Katastrophe geführt haben.
So, wie ich weder auf ein positives Szenario
für die Zukunft verzichten will noch auf die weitaus realistischere
Einschätzung des Kommenden verzichten kann, können auch diese
Träume selbst nicht unhinterfragt bleiben. Wie Bruno Latour seine
Zwillingsreisenden entsandt hat, um unser teuflisches Ideal der rei-
bungslosen Zwischenglieder zu exponieren, Bruno Latour, »Trains of thought: Piaget, Formalism, and the Fifth Dimension«, in: Common Knowledge 6/3 (1997), 170–191. Zur Logik von Doppelklick [DC] als fundamentalistischer Existenzweise vgl. etwa ders., Enquête sur les modes d’existence. Une anthropologie des modernes, Paris: La Découverte 2012, 103f., 205f. will ich daher Zwillingsträumer Seite an Seite eine utopische und eine dystopische Zukunft erkunden und sie dabei über diese Träume selbst reflektieren lassen.Diese Träume situieren sich aber nicht allein in ihren
Gehirnen, sondern im Medium einer virtuell-digitalen Umgebung.
Denn – und auch dies zeichnet sich in der Corona-Ära deutlicher
ab als zuvor – die Art und Weise, wie wir mit dem Digital-Virtu-
ellen umgehen, wie es sich unser bemächtigt, ist eine, wenn nicht
die entscheidende Bifurkation zwischen utopischer und dystopi-
scher Zukunft: Eskapismus in das Schutzmilieu einer Parallelwelt,
in die man sich aus den Verwüstungen der realen Welt zurückzieht
und seine Allmachtsphantasien auslebt, oder vielmehr Medium der
Partizipation und Antizipation, das uns den vermittelten Zugang
zum räumlich wie zeitlich Entfernten erlaubt, ohne etwa in gleicher
Weise den Raum zu konsumieren wie in seiner realen Durchquerung
und Invasion?
Auf diese Weise könnte Seite an Seite ausge-
lotet werden, welche Konsequenzen es hat, die Parameter unserer
aktuellen, begrenzten Ökologie beizubehalten und welche Möglich-
keit zur Entwicklung alternativer Parameter einer allgemeinen Öko -
logie bestehen. Aspekte dieser Ökologien, die ich dabei hervorzuhe-
ben vorschlage, betreffen Ökonomie, Ethos / Habitus, Ethik / Religion,
Politik, aber auch Organisation des Wissens (d. h. beide Ökologien
gehen mit je verschiedenen Formen des Wirtschaftens, des Verhal-
tens, des Glaubens und der Normgebung einher, wobei diese drei
Aspekte untereinander verzahnt sind).
Die herrschende, begrenzte Ökologie operiert mit der Errichtung von Schutzmilieus, die – begleitet von dem
immer schon leeren Versprechen ihrer globalen Ausdehnung auf die
gesamte Menschheit – de facto stets auf Segregation, Exklusion und
Abschottung und der Unsichtbarmachung der Exkludierten (abyssal
thinking Mit abyssal thinking bringt Boaventura de Sousa Santos Diskurs und Praxis der Moderne auf den Begriff, weiten Teilen der Welt und ihrer Bevölkerung jegliche Form jener Rechte vorzuenthalten, auf denen sich ihr moralischer und politischer Hegemonialanspruch begründet und gleichzeitig das Wissen dieses globalen Südens (zu dem im Übrigen auch Teile von downtown Detroit oder eine banlieue, deren Bewohner systematisch vom Arbeitsmarkt aus- geschlossen werden, gehören, während die gated communities der Superreichen in São Paolo oder Rio de Janeiro mit ihren Hubschrauberlandeplätzen Enklaven des globalen Norden sind), also ihre Epistemologien, so radikal zu entwerten, dass sie nicht mehr als Wissensformen wahrnehmbar sind. Dieser flagrante Widerspruch zwischen dem Anspruch auf All-Inklusion und Omni- Repräsentation einer aufgeklärten, auf Menschenrechten basierenden ›Weltgesellschaft‹ und der vollkommenen Entrechtung jener, die auf der anderen Seite dieser abgründigen und teilweise fraktalen Demarkationslinien leben, lässt sich nur mittels der totalen Unsichtbarmachung dieses globalen Südens und der Grenze selbst aufrechterhalten. (Konkret etwa, indem wieder und wieder angesichts des Putschversuchs vom 6. Januar 2021 die älteste Demokratie der Welt beschworen wird, ohne dass selbst diejenigen, die auf dem viszeralen Rassismus des Trumpclans und des von ihm aufgestachelten Mobs insistieren, auch nur ein Wort dar- über verlieren, wie viele – äußerst erfolgreiche – Putsche dieser Art die USA seit dem Zweiten Weltkrieg in Hispanoamerika angezettelt und unterstützt hat: [... siehe PDF].) beruhen.
Dabei lassen sich neben dem neuen Schutz- milieu des Virtuell-Digitalen mindestens vier weitere Dimensionen moderner Schutzmilieus ausmachen:
- die Errichtung hermetischer Habitate im Zuge der Petromodernität (Kulturräume);
- die Bildung sozial stratifizierter Elite-Habitate (Prinzip des resort und der gated community);
- das immunologische Schutzmilieu, dessen Bedrohung durch Covid-19 wir aktuell erfahren (Körper);
- das zidologische Schutzmilieu, das auf der Ausschaltung um Ressourcen konkurrierender Lebensformen durch ihre radikale Extermination oder Reduktion beruht (domestizierte Naturkulturzonen).
Unsere Träume im Rahmen dieser begrenz- ten Ökonomie sind solche der Exklusivität, des Erwähltseins, der Transzendenz – der Aufnahme und des Aufgehobenseins in den Schutzräumen, des Refugiums und der Flucht aus dem zunehmend entropisierten Außenraum bei gleichzeitiger maximaler Mobi- lität zwischen den privilegierten Räumen und Zeiten (Horizont: Marskolonisierung und Unsterblichkeitsprogramme).
Dem entspricht eine dreifache Ökonomie des enrichissementLuc Boltanski und Arnaud Esquerre, Enrichissement. Une critique de la marchandise, Paris: Gallimard 2017. der immer weiter beschleunigten Obsoleszenz und der Privatisierung der Welt
durch eine entrepreneuriale Oligarchenschicht, ein Ethos der Maxi-
mierung von (Im-)Mobilität (Sicherung der besten Standorte und
Prämierung der maximalen Ausdehnung der eigenen Interventions-
sphäre) und der Resilienz (psychische Abhärtung gegenüber der Ver-
wüstung der Welt bis hin zur Realitätsverweigerung), eine Organi-
sation des Wissens nach dem Zeitregime der Moderne Auch hierzu vgl. de Sousa Santos, Epistemologies of the South,
176f. (maximale
Akzeleration, Obsoleszenz und Verderblichkeit der Ware Wissen in
einer Logik der turns, Autorisierung der eigenen Position über die
Erfindung von Neuigkeitswerten, Organisation über Events, trans-
atlantisches Wissenschafts-Jet-Set), der Sozialdarwinismus evange-
likaler Sekten oder die transhumane Selbstvergottung, sich faschi-
sierende Regime und Mobherrschaft sowie eine anthropozentrische
Ethik angeblich allgemeiner Menschenrechte, die de facto auf der
Spaltung der Menschheit in globalen Norden und globalen Süden,
Franchise-Kolonialismus, Epistemizid und Sklavenarbeit beruht.
Auf der Basis dieser Parameter lassen sich
sowohl die zerstörerischen Fluchtlinien dieser écologie restreinte
ziehen als auch entsprechende Alternativmodelle zwillingshaft ent-
werfen. Dass dabei nicht allein nach einer Logik des Gegen, also der
Negation oder Opposition vorgegangen werden kann, lässt sich an
der Frage der Schutzmilieus und vornehmlich des immunologischen
Schutzmilieus unschwer ablesen: Denn die pure Negation dieses
Schutzmilieus erfolgt durch obskurantistisch-destruktive Elemente
(Impfgegner, Verschwörungsideologen und Faschisten zwischen
Todestrieb und Sozialdarwinismus).
Einmal mehrMichael Cuntz, »Pascals Katzen, als ob, Unentscheidbarkeit und Entscheidungen in der Epoche des Coronavirus«, in: Triakontameron, Tag 28, http://triakontameron.de/die-dritten-zehn-tage/#tag-28
(18.2.2021) führt nur ein Als-ob
aus der falschen Opposition zwischen dem Weitermachen
oder der Rückkehr in die Pseudonormalität eines globa-
len Mobilitätsregimes, das nur durch die Lückenlosigkeit
dieses immunologischen Schutzmilieus möglich ist (das
gleichzeitig beständig an seine Grenzen gelangt) und seiner
unmenschlichen Ablehnung: sich für seinen Erhalt einzu-
setzen und gleichzeitig so zu tun, als ob es bereits ein für
alle Mal an sein Ende gelangt sei; unsere Welt so zu rekon-
struieren, als ob diese Schutzmilieus gar nicht existieren,
damit diese Welt auch dann dem Kollaps entgeht, wenn es
zum jederzeit möglichen temporären oder permanenten
Ausfall der Schutzmilieus kommt: Vorbereitung als Kollek-
tiv – und nicht als isolierte community a-sozialer Prepper.
Und noch mehr spricht gegen die
Logik der simplen Opposition: Wer etwa hat sich aus-
gedacht, der Erholung bedürftige Menschen mehr oder
weniger vor ihrer Haustür unter riesigen Globen zusam-
menzupferchen, um ihnen dort Sonne, Strand und Party zu
bieten, für die sie sonst nach Mallorca gereist sind – waren
es gnadenlose Zyniker einer menschenverachtenden Frei-
zeitindustrie oder Pragmatiker, die massenhafte Freizeit-
gewohnheiten raumzeitlich so abfedern wollten, dass ihre
Kosten nicht exorbitant die Belastbarkeit unseres Planeten übersteigen?
Die Projektion oder Sichtbarmachung der alternativen
Traumszenarien der Zwillingsträumer in der digitalen Umgebung
verläuft nicht störungsfrei. Diese fallen nicht allein fragmentarisch aus
sondern bei einigen dieser Fragmente ist es auch nicht
möglich, sie zweifelsfrei dem utopischen oder dem dysto-
pischen Träumenden zuzuordnen – was sind sie jeweils?
Ausweis der weiteren Degeneration der Verhältnisse oder
notweniges Pharmakon?
WAS WÄRE, WENN ... ?
Was machen wir aus dieser Gemengelage, diesem Störfall? Es scheint
extreme Unruhe auszulösen, dass Fragmente sich nicht zweifels-
frei dieser oder jener Ordnung zuordnen lassen. Ist sie nicht aber
gerade eine Wette auf die Zukunft, diese Doppelung oder superposi-
tion? Erleichtert durch die Erkenntnis, dass die Frage der Utopie oder
Dystopie sich nicht kategorisch klären lässt, sondern nur durch die
Affirmation des einen? Also nicht die Entscheidung des einen oder
des anderen, nachdem wir Modernen beides nebeneinandergelegt
haben, um uns dann für die eine gelebte oder die andere erträumte
Alternative zu entscheiden, sondern die Affirmation des Einen. Was
hieße das?
Der Traum als nächtliche Eskapade oder als
Evidenz des Unbewussten, der Zwilling als zweites Ich und Doppel-
gänger – dies sind in der Tat Beunruhigungen im Text der Moderne.
Sie sind Momente des Unheimlichen, die als Denkbilder und Erfah-
rungen gleichzeitig mit der Verfestigung der Moderne als Ordnung
des Wissens und der Welt auftauchten. Als Figuren des Anderen
zum Bewusstsein (im Traum verdichtet sich, was am Tag nicht
gedacht werden kann) und zum Ich (der Doppelgänger bringt die
Ordnung des Eindeutigen durcheinander) sind in diesem Sinne beide
Kinder des cartesianischen Zeitalters, und im Besonderen des kan-
tianischen. Sie tauchen als Störfälle dieses Eindeutigen, des Klaren
auf, entsprechen aber dennoch der Logik der Bifurkation, der Logik
der Zweiteilung in Tag / Nacht, Ich / Nicht-Ich und damit des Entwe-
der / Oder, auf welcher das moderne Wissen beruht. Die Unruhe, die
unsere gegenwärtige Zeit auslöst – dieses Jahr 2020, in dem nicht
nur Klimakrise, Pandemie, systemischer Rassismus und rechtspopu-
listische Erschütterungen der politischen Nachkriegsordnung das
Gefühl zuspitzen, wir stünden an einem Moment der historischen
Entscheidung – ist auch eine Unruhe, die getragen wird von diesem
immer noch modernen Wunsch nach eben ›Entscheidbarkeit‹: nach
Projektion von Gegenwart in eine sichere Zukunft.
Und diese Unruhe ist in der Tat eine moderne.
Sie entspringt und entspricht dem Rahmen der (kolonial-nationalis-
tischen, rassistisch-patriarchalen und kapitalistischen) Wissensord-
nung, wie sie sich seit Jahrhunderten trägt als diejenige, die – wie
etwa Denise Ferreira da Silva in »On Difference without Separability«
zeigt – auf den Grundannahmen von »separability, determinacy, and
sequentiality« beruht.Denise Ferreira da Silva, »On Difference Without Separability«, in: Incerteza viva (Live Uncertainty). Catalogue of the 32nd São Paulo Art Biennial, São Paulo: Fundaçao Bienal 2016, 57–65, hier 61.
Separability (Kant nach Descartes): »the view
that all that can be known about the things of the world is what
is gathered by the forms (space and time) of the intuition and the
categories of the Understanding (quantity, quality, relation, moda-
lity) – everything else about them remains inaccessible and irrele-
vant to knowledge«.Ebd., 60. Auf der philosophischen Ebene heißt dies also
die klaren und deutlichen Ideen, ohne Reste des Sinnlichen; und auf
der politischen Ebene entspricht dem die Vorstellung des Kollektivs
als Ganzes bestehend aus einzelnen Teilen.
Determinacy (Kant nach Descartes): »the view
that knowledge results from the Understanding’s ability to pro-
duce formal constructs, which it can use to determine (i. e. decide)
the true nature of the sense impressions gathered by the forms of
intuition.«Ebd. Wirksam unter vielem anderen auch in dem genannten
Wunsch nach Unterscheidbarkeit und damit nach Entscheidbarkeit
und auf deren Basis dann nach Prognose.
Sequentiality (Hegel nach Kant): »which
describes Spirit as movement in time, a process of self-development,
and describes History as the trajectory of Spirit. With these moves
[...] introduc[ing] a temporal figuring of cultural difference [and ...]
postulat[ing] that post-Enlightenment European social configu-
rations represented the fullest development of Spirit.«Ebd. Die Postu-
lierung von europäischem Fortschritt aka white supremacy mag in
vielen Kontexten inzwischen verkappt sein, ist aber sehr deutlich
sichtbar darin, wie sich die Gewalt der Klimakrise, der Pandemie,
des systemischen Rassismus und des Rechtspopulismus auf verschie-
dene Körper und communities unterschiedlich auswirkt, to say the
least. Durch diese zeitlich imaginierte Achse des Fortschritts wird
wiederum die separability von communities und Nationen möglich
und auf deren Basis die Bio- / Nekropolitik der letzten fünf Jahrhun-
derte.
Separability, determinacy, und sequentiality –
diese Grundfesten der onto-epistemologischen Ordnung der moder-
nen Welt sind verknüpft mit einem Verständnis von Materie als tot:
als, inert, unspirited, dead matter, übernommen aus der Antike,
überschrieben in Naturphilosophie und später die klassische Physik.
Newtons physikalisches System – »particularly the idea that know-
ledge consists in the identification of the limiting forces, or laws that
determine what happens to observed things and events«Ebd., 59f. – schreibt
sich in Kants (moderner) Philosophie fort und reicht bis in unsere
Unruhe hinein, dass wir gegenwärtig die Anzeichen von Verschie-
bungen und Wandel nicht eindeutig als utopische oder dystopische
entscheiden können. Die Annahme ist: Dinge und Körper haben
materielle, räumliche Ausdehnung und, auf diese Weise festste-
hend, lassen sie sich erkennen, wobei die menschliche Erkenntnis
(anders als die göttliche) sie in ihrer Erscheinung erkennt, nicht
an sich. Diese Bestimmung der Materie geriet spätestens mit der
Quantenphysik – zumindest in der Wissensordnung von uns Moder-
nen – ins Wanken. Einsteins Relativität, aber vor allem Heisenbergs
Unbestimmtheitsrelation und ganz besonders Bohrs »indeterminacy
principle«Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham/London: Duke University Press 2007, 295f.; ebenso Niels Bohr, The Philosophical Writings, Bd. 2: Essays 1933–1957, on Atomic Physics and Human Knowledge, Woolbridge: Ox Bow Press 1963. treiben physikalisch die Newton’schen Grundannahmen
über sich hinaus – und stellen damit letztlich auch die onto-epis-
temologischen Grundannahmen der separability, determinacy und
sequentiality in Frage. In seiner Auseinandersetzung mit Heisen-
berg etwa postulierte Bohr, dass es auch bei Heisenberg noch um
die Störung der Dinge durch den Vorgang der Messung geht (Verhält
sich Materie als Welle oder Partikel? Ist Schrödingers Katze tot oder
lebendig?). Damit bleibt die Annahme ihrer Bestimmbarkeit und vor
allem der vor der Messung gegebenen determinacy erhalten, die es
›nur‹ zu erkennen gilt. Bohrs Quantentheorie, so zeigt Karen Barad
in Meeting the Universe Halfway, geht über diese epistemologische
Unbestimmtheit / Bestimmbarkeit hinaus und macht aus der Quan-
tenfrage eine onto-epistemologische:
Bohr rejects Heisenberg’s suggestion that what is at
issue is a disturbance created in the act of measurement
and that this alleged disturbance limits our knowledge
of presumably (always already) well-defined variables
or attributes of the object being measured. Bohr
insists that what is at issue are the very possibilities
for definition of the concepts and the determinateness
of the properties and boundaries of the »object«, which
depend on the specific nature of the experimental
arrangement.Ebd., 30f.
Hieraus erwächst die Verschränkung von
Messung, Messendem und Gemessenem – der / die Beobachter*in
ist materially entangled mit der Beobachtung und dem Beobachte-
ten. Barad nennt dies mit Bohr auch die »inseparability of objects
and agencies of observation«.Ebd., 308 [Hervorhebung B.M.K./K.T]Als Beobachter*in stehen »wir« nicht
außerhalb des zu Beobachtenden oder erkennen es nachträglich.
»Wir« erwachsen vielmehr als Phänomen zusammen mit dem Vor-
gang jeder Messung. »[P]henomena are the ontological inseparability
of agentially intra-acting ›components‹«.Ebd., 309; vgl. auch 97–185.
Sehen wir den Traum als ein solches Expe-
riment, dann wäre er kein Komplementär des Bewusstseins mehr.
Weder Projektion noch Szenario im Sinne eines scripts als Zukunfts-
entwurf, vorskizziert und dann, sequentially, mit Leben gefüllt, wäre
er nicht mehr das Gegenteil des Machbaren, des Realen, des Geleb-
ten. Der Traum wäre stattdessen the thing itself – nicht die Vorstel-
lung einer in der Zukunft zu wählenden Alternative, sondern bereits
deren Verhandlung und Erstellung im Heute. Kämen wir dann von
Kants Als-ob zu einem Was wäre, wenn?»What if, instead of the Ordered World [of the moderns], we could imagine The World as a Plenum, an infinite composition in which each existant’s singularity is contingent upon its becoming one possible expression of all the other existants, with which it is ent- angled beyond space and time« (da Silva, »On Difference Without Separability«, 58). Da Silva denkt hier mit Leibniz und nennt im Besonderen seinen Discourse on Metaphysics and Other Essays (Indianapolis: Hackett 1991). Glissant und seine poetics of relations, ebenfalls von Leibniz inspiriert, kommt hier auch in den Sinn (Edouard Glissant, Poetics of Relation, Ann Arbor: University of Michigan Press 1990). [... siehe PDF] Von der theatralen Logik der Repräsentation, die dem Als-ob innewohnt, zu ... was ... – einem
erträumten Experiment mit dem Vieldeutigen und Opaken?
(Abb. 1)
Könnten ›wir‹ (eine höchst unbestimmte und
stets aufs Neue auszulotende Kategorie) ab dann anders träumen
als wir Modernen? Von
anderem träumen? Was wäre, wenn wir
indeterminacy ersehnten und die beunruhigende superposition von
Utopie und Dystopie 2020 als Wette auf Morgen affirmier-
ten? Wenn wir der Verschränkung von ›uns‹ mit der Frage
»[b]ut who, we?«Mit dieser Frage beendet Jacques Derrida seinen Text »The Ends of Man« [1968/1972], in: J.D., Margins of Philosophy, Chicago: University of Chicago Press 1982, 136.immer
wieder ernsthaft nachgingen? Was wäre, wenn wir uns statt
eines träumenden Zwillingspaares ein paar Träumer vor-
stellten? Seite an Seite, nicht als Alternative von Zweien
sondern als entangled, in coalitional politics mit vielen
Verschiedenen? Das müsste letztlich auch die Prepper
wenn nicht einschließen, so aber doch irgendwie berüh-
ren. Aber uns kommen dabei gerade die Traumfiguren aus
Lynn Randolphs Gemälden in den Sinn, gemalt im Grenz-
land von Texas und Mexiko. A Diffraction etwa (1992, vgl. Abb. 1).Aus der Serie Cyborg, Wonder Women and Techno Angels, http:// www.lynnrandolph.com/painting-portfolio/?series=cyborgs-won- der-woman-techno-angels (26.12.2020).
(Abb. 2)
Randolphs Gemälde scheinen ein anderes Bewusstsein
zu erträumen, in dem Traum nicht der nächtliche Einbruch des
Unbewussten ist, sondern die Evokation anderer, auch kos-
mischer Realitäten. Und es sind nicht zufällig feminine
Figuren, Chicanas und Latinas, die hier träumen. Was wäre,
wenn Randolphs La Mestiza Cosmica (1992, vgl. Abb. 2)Abbildungsnachweis: © Lynn Randolph, Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.
etwa eine neue mestiza consciousness (Anzaldua) bereits
verwirklicht?
Randolph selbst sagt, dass dieses Gemälde die Virgen de
la Guadalupe zeigt, als ein »symbol of rebellion against the rich,
upper and middle class [who...] unites races and mediates between
humans and the divine, the natural and the technological [...] onefoot in Texas and one foot in Mexico.«Zitiert in Donna Haraway, Modest_Witness@Second_Millenium. FemaleMan©_Meets_OncoMouseTM. Feminism and Technoscience, New York und London: Routledge 1997, hier 19. Gloria Anzaldúa gibt dem
bereits in Borderlands / La Frontera. The New Mestiza wie folgt
Ausdruck:
El choque de un alma atrapado entre el mundo del
espíritu y el mundo de la técnica a veces la deja
entullada. [...] But it is not enough to stand on the
opposite river bank, shouting questions, challenging
patriarchal, white conventions. A counterstance
locks one into a duel of oppressor and oppressed [...].
At some point, on our way to a new consciousness,
we will have to leave the opposite bank, the split
between the two mortal combatants somehow healed
so that we are on both shores at once. [...]
The new mestiza copes by developing a tolerance
for contradictions, a tolerance for ambiguity. [...]
The focal point or fulcrum, that juncture where the
mestiza stands, is where phenomena tend to collide.
It is where the possibility of uniting all that is separate
occurs. This assembly is not one where severed
or separated pieces merely come together. Nor is it a
balancing of opposing powers. [...]
The work of mestiza consciousness is to break down
the subject-object duality that keeps her a prisoner
and to show in the flesh and through the images in
her work how duality is transcended. [...] A massive
uprooting of dualistic thinking in the individual and
collective consciousness is the beginning of a long
struggle, but one that could, in our best hopes, bring
us to the end of rape, of violence, of war.Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera. The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute Books 1987, 101–103.
Für Barad findet sich in Anzaldúas Schriften –
ebenso sowie in Bohrs Physik (und in Trinh Minh-has Filmen und
Schriften) – Evidenz für eine neue »[e]xperimental meta / physics«und »[e]mpirical evidence for a hauntology«.Karen Barad, »Diffracting Diffraction: Cutting Together-Apart« in parallax (special issue Diffracted Worlds – Diffractive Readings: Onto-Epistemologies and the Critical Humanities, hg. von Birgit M. Kaiser und Kathrin Thiele) 20/3 (2014), 168–187, hier 180 und 181.
Träumen wir also realistisch und verweigern wir
die Bifurkation des Utopischen und
Dystopischen. Träumen wir uns endlich in die Welt hinein, in eine
andere Welt als die kolonial-moderne. Dann waren wir Modernen in
ein paar Jahren vielleicht nichts anderes als ein böser Traum.
KATZENTRAUMTRANSFUSION.
CHRONOTOPOI FÜR EINE UNPRODUKTIVE NACHT
Der Verweis auf den bösen Traum aber ist nur eine Modalität, uns weiter
pseudokritisch selbst zu betrachten und imaginäre Herrschaft über ein
Habitat zu halten, das wir mit jenen vielen teilen, die wir mit unseren
Bifurkationen vertrieben haben. Ich stelle mir deswegen eine Interspe-
zies-Traumdeutung vor. Eine Art Traumtransfusion. Schon immer träume
ich mehr von Tieren als von Menschen. Und halte nicht viel von dem Credo,
die Geträumten seien nicht die Geträumten.
Ich habe meine Katze träumen geträumt, und
sie träumen gespürt. Habe neben ihr geträumt. Habe an ihrer Seite
gelegen und gespürt, wie sie zuckte: Schwanzspitze, Schnurrbart-
haare und Pfoten. Habe mein Gesicht an diese Pfoten gehalten und
nicht wie in ihrem Wachsein die ledrigen, warmen Ballen im Gesicht
gehabt, sondern die Krallen – die Information über die Ausdehnung des
Katzenkörpers schien in einem anderen Raum und mit einem anderen
Gegenstandsbewusstsein auszukommen. Meine Katze schlief, schien
aber gleichzeitig zu laufen, zu fassen, zu packen. Binnen Sekunden
wandelte sich ihr Körperschema. Vielleicht agierte ihr episodisches
Gedächtnis auf der hybriden Grundlage aus zusammengefalteter Jagd-
erfahrung im Berliner Hinterhof und früher wilder, genetisch hinterlegter
Jagderfahrung. Sie jagte in einer inneren, mehrpoligen Anderszeit, und
ich war ein Widerstand in ihrem Ausdehnungsraum. Objekt geworden,
dämmerten in mir Gedanken an die Subjekt-Objekt-Spaltung auf und
wieder weg. Ungespalten wollte ich daliegen und diese Traum-Wirklich-
keit teilen. Ich stellte mir vor, der Traum wäre keine Andersheit und auch
die Katze nicht die Andere.
Nun ist die Katze tot.
Nach 18 Jahren schlafe ich wieder alleine, ohne
Fell. Brauche ungleich länger beim Einschlafen als damals, wo ich im Ein-
flussbereich der äußeren Verlängerung der inneren Tierbewegung lag,
denn meine Katze schlief schon, weil Katzen bis zu 21 Stunden am Tag
schlafen und zudem keine Einschlafprobleme haben.
Wie Menschentiere verbringen Katzen wohl
mindestens 10 Prozent ihrer Schlafzeit in der REM-Phase, erleben aber
womöglich ebenso hypnagoge und hypnopompe (Einschlaf- oder Auf-
wach-)Halluzinationen, also intensive Wahrnehmungen oder Vorstel-
lungen (bzw. REM-Epiphänomene) während der Schlafparalyse. Schlaf,
heute als phylogenetisches Verhaltensrelikt mit metabolischer Rekon-
stitutionsfunktion aufgefasst, wird bis ins 19. Jahrhundert als todesver-
wandter Zustand begriffen; dem Traum, seiner flüchtigen Bilderwelt, der
dem heutigem Erkenntnisstand und den oben genannten Aspekten nach
evolutionär wohl vor Erscheinen des Menschen anzusiedeln ist, wird –
nach langwährender Oineirologie – mit der Aufklärung die prophetische
Aussagekraft geraubt, und seine Psychologisierung beginnt.
Der Traum ist mein liebster Verarbeitungsmodus.
Vielleicht auch, weil er wohl Infantilismen und Primitivismen ausspuckt.
Aber vor allem, weil er Heterotopie ist, Versetzung, Verschiebung von
bewussten Orten in eine andere Darstellungslogik: mein inneres Theater,
jede Nacht, inmitten des Alltagstextes der mir anheimgefallenen Moderne.
Mitnichten ist dies die Moderne meiner Katze.
Ich mag einen Text von Miguel de Unamuno
aus dem Jahr 1922 (veröffentlicht in Buenos Aires, in Caras y Caretas), in
dem sich der spanische Philosoph einmal mehr mit dem Chronotop der
Nacht befasst, diesmal im Zusammenhang von lobenden Überlegungen
zum Bett (insbesondere zu weichen und harten Schlafstätten). In »La
cama«Miguel de Unamuno, »La cama«, in: Caras y Caretas, 25.2.1922, https://gredos.usal.es/jspui/b...; 242.pdf (25.2.2021).
klingt eine besondere Form des Traums an – jener, sich tot zu träumen.
Außerdem wird die Doppelbedeutung des spanischen Substan-
tivs »sueño« (Traum und Schlaf) deutlich und es werden von demselben
abgeleitete Begriffe extrapoliert, die einerseits intellektuelle Schläfrigkeit,
andererseits (Tag-)Träumerei meinen. In Unamunos Bett-Hymne schreibt
sich also ebenso die Bifurkation zwischen Dunkelheit und Licht (lumières,
luces) ein; doch am meisten ergreift mich die Volte, die das Verb »desn-
acer« (›ungeboren werden‹) einbringt: Schlaf, so Unamuno, helfe dabei,
aus dem Geborensein hinaus zu gelangen.
Über diese Volte wird die Nacht zum Raum, in
dem auch ich mich ausdehne im Dunkeln, um dabei zuzusehen, wie etwas
Anderes geboren wird als Ich. Die Nacht, sagt Unamuno, ist schwarz, aber
der Traum ist es nicht. Tatsächlich erscheint im Traum viel Licht – natür-
liches Licht? Blitzlicht? Scheinwerferlicht? Peu importe. Was mich betört,
ist, dass gerade in Ermangelung des scripts Licht ist. So sehr auch der
Traum angesiedelt zu sein scheint in der »Nacht der Welt«. Eine Phänome-
nologie und Soziologie der Nacht sowie eine ganze (Hegelsche) Philoso-
phie der Negativität begreift die Nacht als negativen geistigen Raum. Aber
auch Hegel scheint er potentiell abundant; ein ferner dunkler Abgrund in
der Gegenwart, somit Herausforderung an den Geist. Dieser soll die Nacht
durchschreiten in Richtung eines fixen Punkts, eines Ziels, eines Sterns.
Meine Katze war schwarz wie die Nacht.
Doch ebenso sah sie im Dunkeln, unter maxima-
ler Ausnutzung jedes noch so mageren Lichts. Tapetum Lucidum: Schmal
blitzte sie mich mit lichtverstärkenden Augen an und zündete in mir den
Wunsch, ich könne allein durch diese Schlitze hindurch an etwas Bes-
serem teilhaben. An einer anderen Form der Jagd, einer organismischen
Jagd, einer Jagd ohne Kapitalanlage – übrigens äußerte sich auch Una-
muno zur (inter-)speziesspezifischen Vernunft von Katzen.
In ihrem Ur-Text A Cyborg ManifestoDonna Haraway, »A Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s«, in: Socialist Review 15/2 (1985), 65–107.(1985) führt Donna Haraway (ebenso wie
Lynn Randolph es tut) techno-szien-
tistische Inhalte mit visuellen, visionären und halluzinierten (kurzum:
Traum-)Dispositiven eng. Die Biologin spricht unter anderem über
cyborg writing als einer Strategie gegen andro- und anthropozentrische
Spaltungsideale und weiterhin davon, dass Cyborgs dem Paradigma der
Wiederauferstehung sowie der Idee von Geburt und Reproduktion wider-
stünden, um vielmehr der Regeneration anzuhängen. Wie die Echsen.
Verliert die Echse den Schwanz, wächst er nach. Mitunter kann er dabei
Monstrositäten ausbilden, wie auch National Geographic im Juni 2019 (im
Fall einer »übereifrigen Eidechse«) berichtet und bebildert, um dann über
die Folgen der anatomischen Neubildung nachzudenken, es sich aber
nicht verkneift, mit einem kapitalistischen Hinweis zu enden (die Echse
habe das Glück, drei Schwänze zum Preis von einem zu bekommen).Siehe James Owen, »Übereifrige Eidechse bildet drei Schwänze aus«, in: National Geographic, 23.8.2019, https://www.national- geographic.de/tiere/2019/08/uebereifrige-eidechse-bildet-drei- schwaenze-aus (27.12.2020).Mir gefällt Haraways Hinweis der Achtzigerjahre, Cyborgs (bzw. Echsen)
vertrauten der reproduktiven Matrix nicht und überzeugten umso mehr
mit jenen topographischen Absonderheiten, die am Ort ihrer Wunden blü-
hen: der vervielfachte Echsenschwanz als heterotopische Heilung. Auch
der Schlaf ist heilsame Heterotopie, ein realer und wirksamer anderer
Ort, eine regenerierende Monstrosität. In Virginia Woolfs Schlafzeitreise-
Roman Orlando (1928) erbringt er nicht nur mentale und metabolische,
sondern sogar anatomische Erneuerung.
Ebenso gefällt mir die situierte Aufmerksamkeit
Haraways heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Wie sie an
der Universidad del Magdalena in Santa Marta, Kolumbien, im August
2019 die über Lautsprecher kommunizierten Hinweise zu den offiziellen
Fluchtwegen in den Gebäuden der Geisteswissenschaftlichen Fakultät
umleitet in Gedanken zu (performativen) Korridoren der Achtsamkeit. Die
Heterotopie des Fluchtwegs. Umleitung als eine Art Transfusion; etwas
wird von einem Gefäß in ein anderes gegossen, und an diesem Auftrags-
ort erneut und neuartig funktionieren.
Meine Katze als Transfusionspartnerin: Ich
wünsche mir von meiner Katze, ihr anschauliches Denken, ihr geneti-
sches Träumen von der verdichteten Jagd würden in mich überfließen.
Und zwar ohne Deutungen und ohne (Emotionsrepertoires stützende)
Begriffsfixierung (weg mit awareness als re-produktive Matrize des Neo-
kapitalismus, fort mit Freuds Traumdeutung, ihren Überlegungen zum
Phänomen des ›Nachträumens‹, die in der Wiederholung von Traumele-
menten aus Träumen eines Anderen vor allem Eifrigkeit sehen). Kann die
via regia zum Unbewussten nicht auch zur res publica führen (im Frank-
reich des 19. Jahrhunderts stritt man darüber, ob unbewusste mentale
Ereignisse kulturelle, soziale oder gar politische – und letztlich antizipa-
torische, visionäre, revolutionäre Implikationen haben könnten oder bloß
nervöse Abfallausdrücke wären, wie etwa Alfred Maury behauptete)?
Ich wünsche mir, dass der Traum meiner Katze
ein Traum des besseren Jagens, nämlich die Jagd (im Sinne von Erhei-
schen, Begehren) nach dem Schlaf gewesen sei. Ich stelle mir nach
Freuds narrativer Traumhermeneutik (als Deutungshoheit über introji-
zierte Bildproduktion) und gegen das Paradigma des Bösen Traums, das
diese womöglich auch gebiert, eine Hypnodiegese vor, ein Koordinaten-
system, erwachsen aus flüssigem Dasein zwischen Traumsein und Wach-
sein. Wahrnehmung nicht in einer modernen Müdigkeitsgesellschaft,
sondern für eine Traumgesellschaft, für eine Gesellschaft der Regenera-
tion (oder wie Paul B. Preciado in seiner – nicht nur unproblematischen –
anthropozänischen Liebeserklärung an seinen Hund & auch im Verweis
auf Donna Haraway schreibtPaul B. Preciado, Un appartement sur Uranus: Chroniques de la traversée, Paris 2019: Grasset.: einer planetarischen Demokratie).
Traumarbeit im freieren Sinn (dreamworking, wie auch Haraway anführtDonna Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham: Duke University Press 2016.) oder, viel eher noch, träumerische Haltung: eine Weiterführung der rêverie nach Wilfred Bion, also eine träumerische und schützende Erfassung
dessen, was uns umgibt (und erfasst) – worunter bizarre Objekte (Viren?)
gleichermaßen fallen wie die Frage nach deren gesamtökologischer
Herkunft. Mich berührt, was Bion »O« nannte, unsere »maximale unbe-
wusste Angst«, und die damit verbundene Frage nach den Intensitäten von
Dunkelheit (in uns) und Licht.Vgl. León Grinberg, Dario Sor und Elizabeth Tabak de Bianchedi, W. R. Bion: eine Einführung, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1993. Ich denke zurück an das zwischen Wach-
und Traumsein kurz gelüpfte Lid meiner Katze, das darin erheischte Licht,
und denke dieses Licht als Quelle für eine bessere Analyse unseres Habi-
tats, in dem, wie ich gerade in einem Forschungspressebericht lese, die
Katze (und ihr ökologischer »Pfötchenabdruck«Vgl. Peter Carstens, »Klimakiller Hund und Katze: So verringern Sie ihren CO2-Pfötchenabdruck«, in: GEO, 17.8.2017, https://www.geo. de/natur/nachhaltigkeit/17011-rtkl-klimaschutz-zu-hause-klima- killer-hund-und-katze-so-verringern-sie (27.12.2020).) angeblich mitverantworlich für die Klimakrise ist.