Meine Abschlussleistung für das Seminar »Ciné-Ethnogra- phie und Theorien des ethnographischen Dokumen- tarfilms«, das ich im Wintersemester 16/17 besuchte, bestand aus dem 78-minütigen Essayfilm L’usine, c´est particulier quand-même (FR 2017) / (dt. »Ist schon eigen- artig, so eine Fabrik«)https://vimeo.com/216389178[12.10.21], einer teilnehmenden Beobachtung in einer französi- schen Verpackungsfabrik nahe Orléans. Anhand von insgesamt sieben Interviews und Arbeitssequenzen am Fließband werden der Alltag, die Gesten und die Gesprä- che der Arbeiter:innen gezeigt. Meine Abschlussarbeit ist jedoch nicht so sehr deshalb interessant, weil daraus ein eigenständiger Essayfilm entstanden ist – der der Kategorie des Amateurfilms zuzuordnen ist –, sondern vielmehr deshalb, weil er das Ergebnis filmischer und kommunikativer Prozesse ist, die durch die Kamera sichtbar geworden sind. Auf meine eigene Erfahrung zurückblickend, möchte ich im Folgenden zeigen, inwie- fern die Geste des »Filmens eines Dokumentarfilms« mir einen anderen Zugang zum Film und zur Forschung eröffnet hat. Ich nehme es jedoch gleich vorweg: Es geht mir nicht um das technische Können, das ich nicht unbedingt hatte und auch nicht unbedingt erworben habe. Was mich an der Praxis interessiert, ist vielmehr ein »Lernen anhand des Films«, oder in meinem Fall genauer gesagt, anhand »der digitalen Spiegelreflexka- mera« (die ich mir von meiner Schwester extra für das Projekt ausgeliehen hatte).

Persönlicher Bezug zur Fabrik

Aus eigener Erfahrung war mir die Fabrik von TPC seit 2011 bekannt: In demselben Jahr, in dem ich die Filmwissenschaft und insbesondere die Montagekunst der russischen Avantgarde der 20er Jahren entdeckte, sammelte ich meine ersten Erfahrungen am Fließband (das mir aus diesem Grund immer sehr filmisch schien), um mein Studium in einer französischen classe préparatoire im Gegensatz zu den meisten anderen Studierenden, für deren Familien die Ausbildungskosten selbstverständlich sind – selbst zu finanzieren. So habe ich von 2011 bis 2016 jeden Sommer in der Verpackungsfirma von TPC in Saint-Jean-de-Braye (in der Nähe von Orléans) gearbeitet und mich über die Jahre mit den Menschen, dem Fabrikleben und den Arbeitsbedingungen am Fließband vertraut gemacht.

Die Fabrik ist mit ihren 230 Beschäftigten und zwei (inzwi- schen drei) Produktionsstätten ein stark hierarchisier- ter und auf den ersten Blick undurchschaubarer Ort. Das administrative Personal, das seinen Sitz in einem sepa- raten Gebäude neben der Werkhalle in Saint-Jean-de- Braye hat, bildet eine eigenständige Gruppe, die von den Arbeiter:innen getrennt ist. Die Arbeiter:innen in den Werkhallen sind ihrerseits in kleine Teams aufgeteilt, die von Gruppenleiter:innen und Teamleiter:innen betreut werden. Innerhalb der Gruppe der Arbeiter:innen ist unter den Arbeiter:innen mit unbefristeten und befris- teten Stellen sowie Zeitarbeiter:innen zu unterscheiden. Die Fabrik von TPC unterscheidet sich außerdem von anderen Unternehmen dadurch, dass sie eine Inklu- sionsfirma ist, das heißt eine Firma des allgemeinen Arbeitsmarktes, die jedoch zu 80 % Menschen mit einer anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung beschäftigt.Im Gegensatz zu den deutschen Inklusionsbetrieben, bei denen der Anteil der schwerbehinderten Menschen in der Regel zwischen 30 % und 50 % liegen muss, muss dieser Anteil in französischen Inklusionsbetrieben zwischen 55 % und 85 % liegen. https://www.service-public.fr/particuliers/vosdroits/F1653 [30.09.2021]. Dieser Anteil liegt in TPC genau bei 80 % – davon sind jedoch die Zeitarbeiter:innen ausgenommen. Eine weitere Besonderheit der Fabrik liegt darin, dass sie eine Genossenschaft mit SCOP-Status (Genossenschaft in Arbeitnehmer:innenhand) ist. Das bedeutet, dass die Arbeiter:innen in einer Generalversammlung nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« abstimmen, dass das Kapital der Firma zu mindestens 51 % von den Arbeiter:innen gehalten wird, und dass die Gewinne gleichmäßig zwischen dem Unternehmen, den Angestellten und den Teilhabenden aufgeteilt werden.

TPC hat mich als Untersuchungsort aber vor allem deshalb interessiert, weil das Unternehmen typische Merkmale einer Fabrik aufzeigt. Gleichzeitig befragt es durch die zwei genannten Besonderheiten (als SCOP und Inklusi- onsfirma) die klassische Vorstellung einer Fabrik. Die ethnographische Beobachtung in dieser Fabrik durchzuführen, war für mich auch eine Möglichkeit, mich mit meiner eigenen Geschichte und Situierung (Haraway 1995) auseinanderzusetzen, indem ich zwei Welten, die Fabrik in Frankreich und mein Studium in Deutschland, zusammengebracht habe.

Theoretische Rahmung und filmische
(Vor)Bilder

Leitfragen für meine ethnographische Untersuchung in der Fabrik waren: Was versteht man unter dem Begriff »Arbeiter:in«? Welche Imaginationen, Vorstellungen und Stereotypisierungen werden mit dem Begriff aufgeworfen? Was bedeutet es ganz konkret, heute in Frankreich in einer Verpackungsfabrik zu arbeiten? Welche konkreten Auswirkungen hat die Fließbandarbeit auf die Körper der Menschen? Und: was ist Glück?

Diese Fragen ergaben sich aus dem Zusammenprallen verschiedener Elemente, u. a. dem im Seminar gesichteten Film Chronique d’un été (Jean Rouch/Edgar Morin, FR 1961) – mit seiner Frage an die Arbeiter:innen nach dem Glück und seinem Interesse für soziale Bedingungen und für den Alltag – und dem Buch Rückkehr nach Reims von Didier Eribon (2016), in dem der Soziologe die Entwicklung der Arbeiter:innenklasse im 20. Jahrhun- dert in Frankreich analysiert. Dabei interessierte mich die Neudefinierung der Figur des/r Arbeiters:in. Denn beim Arbeiten am Fließband ist mir die Vielfältigkeit der einzelnen Lebensläufe besonders auf- gefallen, was in meinen Augen in gewisser Hinsicht mit der klassischen homogenen Figur des/r Arbeiters:in bricht. Es ging mir jedoch nicht darum zu beweisen, dass Menschen mit Behinderung auch arbeiten können, sondern ich war vielmehr an dem Spannungsverhältnis interessiert zwischen dem, was man unter »Arbeiter:in« versteht, und der Art und Weise, wie dieser Begriff von den Menschen selbst, die so benannt und gleichzeitig daraus exkludiert worden sind, neu definiert werden kann. TPC als Inklusionsfabrik und Genossenschaft in Arbeitnehmer:innenhand erlaubte mir deshalb, die neo- liberalen Arbeitsbedingungen (einer gesellschaftlich benachteiligten Gruppe) und die Verbindung zwischen Arbeit und Körper zu hinterfragen.

Inspiriert wurde ich außerdem durch die Ästhetik oder die Herangehensweise von z. B. Auguste und Louis Lumière, Sergei Eisenstein, Dziga Vertov, Robert Bresson, Jean Rouch, und dem Sensory Ethnography Lab. Damit war mir bewusst, dass das Thema »Fabrik« visuell sehr vorbelastet ist und dass ich mich zunächst einmal mit meinem eigenen Repertoire an (Vor-)Bildern auseinandersetzen musste – beginnend damit, dass alle oben genannten Filmemacher männlich sind. Auch theoretische Kon- zepte und Texte, z. B. der Text von David MacDougall (2005), haben meine Erfahrung geprägt. In der Vorbereitung habe ich die anderen Studierenden gefragt, wie sie sich ein/e Arbeiter:in vorstellen, und welche Frage sie ihm/ihr stellen würden. Außerdem habe ich mir auch viele Gedanken über meine eigene Position gemacht, um herauszufinden, wie ich mit »Film« umgehen und die Fabrik und ihre Arbeiter:innen darstellen wollte: Sollte ich selbst filmen oder ihnen eine Kamera geben, um sich selbst darstellen zu können? Aus verschiedenen logistischen Gründen (Ablauf des Fabrikalltags, Mangel an Kameras…) musste ich schnell auf diese Form der expliziten Partizipation verzichten. Mir ist besonders stark aufgefallen, dass die Verantwortung, die ich den Arbeiter:innen gegenüber empfand, sowohl rechtlich (Bildrecht) als auch ethisch und ästhetisch ist. Ich habe Formulare für Bildrechte vorbereitet – die ich aber manchmal in der Eile vergessen habe. Es war der erste Schritt zu verstehen, wie groß der Einfluss logistischer und praktischer Details auf einen Film eigentlich ist.

Dreharbeit als »kamerieren« statt »filmen«

Mein Film fängt mit dem Arbeitsbeginn an: Kurz vor 7:30 Uhr in der Früh filmt die Kamera die Arbeiter:innen in weißen Blusen und mit Hygienehauben im engen Flur beim Eintreten in die Werkhalle. Die ersten Arbeiter:innen ziehen an der Kamera vorbei, ohne ihr große Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Form der zurückhaltenden Beobachtung (Ästhetik der »Fliege an der Wand« vom direct cinema), so wie ich sie mir vorgestellt hatte, ließ sich aber nicht lange durchhalten, denn im Off ertönten nach wenigen Minuten die ersten Guten-Morgen-Grüße, die direkt an mich adressiert waren. Im Bild nähert sich bspw. eine Arbeiterin, die die Kamera bemerkt, mit dem Finger darauf zeigt, in die Hände klatscht und mich anspricht: »Oh, sie hat das Foto (sic) mitgenommen! Hallo, meine Liebe [ma fille]! Guten Morgen! Wie geht’s dir?« Im Laufe der drei Tage meiner Aufnahmen in der Fabrik, wurde mir noch sehr oft gewinkt oder ich wurde beim Filmen angesprochen und in die Gespräche miteinbezogen, was mich hinter der Kamera sehr verunsicherte: Ich wollte nicht unhöflich sein, indem ich die Kommunikation verweigerte, aber ich zögerte anfänglich, zu sehr Teil des Geschehens zu werden, um eine »objektive Beobachterin« zu bleiben. Vor allem hatte ich zunächst das Gefühl, die Einstellungen durch die Sichtbarmachung meiner Anwesenheit hinter der Kamera zu ruinieren. Nach und nach habe ich jedoch verstanden, dass diese Interaktionen ein sehr wichtiger Teil der filmischen Situation sind und unbedingt im Film auftauchen müssen. Deshalb beginnt der Film gleich mit einer Situation, in der meine Vertrautheit mit den Arbeiter:innen deutlich thematisiert wird. Durch die Interaktion zwischen den Gefilmten und mir hinter der Kamera affirmiert sich der Film als teilnehmende Beobachtung. Man hört regelmäßig meine Stimme im Off, wenn ich mit den Arbeiter:innen spreche und ich habe Szenen im fertigen Film gelassen, bei denen diese Interaktion deutlich zu sehen ist. Mit Fernand Deligny (2007: 1742) könnte man sagen, dass ich durch diese Erfahrung ein Bewusstsein für das »camérer« (»Kamerieren«) statt das »Filmen« entwickelt habe. Delignys Neologismus »camérer« betont die – für ihn erstaunliche – Besonderheit des Films, bei dem das filmische Endprodukt (der Film) namensgebend für die Praxis (filmen) ist, obwohl das eigentliche Werkzeug die Kamera ist. Mit dem erfundenen Verb »camérer« distanziert sich Deligny von einer erzählerischen filmischen Praxis, die notwendigerweise in einen Film mündet, um den Fokus auf die Prozesse zu setzen, die durch die Kamera ermöglicht werden. Gleichzeitig plädiert er dafür, dem Zufall und der Improvisation mehr Gewicht zu geben. Dieses Begreifen der filmischen Geste als Bedienen der Kamera ist etwas, das meine Erfahrung während der Dreharbeit stark geprägt hat. Denn in meinem Fall hat der Mangel an Praxiserfahrung und technischem Wissen nämlich eine große Rolle gespielt und oft zu unerwarteten Situationen geführt, die sich aber doch als sehr positiv erwiesen haben. Ich hatte beispielsweise ursprünglich vor, mich auf die Besonderhei- ten der Fabrik zu konzentrieren: Den hohen Anteil an (weiblichen) Arbeiter:innen mit einer anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung und die Genossenschaft in Arbeitnehmer:innenhand. Doch wurde mir vor Ort sofort gesagt, ich dürfte keinen Film über Behinderung machen und die Produktnamen nicht zeigen. Die Arbeiter:innen waren auch nicht alle davon begeistert, gefilmt zu werden, und viele baten mich darum, ihre Gesichter nicht aufzunehmen, was ich respektiert habe. Diese schwierigen Beschränkungen und die komplexe Handhabung der Kamera haben aber dazu geführt, die Ästhetik des Films zu affirmieren: Statt mit totalen Einstellungen, die einen Überblick über die gesamte Fabrik gegeben hätten, habe ich eher mit Großaufnahmen von Händen gearbeitet, was mich wiederum an die Filme von Robert Bresson, wie z. B. Pickpocket (FR 1959) erinnert hat. Die Arbeit in der Fabrik wurde somit durch andere Parameter definiert, wie die Dauer der Einstellungen, die Wiederholung und Sequenzierung der Arbeitsprozesse, und durch die Aufmerksamkeit auf die Fertigkeit der Geste der Arbeiter:innen. Besonders auffällig war auch die Zeitlichkeit beim Drehen, insofern als einige Gesten nur einmal am Tag erfolgen und das Licht sich ständig ändert. Auch die grellen Filmfarben resultieren eher von einer falschen Einstellung der Kamera, werden dank der Ästhetik des gesamten Films zur Geltung gebracht. Während der Dreharbeit habe ich auch körperlich erfahren, was die Dauer einer Einstellung für eine Filmemacherin bedeutet. Ich wollte nämlich die Zeitlichkeit der Fließbandarbeit in langen Einstellungen wiedergeben, doch fiel es mir ziemlich schwer die Kamera einfach laufen zu lassen und zu warten, bis genug Zeit für die Einstellung vergangen war, vor allem weil man hinter einer Kamera für die Menschen rundherum gar nicht unsichtbar ist: hinter der Kamera ist man eigentlich im Zentrum der Interaktion. Diese Erfahrungen zeigen, dass »der Filmdreh selbst Quelle der Auseinandersetzung [werden] und neue Erkenntnisse produzieren [kann]« (siehe den Text von Julia Bee).


Montage

Die Montage war eine sehr spannende Etappe des Projektes, da ich in drei Tagen über sieben Stunden Filmmaterial (dazu Szenen, die wegen technischer Mängel unverwendbar waren) gesammelt hatte. Sie zielte nicht so sehr darauf ab, einen abgeschlossenen Film zu produzieren, und war vielmehr »a way of both extending and underlining the analytical work inherent in the moment of filming itself.” (Grimshaw/Ravetz 2009: 83). Sie spielte deshalb eine sehr wichtige Rolle in der Konzeptualisierung des Films und hat mir erlaubt, die somatischen Eindrücke der Arbeit in der Fabrik sowohl zu verarbeiten als auch wiederzugeben und das Konzept der Fließbandarbeit zu problematisieren.
In meinem Film arbeitet die Montage nach dem Prinzip der räumlichen und zeitlichen Fragmentierung der Arbeitsprozesse (Abfolge von verschieden langen Großaufnah- men der Hände über dem Fließband) und gleichzeitig als Assemblage der verschiedenen Gesten, Rhythmen, Menschen innerhalb der Fabrik als Ganzes. Deshalb habe ich auch den ganzen Film wie einen Tag montiert, da ich diese Ganzheit und Alltäglichkeit betonen wollte. Die aus den schon gesehenen Szenen bestehenden Überblendungen spiegeln hingegen die Überflutung an physischen Reizen wider, die ich aus eigener Erfahrung kannte: das Schwindelgefühl wegen der stundenlangen Wiederholung ein und derselben Geste, die visuelle Anstrengung, die es bedeutet, sich auf das penetrante und überfordernde regelmäßige Auftauchen der Produkte auf dem Fließband zu konzentrieren, das ineinander Übergehen aller Geräusche und die Beziehung zwischen der eigenen Position am Fließband und der Koordination der Arbeit eines größeren Bereichs. Der Film ermöglichte mir also eine Reflexion über die Materialität des Filmischen und dessen Beziehung zur Körperlichkeit und der physischen Erfahrungen. Indem er sich an der russischen avantgardistischen Montagekunst orientiert, adressiert der Film auch die Arbeiter:innen als ein Kollektiv, was dann durch die Fragen nach den Beteiligungsmöglichkeiten in der Fabrik zur Genossenschaft in den Interviews wieder aufge- griffen wird. Die Fragmentierung und Wiederholungen bestimmter Sequenzen und Einstellungen thematisie- ren auch eine Kritik der Konsumgesellschaft und des Exzesses an Verpackungen aller Art.

Stimme(-n) und Sprache(-n)

Die Einstellun- gen von der Arbeit am Fließband und anderen Aktivitäten (z. B. die Ausbildung zum Schutz des Körpers durch gute Körperhaltung am Arbeitsplatz oder das Mittagsessen in der Kantine) alternieren mit sieben Interview-Sequenzen in talking heads-Einstellungen, die eher für die soziale Dimension der Fabrik stehen. Geführt wurden die Interviews meistens nicht direkt am Arbeitsplatz am Fließband (außer bei einem einzigen Arbeiter), sondern in ruhigeren Bereichen wie dem Gemeinschaftsraum, wo die Pausen stattfinden, oder dem Umkleideraum. Die meisten Interviews zu Beginn der Dreharbeit waren von mir geplant, andere haben sich spontan ereignet: Das Interview mit einer Arbeiterin in der Mitte des Films ist beispielsweise daraus entstanden, dass diese bei dem Interview mit einer anderen Arbeiterin zugeschaut und sich als an der Diskussion interessiert gezeigt hat. Es war auch interessant zu beobachten, wie sich die interviewten Personen zu ihrer Umgebung verhielten: Während ihres Interviews beschimpft eine Arbeiterin ihre anwesenden Arbeitskolleginnen, die im Hintergrund zusammen sprechen, und macht vor der Kamera den anderen klar, dass sie jetzt das Wort hat. Eine andere Arbeiterin wollte lieber im Umkleideraum interviewt werden, weil sie nicht von den anderen gehört werden wollte. Am Ende des Interviews bricht sich in Tränen aus. Das Interview brachte sie aber dazu, ein Gespräch mit ihren Vorgesetzten zu suchen, um diesen ihre Unzufriedenheit mitzuteilen. An diesen Stellen verdeutlicht sich die aktive Rolle der Kamera beim Filmen: Die Kamera ist nicht passiv bei der Aufnahme von Situationen, sondern kann zum Geschehen beitragen und (kommunikative) Situationen verändern.

Es ist also wichtig beim Filmen diesen Aspekt im Kopf zu behalten und eine Sensibilität dafür zu entwickeln, wie die Menschen (inklusive der/die Filmemacher:in) in Anwesenheit von der Kamera reagieren, weil es ein wichtiger Teil des filmischen Prozesses ist, der nicht übersehen oder unterschätzt werden sollte.

Im Film sind die Interviews auch deshalb wichtig, weil komplett auf Kommentarstimme und Untertitel zur Kontextualisierung verzichtet wurde. Die Arbeiter:innen, und vor allem auch der Teamleiter, erklären selber im Laufe der Interviews, wie die Fabrik strukturiert ist und worin ihre Spezifizität besteht. Die Interviews handeln aber nicht nur von der Struktur der Fabrik, sondern auch vom Leben der Arbeiter:innen außerhalb der Fabrik und davon, ob sie glücklich sind. Durch diese Interviews gewinnt der Film an Subjektivität und Menschlichkeit, trotz der formalen Beschränkungen.

Nach der Montage des Films war die Arbeit aber noch nicht ganz abgeschlossen, da der Film auf Französisch war, obwohl er für ein deutsches ›Publikum‹ (zunächst die Seminarleiterin, sowie die Seminarteilnehmenden) gedacht war. Der Film musste also noch untertitelt werden. Diese den Filmwissenschaftler:innen oftmals unbekannte Arbeitsphase führte aber zu einer wichtigen ästhetischen und theoretischen Entscheidung, die teilweise auch aus logistischen und zeitlichen Gründen resultierte: die Entscheidung, nicht alle Gespräche im Film zu untertiteln. Bewusst wurden also nur die Interviewszenen untertitelt, die ich als kleine Unterbrechungen im Fabrikalltag betrachte. Die Gespräche am Fließband, im Ruhebereich oder während des Mittag- essens sind hingegen Teil des akustischen Umfeldes und des Alltags der Arbeiter:innen. Die Aufmerksamkeit soll also nicht so sehr auf den Inhalt der Gespräche gelenkt sein, sondern vielmehr ihre sensorische Eigenschaft wahrnehmen lassen: Diese Gespräche sind ein Geräusch von vielen unterschiedlichen Geräuschen in der Fabrik. So habe ich mir MacDougalls Begriff der »schoolscape« angeeignet und versucht, die Fabrik als ein Milieu zu verstehen und somit als solches aufzu- nehmen und zu montieren.

Zum Nachleben meines Essayfilms

Ein Screening des Films in der Fabrik habe ich aus Zeitgründen nicht selbst organisiert, aber es kann sein, dass der Film im Rahmen einer Generalversammlung gezeigt worden ist. Nichtsdestotrotz habe ich allen Interviewten eine DVD und einen Dankesbrief mit dem Link zum Film per Post zugeschickt. Darauf haben einige geantwortet, die von dem Film sehr berührt waren.

Von der Fertigstellung des Films bis zur Veröffentlichung dieses Artikels ist es interessant zu sehen, dass der Film, ursprünglich gedacht als Teilleistung einer Lehrveranstaltung, darüber hinaus weiter bearbeitet wurde, was auch vor ethische und ökono- mische Probleme stellt und auch allgemeine Fragen auf den Plan ruft: In welchem Rahmen/Kontext kann/sollte der Film gezeigt werden? Was geschieht überhaupt mit den Filmen von Amateur:innen? Gibt es Kategorien und Räume für solche Filme z. B. auf Festivals? Wie vertritt man solche Filme: als Filmemacherin und/oder als Wissenschaftlerin? Wenn mein Film dank beherzter Inter- ventionen von Julia Bee und anderen Lehrenden auch mehrmals öffentlich gezeigt werden konnte, wie z. B. an der Bauhaus-Universität Weimar (am 04. Mai 2017), der Concordia University in Montreal (am 17. Septem- ber 2018), und an der Université du Québec à Montreal (am 27. September 2018), blieben meine Einreichungen bei Festivals erfolglos.

Ein Jahr nach Abschluss des Projekts wurde ich von dem Fabrikleiter kontaktiert und eingeladen, ein weiteres Video in der Fabrik zu drehen. Diesmal handelte es sich um Interview-videos, die jedoch das Thema Behinderung klar adressieren sollten und die an die französische Regierung gerichtet waren, um sie über die Realität der Arbeitsbedingungen von Menschen mit Behinderung zu informieren. Denn die Regierung hatte ein neues Gesetz vorgeschlagen, das 2018 die Förderung von Inklusionsfirmen kürzen sollte. Aus diesem Projekt entstanden zehn Videos, in denen neun Arbeiter:innen der Firma von ihrer Erfahrung als Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt erzählten.Die Interviews sind auf YouTube abrufbar: «L’entreprise inclusive, pourquoi une entreprise adaptée ? Des employés témoignent”. https://www.youtube.com/watch?v=Wi6cQ-Ds1j0 [12.10.2021] Inspiriert von diesen Videos startete die UNEA (Nationalverband der Inklusionsfirmen in Frankreich) einen Aufruf an Arbeiter:innen von Inklusionsfirmen in Frankreich mit der Aufforderung, ähnliche Videos unter dem Hashtag »Fierdemonjob« (»StolzaufmeineArbeit«) zu posten und auf ihrer Webseite zu sammeln. Die Kampagne war erfolgreich und am 12.07.2018 wurde eine neue nationale Verpflichtungserklärung unterzeichnet, die die Zukunft von Inklusionsfirmen sichern sollte. Über dieses gute Ende hinaus zeigt das Projekt, wie aus einer teilnehmenden Beobachtung Aktivismus werden kann. Dieser Wechsel ermöglicht zu einem gewissen Grad, Machtverhältnisse zwischen Gefilmten und Filmmachenden neu zu verhandeln. Denn mit die- sem zweiten Projekt ging es nicht mehr darum, einen Film über die Arbeiter:innen zu machen, sondern im Auftrag der Fabrik und mit den Arbeiter:innen ein Video zu produzieren.

Literatur

Deligny, Fernand (2007):
Œuvres, Paris: L’Arachnéen.
Deuber-Mankowsky, Astrid (2022) :
»The Space of Appearance in Deep Under-
ground: A Film is Being Made and
the Documentary Gesture« in: Nicola
Behrmann and Antje Pfannkuchen (Hg.),
Modern Language Notes, special issue:
in/visible.

Eribon, Didier (2016):
Rückkehr nach Reims., Übers.: Tobias
Haberkorn, Berlin: Suhrkamp.

Haraway, Donna (1995):
»Situiertes Wissen. Die Wissenschafts-
frage im Feminismus und das Privileg
einer partialen Perspektive«, in: Carmen
Hammer/Immanuel Stieß (Hg.), Die
Neuerfindung der Natur. Primaten,
Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main/
New York: Campus, S. 73–97.

Grimshaw, Anna/Ravetz, Amanda (2009):
»Observational Cinema on the Move: The
Work of David MacDougall.«, in: ders.,
Observational Cinema: Anthropology,
Film, and the Exploration of Social Life,
Bloomington: Indiana University Press,
79–112.

MacDougall, David/Bickley, Daniel (1984):
»Der ethnographische Film als For-
schungsmittel. Ein Interview mit David
MacDougall und Daniel Bickley«, in:
Margarete Friedrich (Hg.), Die Fremden
sehen. Ethnologie und Film, München:
Trickster, S. 109–119.

MacDougall, David (2005):
»Social aesthetics and the doon school”
in: ders., The Corporeal Image: Film,
Ethnography, and the Senses, Princeton:
Princeton University Press, 94–119.