2020
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Vermittlung , Performance , Aktivismus , How-to
Experimente lernen, Techniken tauschen

I. HOW-TO-Create a Laboratory for the Radical ImaginationVgl. (Haiven/Khasnabish 2014), ein für uns früher und entscheidender Impuls, uns mit theatralen Strategien zur Anregung gesellschaftlicher Vorstellungskraft auseinanderzusetzen.

Das Theater der Sorge ist konzipiert als 3-Phasen-Modell: In der 1. Phase geht es um die HERSTELLUNG einer Laborsituation, in der präfigurative Lebens-, Denk- und Arbeitsformen in diskursiver und spielerischer Weise präsentisch erprobt und in konstituierende Prozesse übertragen werden können; in der 2. Phase geht es um die gemeinschaftliche Konzeption, Vorbereitung und Durchführung einer das Labor abschließenden öffentlichen AUFSTELLUNG, die auf den kollektiven Erfahrungen und Ergebnissen der Labore basiert. Dadurch können gesellschaftliche Resonanzen erzeugt und die konstituierenden Prozesse vorläufig instituiert werden. In der 3. Phase geht es dann darum, alle inhaltlichen Erkenntnisse und ästhetischen Versuche in eine wiederholbare Theaterinszenierung/Performance zu überführen. Die nötigen Voraussetzungen und Bedingungen für diese von uns VORSTELLUNGEN genannten Formate sind für die hier verhandelte Fragestellung nicht von Bedeutung – respektive würden sie den vorhandenen Rahmen überschreiten – daher sparen wir diesen Komplex an dieser Stelle aus.Bei tieferem Interesse vgl. (Thamer 2016).

Eine heterogene Gruppe von mindestens 3 bis maximal 15 Personen findet sich zusammen, um gemeinsam über ein bestimmtes Thema zu forschen, im gleichberechtigten Austausch miteinander zu lernen und ggf. für diese Zeit auch miteinander zu leben.Über die Bedeutung des Miteinander-Lebens während der Laborphase siehe unter Punkt III. die Ausführungen zu Care-Work. Neben der inhaltlichen Diskussion wird sich dem Thema zu gleichem Anteil auch künstlerisch-praktisch genähert. Je nach Komplexität und Ausmaß des zu bearbeiteten Feldes, beschließt die Gruppe vorab gemeinsam eine bestimmte Dauer der Zusammenkunft: Von 3 Tagen bis 6 Wochen (auch aufgeteilt in mehrere Blöcke) ist alles möglich. Es bieten sich insbesondere Forschungsgegenstände an, für deren Bearbeitung auf verschiedenste (dokumentarische und selbst produzierte) Materialien und Medien, wie Texte, Bilder (digital und analog), Videos, Audios etc. zurückgegriffen werden kann. Als Ort der Durchführung empfehlen sich Theaterräume, da diese erstens über die benötigte technische Infrastruktur verfügen und zweitens die Bedingungen erfüllen, die eine öffentliche Veranstaltung erfordert.


I.1. HOW TO START | Phase 0 | Vorbereitung:

I.1.1. WOZU?

  1. Bestimmung des Zwecks des Labors.
  2. Reflexion des Gruppen-Kontexts.

I.1.2. WAS?

  1. Bestimmung des Forschungsgegenstands, den es in der jeweils spezifischen Gruppenkonstellation zu erforschen lohnt.
  2. Vorläufige Eingrenzung des Forschungsgegenstands auf ein – in dem bestimmten Zeitraum – lustvoll zu durchdringendes Maß.

I.1.3. WER?

  1. Bildung der Gruppe der Teilnehmenden durch das Einladen von Teilnehmenden bspw. über einen Open Call, ein Seminarangebot oder persönliche Anfragen.
  2. Recherche von Expert*innen zum jeweiligen Thema.
  3. Einladen der Expert*innen, die sich etwa durch Vorträge, aber auch durch kontinuierliche Teilnahme am Labor beteiligen und den Prozess der Wissensgenerierung vertiefen können.

I.1.4. WIE?

  1. Verständigung über die Arbeitsweise im Vorfeld: Wie schaffen wir es, möglichst egalitär miteinander umzugehen? Wie gehen wir mit vorhanden Wissens-, Erfahrungs- oder Machthierarchien um, ohne diese weder zu leugnen noch zu reproduzieren? Was werden wir brauchen, damit sich alle wohlfühlen und sich trauen, aktiv teilzunehmen?
  2. Verteilung aller organisatorischen und reproduktiven Aufgaben (u. a. Erstellung einer digitalen Kommunikationsinfrastruktur; unter Umständen Akquise von Fördergeldern durch Antragstellung; PR und Öffentlichkeitsarbeit für die öffentliche Lecture Performance etc.; Verpflegung, Reinigungsarbeiten während der Laborphase etc.).
  3. Um die vorbereitenden Tätigkeiten möglichst effizient zu gestalten, sollten für Teilbereiche hauptverantwortliche Arbeitsgruppen gebildet werden. Im Zeitraum der Vorbereitung sollten regelmäßige Treffen vereinbart werden, um sich gegenseitig auf dem Stand zu halten und das weitere Vorgehen zu besprechen.
  4. Beginn mit dem kollektiven Anlegen der Materialsammlung (u.a. theoretische, künstlerische und journalistische Texte, Bilder, Videos, Audios etc.).
  5. Verteilung von Impuls-Referaten zu bestimmte Themenblöcken.

I.1.5. WOMIT?

  1. Gruppeninterne Kommunikation während der Vorbereitung über Mailinglisten, Chatgruppen etc.
  2. Regelmäßige „physische“ Treffen, notfalls über Skype o. ä.
  3. Geteilte Online-Dokumente und Cloud-Speicher für die Material-Sammlung anlegen.
  4. Mit Handhabung der technischen Geräte vertraut machen; mit welchen Medien kann wie an welchen Geräten gearbeitet werden?

I.1.6. WANN / WIE LANGE?

  1. Festlegung des Labor-Zeitraums; Mindestdauer der kontinuierlichen, ohne Unterbrechung stattfindenden Zusammenkunft: 3 Tage; in unserer Praxis haben sich Labore mit der Dauer von 7-10 Tagen besonders bewährt.
  2. Erstellung eines vorläufigen Ablaufplans / eines täglichen Programms.

I.1.7. WO?

  1. Suche nach geeigneten Räumen; im Optimalfall bietet der Raum nicht nur die benötigte (technische) Infrastruktur, sondern passt auch noch auf einer weiteren Ebene ideal zum Thema und zur Herangehensweise des Labors (z. B. durch lokale historische Verknüpfungen).
  2. Bei der Konzeption des Labors sollte nicht nur überlegt werden, welche Bedingungen der Veranstaltungsort aufweisen muss, sondern auch, ob die jeweilig konkrete inhaltliche und künstlerische Auseinandersetzung an einem spezifischen geografischen Kontext stattfinden sollte.

I.2. JUST DO IT | Phase 1 | Durchführung:

I.2.1. WOZU?

  1. Eventuelle Anpassung des Zwecks aufgrund der ersten Ergebnisse des gemeinsamen Recherche- und Reflexionsprozesses.
  2. Eventuelle Erweiterung des Gruppen-Kontexts.

I.2.2. WAS?

  1. Weitere Eingrenzung relevanter Themenblöcke.
  2. Stetiges Erweitern der Materialsammlung; gleichzeitige Konfektionierung der Materialien.

I.2.3. WER?

  1. Alle Teilnehmenden tragen während der Laborphase gemeinsam zum Gelingen des Labors bei: Durch ihre Impulsreferate, Wortmeldungen, praktisches Experimentieren, aber auch durch die Übernahme organisatorischer oder reproduktiver Tätigkeiten.
  2. Verantwortlichkeit über den Weg der Durchdringung bestimmter Themenkomplexe liegen bei den jeweiligen Input-Referent*innen.
  3. Moderator*innen der anschließenden Diskussionen sollten, ebenso wie die jeweiligen Protokollant*innen und die ggf. einführenden Vorstellungen eingeladener Expert*innen, vorab festgelegt worden sein.
  4. Allen Teilnehmenden sollte während der praktischen Versuche die Möglichkeit gegeben werden, sich an den unterschiedlichen Materialisierungsstationen auszuprobieren. Sobald sich bestimmte Vorlieben herausgebildet haben, können diese aber auch dauerhaft mit denselben Personen besetzt werden.

I.2.4. WIE?

  1. Stetige Überprüfung und Adaptierung der gemeinsamen Arbeitsweise nach den Bedürfnissen aller, etwa durch tägliche morgendliche und/oder abendliche Feedbackrunden.
  2. Raum/Räume für Diskussionen und erste künstlerische Improvisationen schaffen.
  3. Evtl. Adaptierung eines weiteren Programms in den abendlichen Feedbackrunden.

I.2.5. WANN / WIE LANGE?

  1. 9:30-10:00 Uhr: Körper- und Aufmerksamkeitsübungen als Warm-up.
  2. 10:00-13:00 Uhr: theoretische Session; 30 Minuten pro Input-Referat plus 30 Minuten Diskussion.
  3. 13:00-14:00 Uhr: Mittagspause.
  4. 14:00-17:00 Uhr: praktische Session.
  5. 17:00-18:00 Uhr: Feedbackrunde.
  6. anschließend gemeinsames Abendessen.
  7. Der Abend kann gut für thematische Film-Screenings o. ä. genutzt werden.

I.2.6. WOMIT?

  1. Praktisches Experimentieren in Kleingruppen mit den vorhandenen Medien und Materialien.
  2. Kollektive Bestimmung der zu verwendenden Medien.

Aus der folgenden Liste der Beispiele aus unserer Praxis kann frei variiert, gewählt und kombiniert werden, ebenso können weitere Elemente hinzugefügt werden:

KÖRPEREBENE

  • Stimme: Live (unverstärkt) sprechen / singen / flüstern / schreien
  • Tanzen / Bewegen
  • Spiel / Performance / Vollziehen von Handlungen

VIDEOEBENE

  • Dokumentenkamera (oder auch Presenter genannt)
  • Laptops für Bilder und Videos
  • Live-Kamera
  • Videomixer

SOUNDEBENE

  • Laptop mit Midi-Controller
  • Originalzitate, vorproduziert als Audios
  • Selbst eingesprochene (ggf. verfremdete) Zitate
  • Musik / Sounds (Atmosphäre), erzeugt durch Instrumente oder
  • Live (verstärkt) sprechen / singen / schreien (ggf. mit Effekten)
  • TEXTEBENE
  • Vorgefundene und/oder selbstverfasste, collagierte Texte

I.2.7. WO?

  1. Für die theoretischen Sessions sollten die Räumlichkeiten eine konzentrierte Atmosphäre unterstützen; sie müssen also nicht zwangsläufig im selben Raum wie die praktischen Versuche stattfinden.
  2. Die praktischen Versuche müssen selbstverständlich in einem technisch ausreichend ausgestatteten Raum unternommen werden.

I.3. SHOW YOU’RE NOT AFRAID | Phase 2 | Abschluss:

I.3.1. WAS?

  1. Öffentliche Lecture Performance zum Ende des Labors.
  2. Daran anschließende Publikumsdiskussion.

I.3.2. WOZU?

  1. Öffentliche Lecture Performance am Ende des Labors, um den kollektiven Lernprozess zu kanalisieren, künstlerisch zu gestalten und als vorläufiges Ergebnis einem Publikum zur Diskussion zu stellen.
  2. Die Debatte mit einem externen Publikum kann über Publikumsgespräche oder eine Dokumentation von Labor und Performance zeitlich und räumlich über das Hier und Jetzt der Performance und des Labors ausgedehnt werden.

I.3.3. WER?

  1. Alle Teilnehmenden des Labors sind während der prozesshaften Laborphase auch an der Konzeption und Organisation der Lecture Performance beteiligt.
  2. Eine öffentliche Veranstaltung zu organisieren und durchzuführen erfordert (sowohl auf als auch hinter der Bühne) unterschiedlichste Fähigkeiten; meist findet sich somit für jede*r Teilnehmer*in ein adäquates Feld der Betätigung.

I.3.4. WIE?

  1. Alle Teilnehmenden ist freigestellt, in welcher Form sie sich jeweils an der Durchführung der öffentlichen Aufstellung beteiligen wollen und können.
  2. Gemäß Brechts Lehrstückkonzeption, soll es keine Trennung in Darstellende und „erste Zuschauer“ geben.
  3. Nichtsdestotrotz soll niemand gegen ihren oder seinen Willen auf die Bühne gezerrt werden. Gerade beim Erarbeiten der Lecture Performance gilt daher: Jede*r nach seinen / ihren Fähigkeiten, jede*r nach ihren / seinen Bedürfnissen.

I.3.5. WOMIT?

  1. Die Wahl der Form und der eingesetzten Mittel ergibt sich aus den praktischen Versuchen.

I.3.6. WANN / WIE LANGE?

  1. Erfahrungsgemäß steigt gegen Ende der Laborphase der Produktionswillen bei den Beteiligten. Wir empfehlen je nach Länge des Labors min. die letzten 1-2 Tage für die Entwicklung der finalen Lecture Performance / Präsentation freizuhalten.
  2. Die Dauer der Lecture Performance sollte auf ca. 1 Stunde festgelegt werden.

I.3.7. WO?

  1. Die öffentliche Veranstaltung findet in dem Raum statt, der für die praktischen Spiel-Versuche genutzt wurde; dieser muss also von vorherein auf seine Eignung für diesen Zweck hin geprüft worden sein.
  2. Die anschließende Diskussion mit dem Publikum kann im selben Raum stattfinden; die Verlegung in eine zwanglosere Umgebung (z.B. Barbereich) hingegen, kann der offenen Diskussion zuträglich sein.

II. DAS ATHENER LEHRSTÜCK – Initial zur Konzeption eines Theaters der Sorge

Im März 2013 bezogen wir mit unserem Theaterkollektiv Europäische Gemeinschaft für Kulturelle Angelegenheiten (EGfKA) für einen knappen Monat lang Quartier in einer engen Wohnung im Athener Anarchisten-Viertel Exarchia – das übrigens derzeit erneut eine Welle der Räumungen und staatlicher Repression erfährt. Wir hatten die Einladung der Besetzer*innen des Athener Embros-Theaters angenommen, dort im Rahmen einer Artist Residency einen Workshop zu Brechts Fatzer-Material durchzuführen. Dieser Workshop sollte uns als Recherche- und Vorproduktionsphase für die Theaterinszenierung FATSA/KOINA: Athen dienen, die wir für die 3. Mülheimer Fatzer Tage im Ringlokschuppen Ruhr produzieren wollten.

In Brechts Fatzer geht es um vier Soldaten, die auf Initiative Johann Fatzers beschließen, aus dem Ersten Weltkrieg zu desertieren. Sie ziehen gemeinsam in die Stadt Mülheim an der Ruhr, tauchen dort unter und warten – bekanntermaßen vergeblich – auf die Revolution, die wirklich alle frei und gleich macht und Desertion gutheißt. Innerhalb der Gruppe der Deserteure entwickeln sich im Laufe der Zeit des Ausharrens im Untergrund unüberwindbare Konflikte, die in der Ermordung des – vermeintlichen – Egoisten Fatzer durch seine Genossen gipfeln. Brecht diente dieser nie abgeschlossene, immer Fragment gebliebene Text mehrere Jahre lang als experimentelles Studienmaterial zu Fragestellungen, die das Individuum in seiner Beziehung zur Gemeinschaft/Gesellschaft betreffen und entwickelte hierin auch die ersten Ansätze seiner Lehrstück-Theorie.Ausführlicher behandeln wir die Lehrstück-Theorie unter Punkt III.

Für unsere geplante Inszenierung übertrugen wir den Plot in die Gegenwart und machten aus den Weltkriegsdeserteuren fünf Menschen, die aus dem (alltäglichen) Krieg im globalen Süden ins reiche und friedliche Europa fliehen – ins imaginierte Paradies. Als mittellose Illegalisierte stranden sie in der Stadt Athen, durch das Dublin-II-Abkommen zum Bleiben verdammt. Anstatt in erhoffter Freiheit und Sicherheit, finden sie sich in einer multiplen Krisensituation wieder und müssen als von Rassismus betroffene Geflüchtete tagtäglich die Unversehrtheit von Leib und Leben fürchten – analog zur Gruppe der Deserteure im Fatzer müssen sie also versuchen, möglichst unauffällig zu (über)leben.

Die Aktualität der durch das Fatzer-Material ausgelösten Fragen nach dem Verhältnis des*der Einzelnen zur Gemeinschaft/Gesellschaft erschien uns durch die geographische Versetzung/Überlagerung von Mülheim nach/und Athen in ihrer ganzen Dringlichkeit: Schließlich zeigte sich gerade an den Außengrenzen der Festung EU in dieser Zeit sehr deutlich, wie Krise und Ausnahmezustand (und somit Krieg in einer anderen Form), Rassismus und Abschottung – aber auch alternative Formen solidarischer Beziehungsweisen und Aushandlungsprozesse über alternative Gesellschaftsordnungen – zusammenfallen. Im gemeinsamen Austausch mit einer heterogenen Gruppe von Bewohner*innen Athens galt es nun, die Motive des Fatzer-Materials mit der alltäglichen Lebensrealität in der Stadt Athen abzugleichen und die daraus gewonnen Erkenntnisse in die Konzeption unserer Inszenierung miteinfließen zu lassen.

Der offenen und breit gestreuten Facebook-Einladung zum Workshop folgten rund 20 Teilnehmer*innen aus Afghanistan, Deutschland, der Elfenbeinküste, Griechenland, Italien, Österreich und der Schweiz. Unter ihnen waren Schauspieler*innen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Aktivist*innen, Geflüchtete, Wissenschaftler*innen diverser Disziplinen und Erwerbslose. Vorab hatten wir einen vorläufigen Ablaufplan erstellt, der aber permanent offen für Veränderungen und Anpassungen bleiben sollte, also in der Diskussion mit allen Teilnehmenden ergänzt und stetig verändert werden konnte. Ein Workshop-Tag gliederte sich in zwei Teile: Morgens gab es inhaltliche Input-Referate und daran anschließende Diskussionen, am Nachmittag dann szenisch-praktische (Spiel-)Experimente, in denen versucht werden sollte, die Inhalte in unterschiedlichste Formen künstlerischen Ausdrucks zu übersetzen.

Auf der inhaltlichen Ebene wurden, neben dem Fatzer-Material, auch einige, uns für die Fragestellungen passend erscheinende theoretische Begriffe und KonzepteZu jener Zeit waren gerade einige Texte Walter Benjamins – bspw. „Zur Kritik der Gewalt“ (Benjamin 1921) – erstmals ins Griechische übersetzt und aufmerksam rezipiert worden. Dazu boten sich u.a. auch Giorgio Agambens Überlegungen zum Ausnahmezustand (Agamben 1994) oder Paolo Virnos Exodus-Konzept (Virno 2010) an, innerhalb der Fragenkomplexe mitdiskutiert zu werden. vorgestellt und diskutiert, um diese mit dem künstlerischen Textmaterial und den persönlichen Lebenswirklichkeiten zu verschalten und somit eine weitere Ebene der Reflexion einzuziehen.

Input-Referate waren, entweder von uns als Kerngruppe oder von befreundeten Teilnehmer*innen in Absprache mit uns, bereits im Vorfeld vorbereitet worden. Dazu hatten wir – mithilfe von in Athen ansässigen Freund*innen – vorab einige externe Expert*innenEs arbeiteten u.a. mit: ein 1998 aus Afghanistan immigrierter Arzt, der sich in der Immigrant*innen-Community engagiert, eine auf Flüchtlings- und Europarecht spezialisierte und für Menschenrechts-NGOs tätige Anwältin, Geflüchtete von der Elfenbeinküste. als Input-Geber*innen gewinnen können. Diese berichteten von ihren Tätigkeiten und/oder Erfahrungen und halfen uns so, die Fragestellungen dezidierter und differenzierter zu beleuchten.

Die praktischen Sessions am Nachmittag waren von einer großen experimentellen Offenheit gegenüber den diversen künstlerischen Ausdrucksformen geprägt. Jede*r konnte Vorschläge einbringen, wie sich einem inhaltlichen Gegenstand ästhetisch genähert werden kann. So experimentierten wir z. B. mit Text-Fragmenten aus dem Fatzer in verschiedensten Theateransätzen, vom klassischen Schauspieltheater über epische und performative Darstellungen und chorische Übungen bis hin zu Tanz- und Bewegungstheaterformen. Teilnehmer*innen, die über keine Schauspielausbildung verfügten und sich im szenischen Agieren unsicher fühlten, konnten sich dafür mit multimedialen Fertigkeiten (u. a. Film, Musik/Sounds, Projektionen, Graphik, Malerei, Lichtinstallationen) miteinbringen.

Von Anfang an war klar, dass wir die Workshop-Woche mit einer öffentlichen Präsentation abschließen werden, um erstens die erarbeiteten Inhalte und die gewonnen Erkenntnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen – diese also abermals zur Diskussion zu stellen – und zweitens, um in den praktischen Versuchen eine größere Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit zu erreichen. Allerdings beharrten wir gleichzeitig von Anfang an darauf, dass der Prozess den Fokus bilden und es keinen Produktionsdruck geben sollte. Auch die Form der Präsentation hatten wir bewusst offengehalten, um diese mit allen Teilnehmenden aus dem Workshop heraus zu entwickeln. Um all die eingebrachten künstlerischen Ausdrucksformen gleichberechtigt miteinander zu verweben, einigten wir uns dann sehr schnell auf die recht freie Form der Collage.

Die dem ganzen Produktionsprozess übergeordnete und immer wieder neu verhandelte Frage, war die nach der Rolle eines zeitgemäßen Politischen Theaters und wie ein solches sich heute verhalten muss, um auch wirklich politisch zu sein. Wir konnten den Workshop in Athen als Versuchsanordnung dafür verwenden, kollektive Alternativen des Zusammenarbeitens und -lebens zu erproben, Reflexionen über emanzipatorische Arbeitsweisen anzustellen und damit auch generell auf institutionelle Gegebenheiten rekurrieren. Dies theoretisierten wir im Anschluss als Theater der Sorge, in dessen Grundlagen und Funktionsweisen wir im Folgenden einführen.

III. THEATER DER SORGE – Radikale Lernpraxis in Laboratorien sozialer Phantasie

Ausgehend von dem Dilemma, dass sich künstlerisch-kritische Bezugnahmen auf die Politik / das Politische mehr und mehr zu einer förderungsrelevanten Bezugskategorie entleerten, eine Festivalisierung politischer Kunst stattfand, die Kritik kommodifiziert und somit nahezu stillgelegt wurde oder gar systemstabilisierend wirkte (Vgl.: Draxler 2008), stellten wir uns die Frage, wie und in welcher Form denn dann unter diesen Bedingungen noch Politisches Theater gemacht werden könne.

Wir entwickelten also, ausgehend von der im Embros-Theater gemachten praktischen Workshop-Erfahrung und dem sich anschließenden weiteren Produktionsprozess von FATSA/KOINA: Athen, das Modell eines Theaters der Sorge, welches als ein politisch gemachtes Politisches Theater verstanden werden soll. Denn unserer Meinung nach reicht es weder aus, wie es in der Praxis vieler öffentlich geförderter Staats- und Stadttheater zu beobachten ist, sich alleine auf politische Inhalte zu beziehen, ohne dabei gleichsam die (Re-)Produktionsbedingungen,Mit dem Sorge-Begriff stellen wir einen klaren Bezug her zu aktuellen Debatten der feministischen Theorie, die auch für soziale Bewegungen die Zentralstellung der Sorge fordern, um diese auf Dauer zu stellen. in welchen diese bearbeitet werden, zu hinterfragen und ggf. an diese Inhalte anzupassen. Genauso wenig kann aber auch die bloße (wie auch immer gestaltete) kollektive Herstellungsweise ohne direkte Auseinandersetzung mit politischen, sozialen oder ökonomischen Verhältnissen genügen, um im – für uns – wirklichen Sinne als Politisches Theater zu gelten.Mit der Tautologie des politisch gemachten Politischen Theaters beziehen wir uns auf theaterwissenschaftliche Diskurse, die in den zeitgenössischen, postdramatischen Tanz- und Theaterformen der freien Theaterszene das Politische weniger im verhandelten Inhalt als vielmehr in der Reflexion der strukturellen Gegebenheiten, unter denen eine Produktion entsteht, verorten. Vgl. hierzu z. B. (Deck/Sieburg 2011).

Lehrstück-Konzeption

Als logischer Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu einem Theater der Sorge diente uns – inspiriert natürlich auch durch die Auseinandersetzung mit dem Fatzer – zuerst der Bezug auf das von Brecht um 1930 entwickelte Konzept der Lehrstück-Praxis, die er als ein lehrhaftes Theater verstanden wissen wollte, in der Lernende spielend als Produzent*innen von Kunst im Mittelpunkt stehen. Die Teilnehmenden sollen dabei „durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden und so weiter gesellschaftlich beeinflußt werden [...]“ (Brecht 1937/38: 351), sie sollen also, indem sie „zugleich zu Tätigen und Betrachtenden“ (Brecht, 1926-30: 524) gemacht werden, durch das Theaterspielen erzogen werden, denn das Lehrstück „lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird.“ [...]“ (Brecht, 1937/38: 351). Gerade die Rolle des theatralen Spiels wird von Brecht hier als vollständig veränderte, als das Lernen unterstützende Tätigkeit hervorgehoben, denn wenn das „System Spieler und Zuschauer“ aufgehoben wird, gibt es „nur mehr Spieler, die zugleich Studierende sind“ (Brecht 1930/31: 396).

In unserer aktualisierten Form von Lehrstückpraxis, die wir mit dem Theater der Sorge verfolgen, besteht eine entscheidende „Neuerung“ (Vgl. Brecht 1932/33: 557: „Neuerung nicht Erneuerung“) darin, dass nicht zwangsläufig ein von Brecht geschriebener Lehrstück-Text als Lernmaterial zugrunde liegen muss. Wir forcieren vielmehr einen harmonischen Dreiklang aus künstlerischen und dokumentarischen Materialien, passenden theoretischen Abhandlungen und Erfahrungswissen aus politischer Bewegungsarbeit, aus dem dann gemeinsam ein zu studierender Materialkorpus erstellt wird.

Care-Work

Diese Gedanken zum Lehrstückansatz wollten wir dann mit historischen und aktuellen Diskursen rund um das Thema Care-Work unterlegen und versuchten, die dort verhandelten Fragen auf unseren Kontext zu übertragen: Der Begriff der sozialen Reproduktion entstammt der marxistischen Tradition und beinhaltet einerseits die für die biologische Wiederbelebung oder Herstellung der menschlichen Arbeitskraft notwendige Fürsorgearbeit (Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege, etc.) und andererseits die Reproduktion der sozialen und kulturellen Werte von Gesellschaften (vgl. Haidinger/Knittler 2014: 109). Hier liegen für uns die strukturellen Gemeinsamkeiten von Sorge-, Theater- und Lehrtätigkeiten: Bei all diesen Arten von Arbeit handelt es sich um nicht bzw. schlecht automatisierbare Arbeit, die mit dem eigenen Körper mit/für gleichzeitig anwesende(n) Körper(n) hervorgebracht wird, ohne dabei weder ein dauerhaftes noch ein unmittelbar materielles Produkt herzustellen. Als prekäre Arbeiten schwanken sie zwischen „merkwürdigen Symmetrien“, sind „öffentlich und privat zugleich“ und lassen „die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Lebenszeit verschwimmen“ (Mitropoulos 2011: 57). Es handelt sich um Formen affektiver (vgl. Mezzadra 2005) und relationaler Arbeit, die nicht nur zur (Re)Produktion der Arbeitskraft, sondern auch von kulturellen Werten führt und nach wie vor größtenteils von Frauen und queeren Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen verrichtet wird. Wie für Care-Arbeiter*innen ist es auch für Theaterarbeiter*innen (gerade in der sogenannten Freien Szene) und Tätige in der freien Bildungsarbeit meist äußerst schwierig für bessere Arbeitsbedingungen oder Entlohnung zu kämpfen, da die Betroffenen oft ihre eigenen prekären Chefs sind. Die Arbeitsverweigerung würde die ‚Falschen‘ treffen und zudem würden die entsprechenden Arbeiten eben nicht direkt als wertschöpfend anerkannt werden.

Unseren Überlegungen zu einem Theater der Sorge diente als Startpunkt für einen um Bedeutung und Wirkmächtigkeit erweiterter Care-Begriff. Diesem geht es neben der Sichtbarmachung der bisher nicht als wertschöpfend anerkannten Reproduktionsarbeit auch darum, die Zentralstellung der Sorge als Grundbedürfnis aller sozialen Beziehungen zu erreichen. Care-Arbeit – als Schaffung von sozialer Infrastruktur gedacht –, ermöglicht dabei „empathische Aufmerksamkeit, aktive Anteilnahme und in ihrer überschießenden Form Solidarität und […] Verbundenheit, die sich konkret in kollektiven Formen des Communen konstituieren kann […]“ (Winter 2013: 7). Sorgearbeit kann so subjektive Energie intensivieren, da sie den Blick „auf die soziale Gewordenheit, auf die Gemachtheit der gegenwärtigen Verhältnisse, auf deren Historie und damit Veränderlichkeit“ (Winter 2013: 13) hin öffnet.

Vor diesem theoretischen Hintergrund konzipierten wir das Theater der Sorge konkret als 3-Phasen-Modell:

Phase I: Lehrstückpraxis als Labor zur Erprobung präsentischer Prozesse

Zuerst geht es darum zu lernen, in und mit heterogenen Gruppen, auf einer mikropolitischen Ebene präfigurativ (im Sinne eines pre-enactmentsEinige einführende Gedanken zum Begriff des ‚Preenactments‘ finden sich bei: (Turnheim 2019). künftigen solidarischen Zusammenlebens) mit dem Aufbau und der Entfaltung von affektiven Beziehungen, vielfältigen Formen der Organisierung und ästhetischen Wahrnehmungsweisen zu experimentieren. In kleinerem Rahmen können so Formen „radikal inkludierender Partizipation und Beschlussfassung praktiziert“ (Lorey 2013: 49) und – über das Konkrete hinausweisend – die Suche nach dem Gemeinsamen in den Vordergrund gestellt werden. Zur Erprobung solcher präsentischen Prozesse – verstanden als ein „gegenwärtiges Werden“ in „ausgedehnte[r], intensive[r] Gegenwart“ (Lorey 2013: 50) – bietet sich das Theater / der Theaterraum in besonderer Weise an, weil es/er bereits von sich aus von der doppelten Markierung gekennzeichnet ist, „Kunst und sozialer Raum zugleich zu sein.“ (Wihstutz 2012: 24) Entscheidend in dieser ersten Phase, der Laborsituation, ist es jedoch, Theater nicht als einen „‚Raum zum Schauen‘ und damit als ein Dispositiv, das sich mit der Aufteilung in Zuschauer und ein inszeniertes Geschehen konstituiert“ (Wihstutz 2012: 24), zu definieren. Vielmehr geht es darum, den Beteiligten eine gleichberechtigte Teilhabe am SinnlichenDas französische Wort ‚partage‘ im französischen Titel „Le Partage du sensible“ bedeutet gleichzeitig ‚Aufteilung‘ und ‚Teilhabe‘. Siehe dazu auch den Text von Stephan Hölscher in diesem Band. (vgl. Rancière 2006) zu ermöglichen – worunter wir auch eine Erhöhung der Sensibilität und somit der Sorge für sich und andere verstehen.Beteiligt sind alle Teilnehmenden somit auch an allen anfallenden reproduktiven Arbeiten. Der Bezug auf den Sorgebegriff erfolgte u.a. auch aus dem Grund, dass ein Raum zur Selbstverständigung über emanzipatorische Lebens-, Denk- und Arbeitsformen erst dann wirklich geschaffen wird, wenn neben dem gemeinsamen Diskutieren und den praktischen Spiel-Versuchen sich auch über die Notwendigkeit des gemeinsamen Kochens und Putzens verständigt wird und diese Aufgaben fair verteilt werden. Die radikale Lernpraxis, der sich das Theater der Sorge verpflichtet, bezieht zu einem nicht geringen Teil das Lernen dieser Notwendigkeiten zum Gelingen einer gerechten Gesellschaft mit ein.

Laboratorien sozialer Phantasie

Auch wenn der Begriff des ‚Labors‘ als mittlerweile – gerade in der sog. Freien Szene – inflationär gebrauchte Worthülse bezeichnet wird, beharren wir weiterhin darauf, das Theater als den Raum mit der größten Möglichkeit zum freien Experiment zu bezeichnen und zu benutzen. Um dies zu untermauern, schließen wir uns der Sicht Wolfgang Heises an, – der von 1963 bis 1985 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin war und dort utopische Philosophie lehrte – wonach das Theater als „Laboratorium der sozialen Phantasie“ (Heise 1968: 217)Sich indirekt auf Heises Ausführungen beziehend, verwendete auch Heiner Müller diesen Begriff des Öfteren. Vgl. z.B. (Müller 1975: 176). zu verstehen und zu benutzen sei. Heise plädierte dafür, das Theater als „Organ der Selbstbesinnung der Gesellschaft auf ihr eigenes historisches Gewordensein [...] als Organ der Selbstdarstellung unserer Gesellschaft, einschließlich der Selbstkritik“ (Heise 1968: 217) zu begreifen.

In dieser Funktion könnte das Theater als „Organ zur Diskussion politischer Probleme, zur Entscheidung von Gestaltungsfragen sozialer Beziehungen“ und zur „Entdeckung unserer eigenen Möglichkeiten, [...] der produktiven Möglichkeiten des Individuums“ (Heise 1968: 217f.) beitragen. Wie sehr Heise bei der Formulierung dieser Gedanken Brechts Lehrstückkonzeption vor Augen hatte, zeigt sich besonders an folgender Passage:

„Es gibt keine Situation, die eine und nur eine Möglichkeit ihrer Behandlung zuläßt: Es gibt immer mehrere Antworten. Und schon eine Entscheidung verändert den Ausgangspunkt der nächsten Situation, sei es im individuellen oder gesellschaftlichen Leben. Hier sehe ich gerade eine der großen Möglichkeiten des Theaters, solche Entscheidungssituationen durchzuexperimentieren, indem man die einzelnen Momente dieser Entscheidungssituation dabei variiert.“ (Heise 1968: 222)

Phase II: Konzeptionen theatraler AufstellungenHatten wir anfangs für dieses Format mit dem Begriff der ‚Ausstellung‘ operiert, was sich auf einen Vorschlag Brechts zum Umgang mit öffentlichen Präsentation des Lehrstücks Die Maßnahme bezog, schien uns bald der Begriff der ‚Aufstellung‘ doch weitaus treffender. Hierzu aus dem Fatzer, S. 477: „Ihr aber seht jetzt / Das Ganze. Was alles vorging, wir / Haben es aufgestellt / In der Zeit nach genauer / Folge an den genauen Orten und / Mit den genauen Worten, die / Gefallen sind. / […] Und aufgebaut haben wir es, damit / Ihr entscheiden sollt / Durch / das Sprechen der Wörter und / Das Anhören der Chöre / Was eigentlich los war, denn / Wir waren uneinig.“ (Hervorhebung durch die Autor*innen.) als „instituierende Zeremonien“

Heise entdeckte dazu im Theater, verstanden eben als Laboratorium der sozialen Phantasie, ein Potential, welches in dieser Form keiner anderen Kunstgattung innewohnt: Die Möglichkeit zur Aktivierung der Zuschauenden (vgl. Heise 1968: 217). Obwohl sich Brecht selbst vermehrt gegen Aufführungen von Lehrstücken aussprach, da er diese als ‚Studium für die Spielenden‘ entworfen hatte und ein solches ‚Theater ohne Zuschauer‘ frei von jeglichem Produktionsdruck sehen wollte, sollten öffentliche Präsentationen, unter dem bestimmten Zweck der ‚Schulung der Zuschauenden‘, zugelassen werden: Brecht sagt, dass das Lehrstück zwar dadurch lehrt, „daß es gespielt wird, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden.“ (Brecht 1937/38: 351)

Diese ‚Verwertung des Zuschauers‘ hatten auch wir – und zwar nach innen wie nach außen – im Blick, als wir die 2. Phase des Theaters der Sorge als gemeinschaftliche Konzeption, Vorbereitung und Durchführung einer abschließenden öffentlichen theatralen Aufstellung, die auf den kollektiven Erfahrungen und Ergebnissen der Labore basiert, beschrieben.Bedingungen, die vorab beachtet werden müssen: Die Mitwirkenden beteiligen sich freiwillig und nur nach jeweiligen Bedürfnissen und Fähigkeiten an der Konzeption und Durchführung einer öffentlichen Aufstellung. Der hierfür nötige Probenprozess muss ebenso als freie, offene und möglichst hierarchiefreie Versammlung konzipiert sein – die Inhalte und vorläufigen Erkenntnisse also wieder offen und verhandelbar zur Diskussion gestellt werden dürfen. Diese Phase erfüllt mehrere Zwecke:

Vorläufige Konstituierung der präfigurativ gewonnenen Erkenntnisse

Der Hauptzweck der künstlerischen Präsentation vor einem Publikum ist die vorläufige Konstituierung und Instituierung der präfigurativ gewonnenen Erkenntnisse: Obwohl die Methode des Experimentierens gerade nicht (ausschließlich) darauf abzielt, verwertbare Ergebnisse zu generieren, sollten manche der konstituierenden Prozesse davor bewahrt werden, ins Leere zu laufen. Dafür ist es notwendig, sie und die darin gewonnenen Erkenntnisse immer wieder, wenn auch vorläufig, festzuschreiben.

Geht man von der Annahme aus, dass den Laboren auf subjektiver Ebene das Potential von Ereignisstätten innewohnt, könnte für die Aufstellungen der Begriff der Zeremonie, den Michael Hardt in seinem Versuch zur Entwicklung eines politischen Begriffs der Liebe von Jean Genet entlehnt, ein nützliches Instrumentarium der Anschauung liefern. Zumal Hardt diesen auch vorschlägt, um den Bruch auf Dauer lebbar zu machen:

Die Zeremonie ist für Genet ein Mechanismus zur Verlängerung oder Wiederholung von Begegnungen. Die Zeitlichkeit der Zeremonie ist der Schlüssel hierzu. Die Zeremonie greift in das Ereignis ein und bewirkt, indem sie durch die Begegnung hindurchgeht, eine zeitliche Transformation (vgl. Hardt 2013: 21). Hardts Überlegungen zum Zeremoniebegriff scheinen uns äußerst anknüpfbar an Brechts Theaterkonzeptionen, zumal beide von Wiederholungen ausgehen, welche jeweils und immer wieder aufs Neue überprüft werden müssen. Auch wenn Hardts Zeremoniebegriff deutliche Involviertheit vorauszusetzen scheint, während hingegen Brechts nicht-aristotelischer Theateransatz bekanntermaßen eine distanzierte Haltung einfordert, könnten beide Formen der Wiederholung durch die erneuten Überprüfungen zu Distanznahme führen und somit diskursive Entscheidungsfindungsprozesse stärker anregen.


Übungen in Selbstorganisation und solidarischem Umgang

Das Hinarbeiten auf die das Labor abschließende öffentliche Aufstellung, widerspricht auch nur scheinbar dem Primat des freien, nicht produkt- oder ergebnisorientierten Experimentierens. Regelhafte Rahmungen können kreative Prozesse begünstigen, oder, folgt man manchen Ansätzen aus der Spieltheorie: dadurch überhaupt erst freigesetzt werden.

Wir können mittlerweile anhand vielfältiger Erfahrungen aus zahlreichen Produktionsprozessen und Sammlungen in Feedbackrunden belegen, dass das Wissen um die selbst gesteckte Wegmarke / ‚Deadline‘ die gemeinsame Arbeit meist viel konzentrierter und fokussierter ablaufen lässt. Oftmals wirkt sich das gemeinsam zu erreichende Ziel auch positiv auf Gruppendynamiken aus, fördert Tendenzen der Selbstorganisierung und den solidarischen Umgang miteinander. Dazu lässt sich beobachten, dass in den inhaltlichen Auseinandersetzungen dezidierter und zielgerichteter nach schwer aufzulösenden Widersprüchen innerhalb des zu studierenden Materials und jeweiliger Darstellbarkeit in den szenischenMit ‚szenisch‘ ist hier ein facettenreiches Feld der Darstellung gemeint. Dies kann körperlich-sprachliche Ausdrucksformen genauso meinen, wie Überlagerungen auf der Bild-/Video- oder Audio-Ebene. Genauere Beschreibungen zum ‚szenischen‘ Umgang mit Materialien werden weiter unten mit Bezug auf den ZRM3000 gegeben. Spiel-Versuchen ebendieser gesucht wird, um dem Publikum pointiert und exemplarisch ein Kondensat der vorangegangenen Diskussionen zu vermitteln.

Wichtig dabei bleibt aber der – auch immer wieder zu artikulierende – Gruppenkonsens darüber, dass kein ‚Produktionsdruck‘ oder das Gefühl entstehen darf, dass bestimmte Erwartungshaltungen des Publikums erfüllt werden müssten. Die Aufstellungen dienen primär der Selbstverständigung der Gruppe. Das Publikum wird dafür nach innen ‚verwertet‘, es dient der Gruppe als externe, bisher nicht am Prozess beteiligte und somit unwissende Instanz, der die Ergebnisse der inhaltlichen Auseinandersetzung auf künstlerisch-sinnliche Weise vermittelt werden sollen.

Erkennen der eigenen Lage und Verwendung als Produzent*in

Ableitbar ebenfalls aus Rückmeldungen von Teilnehmer*innen verschiedener Labore, oft sogar von jenen, die bis dato über keine oder kaum Erfahrungen im Bereich der Kunstproduktion (für und/oder vor ein/einem Publikum) verfügten, lässt sich als weiterer positiver Effekt der Aufstellung einer kollektiven Arbeit herausstellen, dass diese den SpielendenUnter ‚Spielende‘ verstehen wir alle Beteiligten der kollektiven Produktionsprozesse. Dabei ist es egal, wer schlussendlich tatsächlich auf der Bühne steht. Je nach Bedürfnissen und Fähigkeiten werden alle ‚Rollen‘, also Tätigkeitsfelder, verteilt, die für das Gelingen der Aufstellung von Belang sind. So sind z. B. dramaturgische Aufgaben, der ‚Blick von außen‘ oder auch Technikbetreuung von ebenso großer Wichtigkeit wie performative Handlungen auf der Bühne. ihren Produzent*innenstatus vor Augen führen kann. Sie machten also die konkrete Erfahrung, als (Kunst-)Schaffende wahrgenommen zu werden und so Resonanzen erzeugen zu können. Eine solche subjektivierende Erfahrung kann persönlich-individuelle Machbarkeits- und Handlungsspielräume sichtbar machen, welche von den Teilnehmenden auch auf andere Tätigkeitsfelder übertragen werden können und somit helfen, die Imaginationsfähigkeit genereller politischer und sozialer Möglichkeitsräume zu erweitern.

Erzeugung gesellschaftlicher Resonanzen / Anregung politischer Imaginationsfähigkeit

Die zweite ‚Verwertung‘ des Zuschauers findet nach außen statt: Es können gesellschaftliche Resonanzen erzeugt werden, wenn – neben der Vermittlung der inhaltlichen ‚Forschungsergebnisse‘ – dem Publikum auch die spezifische Arbeitsweise der Laborphase anschaulich gemacht wird: Beim Betrachten einer Aufstellung, in der Menschen – mithilfe ästhetischer Abstraktion und ohne Auslassung von Widersprüchlichkeiten – alternative Denk-, Arbeits- und Lebensformen erschaffen und abbilden, wird ein Publikum entscheidungsfähig. Es wird am Ende entscheiden können, ob diese Ansätze womöglich auch in größerem, nämlich gesamtgesellschaftlichem Maßstab gedacht und erprobt werden könnten. Hierzu eine Äußerung von Frank-Patrick Steckel und Peter Stein zur Begründung der programmatischen Spielzeit-Eröffnung der Schaubühne am Halleschen Ufer mit Brechts Die Mutter:

„Mindestens kann mit der Aufführung des Stückes der verbreiteten Abneigung gegen eine revolutionäre Politik entgegengetreten werden, indem das Verhalten von Leuten gezeigt wird, die einmal eine solche Politik gemacht haben.“ (Steckel/Stein 1970: 231)

Dafür ist es aber von entscheidender Bedeutung, dass man die Labore auch in der Kommunikation nach außen als Orte der freien Versammlung, im Sinne Virnos, als „nichtstaatliche Öffentlichkeit“ (2005: 51) definiert und propagiert. Denn dann können sie als ein anderer öffentlicher Raum, als eine „reißende Mitte“ (Raunig 2010) inmitten des Flusses wahrgenommen werden und innerhalb der Gesellschaft und in diese hineinwirken.Um solche Resonanzen innerhalb der Gesellschaft erzeugen und zu politischer Imagination beitragen zu können, sollte von Seiten der Produzent*innen auch Wert auf die Entwicklung einer sinnlich und intellektuell anregenden Ästhetik gelegt werden. Brechts Äußerung im „Fatzerkommentar“ (Brecht 1926-30: 513-529), wonach sich an den ersten Künstler*innen der Zeit zu orientieren sei, bedeutet, den Anspruch zu artikulieren, auf eine avancierte Art und Weise mit Gestaltungsprozessen zu experimentieren. Gerade durch neuartige künstlerische Konzepte kann eine breite Rezeption hergestellt werden und es (immerhin innerhalb eines kleinen, stetig erweiterbaren Rahmens) ermöglicht werden, dem Kapital Begehren zu entwinden. Denn angesichts der alle Bereiche besetzenden Ästhetisierung des Lebens durch den Kapitalismus, muss eine wirklich politische Lernpraxis auch langfristig an neuen Formen des Ästhetischen arbeiten, um das Begehren auf andere Möglichkeitshorizonte umzuleiten.

IV. Potentiale radikaler Inklusion und Sichtbarmachung diverser Fähigkeiten und Bedürfnisse der Teilnehmenden durch den Einsatz cross-medialer Techniken

(DIE THEATERMASCHINE ZRM3000)


IV.1. PAST FORWARD – Eine politische Séancehttps://www.egfka.eu/pastforward

Die Theaterarbeit PAST FORWARD sucht nach Histopien, also utopischen Momenten der menschlichen Geschichte, in denen sich – wenn oft auch nur für kurze Zeit – konkret-emanzipatorische Möglichkeitsräume eröffnet hatten. Dafür werden die Toten als Zeug*innen dieser Geschichte(n) vergangener utopischer Versuche, Aufstände und Revolutionen ‚ausgegraben‘, um deren Erfahrungen und Wissen für Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen. Das Theater als prädestinierten Raum für einen solchen ‚Dialog mit den Toten‘Vgl. auch den Text von Max Haiven und Cassie Thornten in diesem Band. begreifend, wird ein Ort der freien politisch-spiritistischen Versammlung eröffnet. Die rituelle Rahmung bildet die gemeinsam mit dem Publikum abgehaltene Séance, wodurch die Toten davor bewahrt werden sollen, durch Vergessen ein zweites Mal zu sterben. Das Publikum wird zu Beginn eingeladen, an für sie jeweils wichtige Tote zu erinnern und Plätze auf der Zuschauertribüne für deren Geister zu reservieren, um diese später anrufen zu können (ein Erscheinen kann allerdings nicht garantiert werden). Zum Ende der Séance versammelt sich die Gruppe abermals vor der Tribüne, um Wünsche und Forderungen an die Gegenwart und Zukunft zu formulieren.

Um die Stimmen und Geschichten der Toten (als mannigfaltiges Material aus Texten, Bildern, Videos, Audios und Relikten) hör- und sichtbar machen zu können, entwickelten wir die theatral-installative mixed-media-Apparatur ZeitRaumMaterialisierer ZRM3000. Dieses IntrafaceAuseinander-und-gleichzeitig-zusammen-Schnittstelle, abgeleitet von Karen Barad: „Intra-Aktionen schneiden Dinge zusammen-auseinander (als eine Bewegung)” (Barad 2015). nimmt den ganzen Raum ein und verschränkt analoge und digitale technische Gerätschaften, Performer*innen und Publikum auf neuartige Weise miteinander. Verschiedenste Formen von Bild- und Videoprojektionen, Voice- und Soundüberlagerungen und körperlicher Präsenz, historisch-dokumentarische und spekulativ-fiktive Materialien und das diverse Wissen der angerufenen Geister aus allen Zeiten werden materialisiert und wirken „durcheinander hindurch“ (Barad 2015: 193).

Als konkrete Bühnensituation lässt sich das folgendermaßen beschreiben: Das Publikum betritt den Bühnenraum, der – durch auf unterschiedliche Höhen gesetzte und mit Teppichen bespannte Bühnenpodeste und zu Türmen gestapelte Stahlkuben - zu einer futuristisch anmutenden, zum Verweilen einladenden Sitzlandschaft gestaltet wurde. Um die Podestlandschaft herum bleibt ein zwei Meter breiter Gang zur Wand frei, damit die Zuschauenden während der Performance frei umherwandeln und immer wieder auch andere Plätze (und somit andere Perspektiven) einnehmen können. Zwei aneinanderstoßende Wände des Raums werden großflächig vom Boden bis unter die Decke mit Videos/einem Video bespielt, dazu gibt es drei weitere kleinere Screens als Projektionsflächen. Durch ein 4-Punkt-PA-System, bei dem in jeder Ecke ein Speaker steht, der auch jeweils einzeln ansteuerbar ist, wird der gesamte Sitzbereich gleichmäßig beschallt.

Die acht Performer*innen bedienen an den ‚Materialisierungsstationen‘ verschiedene technische Gerätschaften: Zwei Laptops mit Video-/Bildmaterial, eine DokumentenkameraDieses, gelegentlich auch Presenter genannte Gerät, verfügt über eine von oben auf eine (sowohl von unten als auch von oben) beleuchtbare Fläche ausgerichtete Kamera und verschiedene Video-Outputs zur Bildübertragung. Der Vorteil gegenüber dem früher üblichen Overheadprojektor ist, dass durch die Kamera nicht nur mit (beschriebenen oder anderweitig bedruckten) Folien gearbeitet werden kann, sondern auch normales Papier und sogar Gegenstände projiziert werden können. mit auf Papier und Folien gedruckten Bildern und eine Livekamera dienen als Zuspieler für zwei Videomixer, die die verschieden Spuren miteinander überblendend – und/oder mit anderen Effekten versehen – an die Wände und Screens projizieren.

Ein Laptop mit Midi-Controller erlaubt auf Knopfdruck vorab produzierte Voice-Audios an jeweils einen der vier Speaker auszugeben. Neben dem live gesteuerten Licht werden unterschiedliche Musikinstrumente, diverse Soundgeneratoren und Sound-Software zur Erzeugung atmosphärischer Stimmungen eingesetzt. Auf LED-Schriftbändern erscheint live geschriebener Text. An jeder Materialisierungsstation gibt es ein Mikro, sodass jede*r Performer*in auch jederzeit live sprechen kann.

Die große Besonderheit dieser Produktion liegt in ihrem, auf (weitestgehend) freier Improvisation angelegten, Präsentationsmodus: Alle Materialisierungsstationen haben mehr Material zur Verfügung, als sie während des Abends zeigen können. Wir betrachten es als ein performatives Jammen, ähnlich einer Free Jazz-Band hört und schaut jede*r aufmerksam auf die Materialien der anderen und versucht, die eigenen Materialien damit in Kommunikation treten zu lassen. Diese Form entwickelten wir erstens aufgrund der immensen Materialfülle und zweitens ließen sich so Entsprechungen zu den theoretischen Bezügen herstellen, die wir im Produktionsprozess untersucht hatten.


IV.2. Kollektive Konzeption, Entwicklung und Aufbau des ZRM3000

Wie bei allen Produktionen der EGfKA wurde auch für PAST FORWARD nach der Methode des Theaters der Sorge verfahren. Die Performance PAST FORWARD ist das von uns in diesem Ansatz als Vorstellung bezeichnete Endresultat, dem ein gemeinsamer Prozess der inhaltlichen Recherche und Diskussion (in Bezug auf die ‚histopischen‘ Ereignisse), eine das Labor abschließende Aufstellung vor und mit Publikum – die dafür genutzt wurde, um die Grenzen und (womöglich noch nicht ausgeschöpften) Möglichkeiten des ZRM3000 zu erkennen – und natürlich die Laborphase vorausging. Diese soll hier kurz skizziert werden:

Nach gruppeninterner Bestimmung des künstlerisch zu untersuchenden Themas (‚Histopien‘; ‚Dialog mit den Toten‘; spiritistische Praxen (Séance)) und einer kurzen Vorrecherche, wurde die Laborphase konkret mit vorläufigem Entwurf des zeitlichen Ablaufs durchgeplant. Gleichzeitig wurden passende externe Expert*innen gesucht und eingeladen, am Labor teilzunehmen, d.h., wie alle Teilnehmenden, durch Input-Referate vorbereitete Forschungsstände mit der Gruppe zu teilen, weiterführend zu diskutieren und sich und ihre Kenntnisse und Fertigkeiten in den ästhetischen Spielversuchen miteinzubringen.

Die Laborphase war von vornherein (aus produktionstechnischen Gründen) auf die Dauer von einer Woche festgelegt worden. Dadurch war klar, dass wir diese Zeit nicht für eine umfassende historische Recherche über die einzelnen ‚Histopien‘ nutzen werden können, sondern allenfalls eine schnelle Sammlung womöglich infrage kommender Ereignisse anlegen, die dann im Zuge einer späteren Phase genauer untersucht werden müssten. Vielmehr sollte die kurze Zeit im technisch sehr gut ausgestatteten Raum vor allem zum freien Experiment genutzt werden, um eine adäquate ästhetische Form zu entwickeln, die uns erlauben sollte, historische Dokumente und Quellen in ganz verschiedener medialer Form gleichberechtigt und sinnlich ansprechend miteinander ins Spiel zu bringen.

Dazu sollten theoretische Konzepte – wie Walter Benjamins geschichtsphilosophische Überlegungen (Benjamin 1940) oder Jacques Derridas Ansatz einer Hantologie (Derrida 2004), aber auch ästhetische Konzepte wie die Zeit und Raum aushebelnden Ansätze des russischen Kosmismus, Sun Ras Afro-Futurismus und die Happening-Bewegung der 1960er Jahre – untersucht und miteinander in ein produktives Spannungsfeld gebracht werden. Die theoretischen Ansätze der Quantenphysikerin und Queertheoretikerin Karen Barad (2015) stellten einen der wichtigsten Bezugspunkte dar. Im Nachhinein betrachtet, waren sie der Kulminationspunkt all unserer theoretischen Überlegungen überhaupt.

Jede*r Teilnehmer*in erklärte sich im Vorfeld bereit, die Vorbereitung eines Input-Referats über einen theoretischen Aspekt, eine konkrete ‚Histopie‘ und/oder künstlerische Ansätze zu übernehmen.

Wie oben bereits beschrieben, sind die Labortage im Allgemeinen so strukturiert, dass, nach kurzen morgendlichen Aufwärm- und Aufmerksamkeitsübungen, die Input-Referate vorgetragen und im Anschluss diskutiert werden. Nach der Mittagspause wird durch experimentelle Spielversuche daran gearbeitet, das theoretische Wissen in eine ästhetische Praxis zu überführen. Zum Abschluss des Labortages gibt es eine Feedbackrunde, eine Besprechung und bei Bedarf ggf. die Abänderung des Plans für den nächsten Tag und eines gemeinsamen Abendessens.

In diesem Labor sah das Programm konkret so aus, dass morgens bspw. ein Überblick über okkulte, spiritistische und schamanistische Praktiken gegeben wurde und wir am Nachmittag, unter Anleitung der eingeladenen Expert*innen Cassie Thornten und Max Haiven von der University of the Phoenix,Weitere Informationen unter: http://universityofthephoenix.... und im Text der beiden Autor*innen in diesem Band. eine Séance durchführten; oder uns der Licht- und Medienkünstler Jan Ehlen,Weitere Informationen unter: http://www.janehlen.de ebenfalls eingeladener Experte, nach den morgendlichen Diskussionen über Derridas Marx‘ Gespenster und Barads darauf aufbauenden Gedanken zu Intraaktion und Verschränkung, technische Gerätschaften vorstellte, mit deren Hilfe gemeinsam kontingente Verschränkungen von multimedialen Materialien erzeugt werden können. Da die Vorschläge Ehlens als äußerst produktiv angesehen wurden, richteten wir daraufhin tägliche Slots ein, in denen alle Teilnehmenden Zeit hatten, Materialien einiger ausgewählter ‚Histopien‘ zu konfektionieren, also z. B. Videos zu schneiden, Original-Audios zu bearbeiten, Zitate einzusprechen, Bilder auszudrucken usw. Daraufhin wurde frei und rotierend mit den Geräten und den Materialien experimentiert. Die sich dabei als logisch ergebende Form war das Improvisieren. So wurde mit Blick auf die öffentliche Aufstellung zum Ende der Woche vor allem am sicheren Umgang mit den Geräten und der passgenauen Konfektionierung der Materialien gearbeitet.

Im Anschluss an die öffentliche Aufstellung wurde der Raum zur Diskussion mit dem Publikum geöffnet. Die dort geäußerte Kritik wurde erstens in den weiteren Produktionsprozess miteinbezogen, zweitens wurde uns aber auch klar, dass wir in dieser Arbeitserfahrung, mit den spezifischen theoretischen Konzepten und unter Einbeziehung der benutzten technischen Gerätschaften, an einer theoretischen und praktischen Erweiterung des Theater der Sorge arbeiten mussten: Aus der Verschränkung ästhetischer, politischer und spiritistischer Praxen mit queerer Quantenmechanik ergaben sich ungeahnte Potentiale, das internalisierte Verständnis von Zeit, als linearer Abfolge von sich einander bedingenden Ereignissen, zu hinterfragen. Die Bereitschaft zu der Denkbewegung, dass es keine inhärent determinierte Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt, dass Phänomene nicht in Raum und Zeit lokalisiert; sondern vielmehr durch die Raumzeitmaterialisierung des Universums eingefaltete materielle Verschränkungen sind (vgl. Barad 2015: 103), führte uns zu einer radikal partizipatorischen, möglichst non-linearen Form, die nicht nur Bühnenwände einreißen, sondern Dimensionen verschieben will. Dem Hauptanspruch des Theaters der Sorge, nämlich un-zeitgemäße gedankliche Möglichkeitsräume zu eröffnen und soziale Imaginationsfähigkeit anzuregen, erfährt einen Schub durch die Denkmöglichkeit, dass die lineare Zeit aus den Angeln zu heben und dadurch das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen ist. Der ZRM3000 kann somit als eine Theater-Maschine verstanden werden, die Geschichte nicht nur als komplexes raumzeitliches Beziehungsgeflecht, sondern auch dessen Veränderbarkeit erfahrbar machen soll.


V. FAZIT

Für neue, auf gleichberechtigten Austausch orientierte, experimentelle (künstlerische) Forschungspraxen, bietet sich eine Weiterentwicklung von Brechts Lehr- oder Lernstückpraxis unter Berücksichtigung eines erweiterten Sorge-Begriffs (als Interesse, Anteilnahme und Solidarität) sehr gut an, weil dieser – bei Respekt für die jeweiligen Differenzen – nach dem Gemeinsamen sucht und dabei (künstlerische) Forschung, Intimität und Öffentlichkeit miteinander verbindet. Wir begreifen Lernstücke als konstituierende Prozesse in Reinform, welche Räume des gleichberechtigten Austausches und Kontakts schaffen, die zugleich soziale Situationen intensivieren und so politische Subjekte konstituieren können, die solidarisches Handeln eingeübt haben.

Bringt man also den Care-Begriff im ersten Schritt mit erweiterten Variationen Brecht’scher Lehrstückkonzeption und im zweiten mit avanciertem, experimentierfreudigem (Kunst-)Theater zusammen, wird es möglich, einen Raum zu eröffnen, in dem über die von Ludwig Wittgenstein sogenannte „gemeinsame menschliche Handlungsweise“ (2011: 863) nachgedacht werden kann. Daraufhin kann kollektiv darüber entschieden werden, ob gewisse bislang geltende Normen noch zeitgemäß sind – oder es je waren bzw. gewesen sein werden.

Wie auch in der aktivistischen Arbeit, welche oft von Aktionstagen und langen, zehrenden Phasen der kontinuierlichen Arbeit am Widerstand gekennzeichnet ist, besteht eine entscheidende Schwierigkeit dieser theatralen Lernpraxis darin, dass die subjektive Energie in der Lehrstückphase eruptiv freigesetzt wird und nach den unmittelbaren Auseinandersetzungen wieder verpuffen könnte. Um dem entgegenzuwirken, könnten theatrale Ausstellungen des kollektiven Arbeitsprozesses als Zeremonien wirken, die Spuren der Erfahrungen aus dem Lehrstück erneuern und verbreiten können.

Theater der Sorge ist vor allem auch eine Praxis der Aufmerksamkeit und Sensibilisierung, die Solidarität einübt und diese aktiv zeigt – sie nicht bloß bekundet – und Wert auf die Schaffung neuer und auf Dauer angelegter BeziehungsweisenZum Begriff der Beziehungsweisen vgl. (Adamczak 2017). mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteur*innen legt: Ein Theater der Sorge zieht nicht weiter, weil die Produktion ‚abgespielt‘ oder das Thema ‚abgearbeitet‘ ist. Es verwertet keine Schicksale und möchte auch niemanden heilen oder anpassen. Da, wo soziale Bewegungskräfte Sorge zentral stellen, werden sie von punktuellen, impulsartigen und vorübergehenden gesellschaftlichen Erscheinungen zu dauerhaften, sich selbst reproduzierenden Phänomenen. Das soll der Ansatzpunkt einer radikal-emanzipatorischen Lernpraxis im Sinne des Theaters der Sorge sein: Die Schaffung neuer gemeinsamer Räume solidarischer Organisierung und die offen-teilende Bereitstellung von Infrastruktur, Methoden und Erfahrungen.

Theater der Sorge mit dem Setting des ZRM3000 und dessen vielfältigen konkreten Handlungsoptionen zu verknüpfen, begünstigt ein Zusammenkommen in nicht-hierarchischer Viel- und Verschiedenheit, da jede*r gleichberechtigt ihre*seine spezifischen Fähigkeiten und Talente miteinbringen kann.



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