MIKROSZENARIEN ALLTÄGLICHEN HANDELNS
Einen Ball, der durch die Luft fliegt, fängt man nicht, indem man dorthin
läuft, wo er ist, sondern dorthin, wo er auf die Erde kommen wird. Das weiß
jeder Hund. Handeln, auch menschliches, ist niemals nur eine Tätigkeit im
Präsens. Sie ist in die Zukunft gerichtet, oder besser: Annahmen über die
Zukunft wirken auf die Handlung ein und bilden sogar einen wesentlichen
Teil von ihr. Nicolai Bernstein beschreibt dies als »motor problem«Nikolai Bernstein: »Trends and problems in the study of investigation of physiology of activity«, in: H. T. A. Whiting (Hg.), Human Motor Actions: Bernstein Reassessed, Amsterdam: Elsevier 1984, 441–466, hier 457.. Wie
muss eine Handlung verlaufen, damit sie in der gegebenen, aber auch in der
zukünftig entstehenden Situation andere Handlungen affiziert und durch
diese affiziert werden kann? Erfahrung ist dabei ein wesentlicher Teil zur
Artikulation des »motor problem«. Um nicht in der Gegenwart ›stecken zu
bleiben‹ wird die gegenwärtige Handlung in die Zukunft modelliert bzw.
extrapoliert.Zum Konzept der Modellierung bzw. der Extrapolation siehe ebd. Bei einem ausschließlich von der Gegenwart ausgehenden
Problem würde die Handlung ›ins Leere laufen‹.
Erfahrung, so zeigt Bernstein, ist im Motorproblem
auf wesentliche Weise mit der Handlung verbunden. Durch ihr Zusammen-
spiel wird die Handlung überhaupt erst möglich. Ohne Modellierung würden
Handlungen wie ziellose Bewegungen herumirren. Begriffe von Verbindung
und Zusammenspiel können jedoch fehlleiten, wenn sie so verstanden
werden, dass Erfahrung und Aktion zwei unterschiedliche Prozesse sind.
Erfahrungen sind vielmehr – das haben Pragmatisten wie William James
und Alfred North Whitehead gezeigt – selbst Handlungen. Handeln ist nicht
das Gegenstück einer Erfahrung, sondern die Erfahrung ist als ein Pol der
Handlung zu verstehen, die sich zwischen der Erfahrung auf der einen Seite
und dem, was man Aktion oder Expression auf der anderen Seite nennen
könnte, aufspannt.
Während Erfahrung und Aktion zwei Pole des
Motorproblems bilden, die es ermöglichen Zukünftiges in die Handlung
hineinzufalten, so kommt aus der Vergangenheit noch ein dritter Faktor als
handlungsgenerierend hinzu: die Gewohnheit. Vergangene Erfahrungen haben sich zur Gewohnheit zusammengezogenDas Konzept des Zusammenziehens durch Gewohnheit ist hier Gilles Deleuzes Hume-Lektüren entnommen: Gilles Deleuze, David Hume, Frankfurt a.M.: Campus 1997. und machen damit die
Gewohnheit zu jener Kraft, die den Erfahrungsbogen in die Zukunft und
zugleich in die Vergangenheit treibt. Wir sehen: Der Handlungsbogen ver-
läuft keineswegs linear, vielmehr falten sich die Zeiten in die Handlung bzw.
die Handlung in die Zeiten, die sich zunächst jeglichen Formen der Linearität
und Kausalität entziehen und so Zeitschichten simultan wirken lassen.
Bis hierher – so könnte man sagen – klingt alles
so, als ob eine Handlung lediglich von einer Person ausgeführt würde. Wenn
auch nicht zeitlich linear, so doch individuell und intentional. Doch diese
individuelle Perspektive missachtet eine zentrale Dimension der Gewohn-
heit als treibende Kraft der Handlung: die Relationalität. Die Relationalität
von Handlung zu anderen Handlungen (meistens haben wir es mit mindes-
tens zwei Handlungen zu tun) ist gerade jener Modus, in dem Handlungen
auf Handlungen wirken und umkehrt von Handlungen affiziert werden.
Eines der radikalsten Konzepte einer Rationalität
der Handlung ausgehend von der Gewohnheit hat Pierre Bourdieu formu-
liert. Habitus ist der Begriff, mit dem er beschreibt, dass Gewohnheit nicht
einfach der Selbstbezug eines handelnden Individuums auf sich selbst und
seine früheren Handlungen ist, sondern dass diese Handlungen immer in
einem Milieu stattfinden und somit in Bezug zu anderen Handlungen stehen.
Eingeprägte und zur Gewohnheit geronnene Erfahrungen bilden Habitus-
schemata, die es ermöglichen, sich partiell wechselnden Zusammenhängen ununterbrochen
anzupassen und in praktischem, quasi körperlichem
Antizipieren der dem Feld immanenten Tendenzen und der
von allen isomorphen Habitus (mit denen sie wie in einer
wohltrainierten Mannschaft oder einem Orchester unmittelbar
kommunizieren, weil sie spontan mit ihnen harmonisieren)
erzeugten Verhaltensweisen die Situationen als sinnvolle
Gesamtheit zu konstruieren.Pierre Bourdieu, Meditationen: zur Kritik der scholastischenVernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, 178.
Das Konzept des Habitus macht deutlich, dass in
der Gewohnheit Aktion und Erfahrung keineswegs zu trennen sind, sondern
die beiden Pole der Handlung bilden.
Habitus und Gewohnheit sind – das führt
Bourdieu aus – treibende Kräfte der Handlung. Sie wirken auf die Handlung
ein und über sie hinaus, so dass die Handlung als ein in die Zukunft reichen-
der Bogen synthetisiert wird. Es wäre jedoch falsch, Habitus und Gewohn-
heit lediglich in der Vergangenheit zu situieren. Als soziale und relationale
Kraft wirkt der Habitus nicht einfach in die Zukunft, er ist durchtränkt mit
Zukunft. Dass der Habitus zukunftsbasiert, statt nur zukunftsorientiert ist,
zeigt dabei seine Rationalität und sein Verhältnis zum Milieu. Habitus ist ein
Prozess von sich anpassenden Gewohnheiten. Es gibt eine stetige Anpas-
sung der Handlungen an die Weisen, wie sie aufgenommen und affiziert
werden. Pragmatistisch gewendet, könnte man sagen: Die Handlungen wer-
den von ihren Effekten her moduliert. Doch diese Anpassungen sind nicht
einfach Anpassungen an ein gegebenes Milieu und ein Umfeld, wie es ist.
Vielmehr findet die Anpassung der Handlungen im Modus des Als-ob statt
(Modellierung / Extrapolation). Denn da die Handlung selbst Teil des Milieus
ist, verändert sie dieses auch durch ihren Vollzug. Um eine Synchronizität
zwischen Handlung und Milieu zu erzielen, vollzieht sich die Handlung auf
eine Weise, als ob die Veränderung schon stattgefunden hätte.Auf ähnliche Weise beschreibt Gilbert Simondon das Verhältnis von Organismus und Milieu als eine Relation des Als-ob: »Everything takes place as if the corporeal schema of the human species had been modified, as if it had dilated, had received new dimensions; the order of magnitude changes; the perceptual grid is broadened and differentiated; new schemas of intelligibility are developed, as when a child leaves his village and takes stock of his country’s extent. It is not a matter of conquest: that notion is the fruit of a closed culture. It is a matter of incor- poration, which, on the collective level, is functionally equivalent to the appearance of a new vital form.« Gilbert Simondon, »Culture and Technics« [1965], in: Radical Philosophy 189 (2015), 17–23, hier 21. Die Hand-
lung spekuliert mit ihrer eigenen Zukunft. Und so kann die Handlung erst,
indem sie ihre eigene Zukünftigkeit mit einbezieht, sich dem Milieu anpas-
sen. Habitus, verstanden als ein durch Gewohnheit bestimmtes Verhältnis
zum Milieu und damit als relationale Praxis, ist nicht nur die Bedingung für
ein in die Zukunft gerichtetes Handeln, er ist selbst durchtränkt mit Zukunft,
mit einer Anpassung, die niemals auf die Gegenwart zu beschränken ist.
Wenn Bourdieu seine sozialen Analysen alltäg-
licher Machtstrukturen auf eine Trägheit des Habitus baut, also jene körperliche hexis,
die Machtverhältnisse selbst dann festigt und fortschreibt,
wenn auf diskursiver Ebene anderes behauptet wird (aktuell am deutlichs-
ten in den Debatten zur Geschlechtergerechtigkeit und zur Klimakatastro-
phe zu sehen, bei denen es eine große Diskrepanz zwischen Aussagen und
Handlungen gibt), dann ist diese Trägheit nicht einfach die Unfähigkeit der
Anpassung eines Individuums durch seinen Habitus. Trägheit ist nicht der
Grund für eine Diskrepanz zwischen Individuum und Milieu, es ist vielmehr
die Trägheit der Relationen selbst, die eine Veränderung des Handelns ver-
hindert. In der Trägheit verliert der Habitus seine Zukünftigkeit, obwohl das
durch ihn in Gewohnheit manifestierte Handeln durchaus noch zukunftsge-
richtet ist. So ist bspw. das intentionale Handeln des homo oeconomicus ein
Handeln, das auf zukünftigen Gewinn gerichtet ist, jedoch jede Anpassung
der eigenen Handlungslogiken zugunsten von ›rationaler Risikoabwägung‹,
Kausalität und individueller Kontrolle negiert. Man kann hier durchaus von
einem situationalen oder situiertem Handeln sprechen, in dem die Situation
gekannt und aufgenommen wird. Handlungen basieren auf Gewohnheiten,
die durch genau diese Situation erlernt wurden, die aber die Situation selbst
nicht überschreiten und diese auch nicht verändern. Es ist ein individuelles
Handeln in der Situation, anstatt ein relationales Handeln (mit) der Situation.
Ein zukunftsbasiertes Handeln hingegen ist ein
Handeln, das von seiner spekulativen Anpassung zum Milieu ausgeht und
diese zur Grundlage seiner Ausrichtung nimmt. Das Milieu wird dabei als
wichtiges Element des Habitus aufgenommen und in die Handlungen ein-
bezogen. Die Bezeichnung ›zukunftsbasiert‹ kann dabei irreführend sein,
da Zukunft nicht etwa dem Handeln vorausgeht, sondern erst durch dieses
hervorgebracht wird. Das Hervorbringen neuer Situationen ist immanenter
Bestandteil eines relationalen Verständnisses habitualisierten Handelns.
Es ist – so könnte man sagen – trans-situational, es überführt Handlungen
von einer Situation in eine zukünftige, wobei dabei auch hier zu beachten ist,
dass diese Situation nicht dem Handeln vorgängig ist, sondern erst durch
dieses geschaffen wird. In der Handlung wird die Situation zu einer neuen
Situation. In der Verbindung von Zukunft und Situation wird das Handeln ein
Handeln des Szenarios. Das Szenario liegt dabei in der Relation des Han-
delns und nicht in der Imagination einzelner Daten. Oder, um an das Voka-
bular von Bernstein anzuknüpfen: Handlung ist Modellierung und folgt nicht
einfach einem Modell. Ein Szenario ist immer eine Verbindung von Hand-
lungen zu ihrem Milieu und damit zu anderen Handlungen. Das Handeln des
Szenarios ist kein individualisierter Prozess, sondern kann sich nur als eine
zeitliche Dimension der Zukunft in der Rationalität des Handelns entfalten.
Auch wenn im zukunftsbasierten Handeln die
Möglichkeit liegt, Machtverhältnissen, die auf der Trägheit des Habitus und
den damit einhergehenden Politiken individuell-rationalen Handelns beru-
hen, zu entkommen, so ist es keineswegs emanzipatorisch per se. Durch
seine Anpassungsfähigkeit an zukünftige Milieus wirkt die Macht des Habi-
tus mit voller Kraft. Als relationale und situationsverändernde Kraft produ-
ziert der Habitus gerade jene Milieus, in denen er am meisten ›zu Hause‹ ist
oder in denen das Handeln die stärksten Effekte hat. Es ist ein operatives
oder »präemptives« Handeln, um hier ein Konzept Brian Massumis auf-
zunehmen, das sich nicht mehr nach dem ihm zugeneigten Milieu richten
muss, sondern diese durch sein Handeln selbst erschafft.Vgl. Brian Massumi, Ontopower: War, Powers, and the State of Perception, Durham: Duke University Press, 2015, 5. Es ist der Habi-
tus eines Donald Trump, dessen Handeln nicht auf die Bedürfnisse eines
bestimmten Milieus und einer bestimmten Wähler*innenschaft gerichtet ist,
sondern mit jeder Handlung zugleich deren Zustimmung generiert. Es ist die
von Rechtspopulist*innen immer wieder beschworene ›Politik der Tat‹, in
der die Handlung als Handlung zählt und damit ihre eigene Wertschätzung
schafft. Jene spekulative Dimension, der immer auch die Möglichkeit zum
Scheitern innewohnt, ist der Trägheit der Relationen gewichen, die Hand-
lung und Milieu scheinbar in eins fallen lassen. Zukunftsgerichtetheit ist hier
selbst zur Zukunftsbasiertheit geworden. Selbstaffizierung ist der Modus
ihrer Politik.
Bourdieu hat seine Studien zum Habitus vor allem
im alltäglichen Handeln angesiedelt. Während der Alltag oftmals als etwas
gilt, in dem durch die starke Dominanz der Gewohnheit und des habitua-
lisierten Handelns das Neue und Zukünftige keinen Platz hat, so war es
ebenso Bourdieu, der durch seine relationale Konzeption des Habitus sowie
durch sein Nachdenken über die Prekarität die Zukünftigkeit erneut in den
Alltag eingetragen hat. Im Alltag, so zeigen Bourdieus Studien – wie auch
eine ganze Reihe feministischer Texte – wird das Handeln zum umkämpften
Feld männlicher Herrschaft.
Während die Biographie allzu oft – in Form von CVs
bei Jobinterviews oder literarisch als Autobiographie publiziert – das aktu-
elle Handeln als Produkt individueller Gewohnheiten erklärt und herleitet,
haben feministische Autor*innen seit langem auf die Rationalität und die
Zukünftigkeit gerade dieser Gewohnheiten und des durch diese Gewohn-
heiten hergestellten Alltags hingewiesen. Wenn Chris Kraus in I Love Dick
über ihr Leben in Form (spekulativen) Begehrens, des Briefeschreibens und
der Beziehungsgefüge, durch die sie sich bewegt, beschreibt, wenn Paul B.
Preciado in Testo Junkie über die Einnahme von Testosteron schreibt, die
sein Verhältnis zu Welt verändert, oder wenn Cassie Thornton in The Holo-
gram eine selbstorganisierte, auf peer-to-peer-Beziehungen basierende
feministische Gesundheitsfürsorge vorschlägt, dann wird hier der Alltag
vor allem als Beziehungsgefüge beschrieben.Vgl. hierzu: Chris Kraus, I love Dick, Los Angeles: Semiotext(e) 2006; Paul B. Preciado, Testo Junkie, Berlin: b_books 2016; und Cassie Thornton, The Hologram: Feminist, Peer-to-Peer Health for a Post-Pandemic Future, London: Pluto Press 2020. Während das autarke und
intentional handelnde Ich hinter sich gelassen bzw. in eine Ich-Fiktion, wie
Isabel Mehl schreibt, überführt wird, wird die Biographie zur Beziehungs-
arbeit.Isabel Mehl schreibt: »Das Ich, das hier entworfen wird, hat an das autarke Ich nie geglaubt. Es begreift sich immer schon in Beziehung zu anderen, ist ein per se soziales Ich und in diesem Sinne trotz der Auseinandersetzung mit weiblicher Erfahrung nicht exkludierend. [...] Dieses kollektive Potenzial ist es, was an der Ich-Fiktion politisch relevant ist.« Isabel Mehl, »Die Ich-Funktion«, in: Texte zur Kunst, https://www.textezurkunst.de/articles/die-ich-funktion/?highlight=isabel%20mehl (11.9.2019). Siehe auch meinen Text; »Das Leben schreiben. Chris Kraus Ich-Operationalisierung«, in: Probehandeln.blog, https://probehandeln.blog/ein-leben-schreiben/ (19.5.2020). Durch Formen der Autofiktion (Kraus), des spekulativen Selbstversuchs (Preciado) und der radical imagination (Thornton) werden der Alltag
und die Biographie zur Arbeit mit und an Beziehungen – Beziehungen des
Milieus, der Vergangenheit und der Zukunft. Dort, wo die Autor*innen das
Handeln als Modulation der Beziehung zu anderen Handlungen (aktuellen
und zukünftigen) fassen, wird Alltag szenarisch. Alltag ist dann nicht mehr
die bestimmende Struktur rein vergangenheitsbasierter Gewohnheiten,
sondern ein Handeln mit dem Als-ob.
Szenarisches Handeln, wie es hier und in den
erwähnten Texten ge- und beschrieben wurde, zeigt die Prekarität, die in
der Hinwendung zu den Beziehungen des Milieus liegt. Ihre Unsicherheit
artikuliert sich in folgenden Fragen: Welche Handlungen werden aufge-
nommen? Welche Effekte generieren sie? Und welche Handlungen wer -
den gerade nicht wahrgenommen und laufen ins Leere?
Die Dominanz eines z. B. männlichen Handlungs-
subjekts führt zu einer Reduzierung der Gewohnheit auf die Vergangenheit
und wertet damit habituelle Formen spekulativer und prekärer Handlungsweisen ab. Dieses Handlungssubjekt begreift sich zwar nicht mehr unbedingt als autonomes, jedoch versteht es sich als eines, dessen imaginierte Kohärenz durch ›eigene‹ Gewohnheiten hergestellt wird. Das Milieu ist dann lediglich als Grund und Selbstbestätigung seines Handelns dienlich.
Das Szenario und die eigene Abhängigkeit vom Milieu wird nur im Sinne einer auf sich selbst gefalteten Bestätigung geduldet: Modell statt Modellierung, individuelles statt szenarisches Handeln. Und so sind die Texte von Kraus, Preciado und Thornton als Aufforderung zu verstehen, Techniken zu entwerfen, die die Gewohnheit der Vergangenheit entreißen, das Handeln szenarisch machen und die Zukunft nicht auf etwas reduzieren, nach dem wir uns richten, sondern diese selbst Teil des Habitus werden lassen.
VON BOHRINSELN UND KORALLENRIFFEN. EINE ALEATORISCH MOTIVIERTE ROLLENPROSA.
[Das Würfelergebnis («Iactum«), das bei der Ausführung dieses Tex-
tes zur Anwendung kam, bezieht sich auf den »Übergabewürfel« am
Ende des ersten Teils des Beitrags »Exnovation: 42 Würfelwürfe« .Würfel-Regeln (vgl. auch den Beitrag »Exnovation. 42 Würfelwürfe«, S. 122): Für jede der 6 Kategorien (A-F) wird je einmal gewürfelt. Das sog. »Iactum«, d. h. das Würfelergebnis, muss in der Ausführung verarbeitet werden. Pro Iactum ist eine Streichung erlaubt.]
I A C T U M Ü B E R G A B E W Ü R F E L
A4 = Einstieg: Überschwemmungen; B5 = Stil: anarcho-poetisch;
C2 = Gattung: Paper (akademisch); D4 = Utopischer Entwurf:
Bohrinsel; E6 = Nebenmotiv: Tiefwasserkorallen; F2 = Politischer
Unterton: links
A U S F Ü H R U N G
Achtung: Dieser Text enthält Schimpfwörter und gewaltsame Sprache,
die Ihr sittliches Empfinden verletzen könnten.Anmerkung der Organisator*innen der Tagung: Denjenigen, die dieser Sektion unserer Tagung selbst beigewohnt haben, wird in unschöner Erinnerung geblieben sein, was bei so vielen respektablen Kolleg*innen Konsterniertheit und auch – gänzlich gerechtfertigte! – Indignation ausgelöst hat. Wie nahe hätte es also gelegen, den Mantel gnädigen Schweigens über diesen Vorfall auszubreiten.
Nachdem wir uns dafür entschieden hatten, der altehrwürdigen Tradition zu folgen, das Geschehen unseres Kongresses vollständig abzubilden, also auch die Transkription aller Diskussionen beizufügen, haben wir uns gleichwohl – nicht ohne lange und kontroverse Diskussionen über unsere Vorgehensweise! – dazu verpflichtet gesehen, uns auch in diesem Extremfall an die uns auferlegten Spielregeln zu halten und die unerhörten Äußerungen von XXY hier in ihrer Gänze wiederzugeben. Des Weiteren haben wir es als unsere editorische Aufgabe betrachtet, soweit uns dies möglich war, jene Quellen zu rekonstruieren, auf die sich XXY in dieser fehlgeleiteten Tirade bezieht. Die folgenden Fußnoten stammen also ausnahmslos von uns. Das traurige Schicksal dieser Person ist vielen unter uns geläufig: Sie befindet sich seitlangem in wohl dauerhafter Behandlung im Sanatorium des Doktor E., einem exzellenten Kenner der Psychopathia academica, über dessen erstaunlichen Behandlungsmethoden wir vor allem durch die Berichte von Guido Schlechtweg und Michail Bugor Kenntnis erlangt haben.
Und ja, das hier ist ein akademischer Vortrag
auf einer großen, wichtigen Konferenz und ab und zu nickt mir einer
von den älteren Herrschaften hier ermutigend zu, wenn er oder sie
gerade einmal von seinem oder ihrem Handy aufblickt, auf dem er
oder sie seine oder ihre Flugdaten für die wöchentliche Heimreise
übers Wochenende gecheckt hat, aber Scheiße, verdammte Scheiße,
wir reden hier darüber, dass Gewohnheiten produktiv und flexibel
sind, sitzen dann aber hier weiter auf unseren Ordinarienärschen
und solchen, die es noch werden wollen, und was ändern wir eigent-
lich an unseren (professionellen) Gewohnheiten? Unser Betrieb läuft
immer noch, wenn ihn nicht gerade mal ein Virus lahmlegt, weiter
wie eine Bohrinsel aus den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts,
die man mitten in ein norwegisches Korallenriff gesetzt hat – den-
jenigen, die sich mit Kaltwasserkorallen nicht so auskennen, emp-
fehle ich die einschlägigen Publikationen von Dullo, Form, Freiwald,
Beuck und VossenWolf-Christian Dullo: »Die Kaltwasserkorallen am europäischen Kontinentalrand: Das größte Barriere Riff der Welt«,
Eröffnungsvortrag zur Wanderausstellung Kaltwasser-Korallen (Magdeburg, 13.09.2007); André Freiwald und Lydia Beuck: »Sind die
Kaltwasserkorallen durch den Klimawandel gefährdet?«, in: José L. Lozán u.a. (Hg.), Warnsignal Klima: Die Meere - Änderungen & Risiken, Hamburg: Verlag Wissenschaftliche Auswertungen 2011, 220–224; Armin Form: Einfluss des anthropogenen Klimawandels auf die Ökophysiologie der Kaltwasserkoralle Lophelia pertusa, Doktorarbeit Christian-Albrecht-Universität zu Kiel, MACAU 2011; Kathrin Vossen: Wachstum und Respiration der Kaltwasserkorallen Tethocyathus endesa und Caryophyllia huinayensis im chilenischen Comau-Fjord, Doktorarbeit Alfred Wegener Institute for Polar- and Marine Research (AWI), ePIC (electronic Publication Information Center) 2016. – und wir kommen uns so tough vor wie echte
Ölarbeiter in ihrem harten Mikrokosmos; aber die echte Heraus-
forderung ist nicht, all das immer weiterzutreiben, sondern sich
der Frage zu stellen, wie man mit einer stillgelegten Bohrinsel noch
etwas Produktives, Zukunftsweisendes anfangen kann.
Aber stattdessen bohren wir immer weiter
als gäbe es kein Morgen, nein, weil wir uns in das Morgen von 1960
zurückträumen – worldview, vintage modern. Bon, je déraille, weg mit dem Manuskript, aber was heißt das? Dass ich Unsinn rede? Nicht
funktioniere, weil ich dem Skript nicht folge, aus dem Habitus gefah-
ren bin? Eine Entgleisung, wie man so schön sagt, aber wie viele
hier konnten es gar nicht abwarten, bis mit den Impfstoffen wieder
alles aufs alte Gleis gesetzt worden ist und die Maschine, der ganze
Betrieb, so weiterlaufen kann wie bisher.
Wenn ich pessimistisch bin – und das bin ich
immer öfter –, dann geht mir eine Passage aus Alexander Kluges
Schlachtbeschreibung nicht aus dem Kopf. Man kann den Roman
ja schnell als so eine Art Ausweitung des Anfangs von Stendhals
Chartreuse de Parme verbuchen – mitten drin in der Schlacht,
aber was bekommt man mit, was sieht man: nichts! Und Stalin -
grad erst, eben – gleiches Strickmuster könnte man meinen, ist
ja auch noch viel unübersichtlicher. Freut die Historiker*innen,
Zeitzeugen*innen raffen nichts, an die Arbeit, lasst uns mal Wissen-
schaft machen. Freut die Konstruktivist*innen, Wirklichkeit gibt
es nicht, alles nur Kopfkonstrukte. Aber es geht doch um etwas
anderes. In dieser Passage beschreibt Kluge nämlich, was mit
den Offizieren passiert ist, die man aus Stalingrad ausgeflogen
und zurück nach Berlin gebracht hat: Obwohl sie die Schrecken,
das Desaster am eigenen Leibe erfahren hatten, war ihnen die
ganze Situation, in der sie sich doch selbst befunden hatten, binnen
kürzester Zeit absolut unvorstellbar geworden.Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964., 120f. Kluge findet für dieses Phänomen den Begriff des Atmosphärenwechsels. Er beschreibt es für den General Hube und den Major Toepke, die beide mit der Mission aus dem Kessel ausgeflogen wurden, der Heeresleitung und Hitler die verzweifelte Lage in Stalingrad zu vermitteln. Dieser Atmosphärenwechsel bringt mehrere Anpassungsprozesse mit sich. Einerseits die tatsächliche Affektion der Akteure des Schlachtgeschehens selbst, am prägnantesten in dieser Formulierung [und diese scheint XXY im Gedächtnis geblieben zu sein]: »So flog Toepke aus dem Kessel. Draußen war sofort Atmosphärenwechsel: der Kessel war hier nicht wirklich vorstellbar« (121), aber auch [...siehe PDF]
Ich glaube, daran wird plastisch, was Habitus
als Gefüge von Gewohnheiten bedeutet: Es geht nicht nur darum,
was man macht, wie man sich verhält, wie man sich gibt, sondern der
Habitus ist eine Weltsicht – dieser Spruch, dass man leichter seine
Weltsicht ändert als die Weise, wie man seinen Löffel zum Mund
führt, ist halt ein Unsinn. Das verwechselt Weltsicht mit Ansich-
ten. Ich tue es wirklich überhaupt nicht gerne, aber da muss ich lei-
der Heidegger mal punktuell zustimmen: Die Seinsweise des Man
regelt alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht
oder so ähnlich.Tatsächlich heißt es bei Heidegger: »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das,
was wir als »die Öffentlichkeit« kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht«. Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen: Max Niemeyer 2011, 127. Sobald diese Offiziere zurück in ihrem habituellen Milieu waren, hat dieses so viel Macht über sie gewonnen, dass es
ihre gemachten Erfahrungen überstimmt und ausgeblendet hat. Die
waren einfach zu abweichend, um wahr bleiben zu können.
Und deswegen ist die Gewohnheit eine Exis-
tenzweise, wie Latour meintBruno Latour, Enquête sur les modes d’existence. Une anthropologie des modernes, Paris: La Découverte 2012, 261–283. – der vielleicht gar nicht weiß, wie
recht er hat, weil es auch bei ihm eher ums Machen geht: Weil sie
das Fundament einer Ontologie legt. Gabriel Tarde hat das schon
gesehen, wenn er über Gewohnheit ( coutume) und Mode spricht –
und mit Mode meint er nichts anderes als eine Gewohnheit, die sich
synchron, unter Zeitgenossen herausbildet, man kann also beides als
Gewohnheit-habitude zusammenfassen. Denn am Ende führt er ja
alles auf Begehren und Glauben ( croyance) zurück:Gabriel Tarde, Les lois de l’imitation, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond 2001 (= Œuvres de Gabriel Tarde, hg. von Eric Alliez, deuxième série, Bd.1), zu Sitte und Mode vgl. 301ff., zu Begehren und Glauben passim. Was wir glau-
ben, bestimmt, was wir wahrnehmen, und was wir glauben, beruht
auf der Sedimentierung von Gewohnheit-coutume und Gewohnheit-
Mode – so bauen wir unsere Korallen, in denen wir wohnen und aus
denen wir hinausschauen – oder eben auch nicht mehr. Gewohnheit
ist dann ein starker Filter.
Und natürlich sind Gewohnheiten inkor-
poriert, aber es ist auch zu kurz gegriffen, nur auf den Körper zu
schauen und selbst auf Nachahmung, auf das Zwischenmenschliche.
Die Gewohnheiten sind natürlich überall um uns herum eingeschrie-
ben, ausgelagert, delegiert, nicht nur in Institutionen, sondern in alle
Objektensembles und Habitate, die uns umgeben.
Deswegen, ja klar, man sollte total sein Leben
ändern und ständig an seinen Gewohnheiten arbeiten, damit sie
keine Roboterroutinen werden, aber summiert oder meinetwegen
multipliziert sich all das Mikro genug, damit es den Makroeffekt hat,
den es braucht? Und wie produziert das eigentlich Effekte in einer
Gesellschaft, die längst flexibel-normalistisch auf Kontrolle und
Performanz macht, life long learning, in der uns doch sowieso ununter-
brochen gepredigt wird, dass wir uns ständig neu anpassen und neu
erfinden sollen?
Andere haben hier ja schon viel Kluges dazu
gesagt, Allianzen bilden mit minoritären Gruppen, gerade auch mit
Nicht-Modernen, und von deren Techniken und Praktiken lernen,
absolut! Tarde rigoros: keine Veränderung aus der eigenen Gesell-
schaft heraus, das geht nur, wenn man offen für Eindrücke aus ande-
ren Gesellschaften und aus der Natur bleibt.»Si l’être social n’était pas en même temps un être naturel, sensible et ouvert aux impressions de la nature extérieure et aussi des sociétés étrangères à la sienne, il ne serait point susceptible de changement. [... siehe PDF] Klar: Natur, schwie -
riger Begriff, aber gemeint ist, dass man über das Inzuchtmilieu des
rein Menschlichen hinausgelangt – und Simondon sieht das übri-
gens genauso.Gilbert Simondon, »Ergänzende Bemerkung zu den Konsequenzen des Individuationsbegriffs«, in: Ilka Becker u.a. (Hg.): Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht?, Paderborn: Fink 2008, 45–74, hier 54, 64ff. Aber reicht unser Vorstellungsvermögen wirklich
aus, um uns in ein Außerhalb jener Normalität zu versetzen, in der
wir im globalen Norden existieren und wie konsequent kann man
darin tatsächlich sein? Ist nicht der Normalismus, die Normalität,
die Falle, in der wir sitzen, ist das nicht unser fundamentalster, am
tiefsten sitzender Habitus? Und wieder: Dabei geht es nicht nur,
wie bei Jürgen Link, darum, welches Verhalten normal oder nicht
mehr normal ist.Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. Luc Boltanski ist da vielleicht interessanter, weil
er gezeigt hat, wie im 19. Jahrhundert mit den Nationalstaaten die
Versicherung einer stabilen Realität entsteht, also die Garantie für
eine Weise, die Welt wahrzunehmenLuc Boltanski, Énigmes et complots. Une enquête à propos d’enquêtes, Paris: Gallimard 2012, 19–70, vor allem 38ff.
– an den beiden Weltkrie -
genFür den Ersten Weltkrieg vgl. Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London u.a.: Penguin 2013. oder am Aufkommen des Nationalsozialismus sieht man ja,
wie diese Normalität gegen die Wahrnehmung gegen die Antizi-
pation ihrer eigenen Unterbrechung immunisiert, und bei Trump,
diesem grenzdebilen faschistischen Zombiejoker, für den schon ein
Plätzchen in einem der untersten Höllenkreise reserviert ist – seine contrappassi kann sich ja jeder selbst ausmalen – konnte sich 2016
ja auch keiner vorstellen, dass er gewählt wird. Vielleicht heißt ja
modern sein überhaupt nichts anderes, als das: innerhalb dieser
Normalitätsversicherung zu existieren, die so stark ist, dass sie
als Glaube und Ideal auch bei denen weiterexistiert, die faktisch
längst zumindest teilweise davon exkludiert sind – oder nur noch
die Obsession haben, unbedingt dabeizubleiben – und dies nicht als
Chance für Anderes, sondern nur als bedrohliche Stresssituation
erleben. Es heißt ja immer so schön, Not mache erfinderisch, aber
ich bezweifle, dass in Stresssituationen noch besonders viel Plasti-
zität der Gewohnheiten übrigbleibt. Stattdessen sklerotisiert das
und man klammert sich an erstarrten und destruktiven Mustern fest
und verweigert die Realität – sind Rechtspopulismus und Faschis-
mus nicht genau das? Und selbst von diesem Rezidivkarzinom abge-
sehen, das seine Metastasen gerade überall streut – aber wie kann
man davon absehen, wenn man statt gegen den Klimawandel jetzt
sogar erst einmal für die Demokratie kämpfen muss? Wie lässt sich
ganz generell der Teufelskreis durchbrechen, dass bei der kommen-
den, unausweichlichen Verschlechterung der Lebensverhältnisse
durch den Klimawandel die Reaktionen immer verzweifelter werden,
der Horizont immer kürzer und das Handeln immer zerstörerischer
wird?Vgl. David Wallace-Wells, The Uninhabitable Earth. Life after Warming, New York: Tim Duggan Books 2019. Vor allem, wenn die Infrastruktur dieses modernen Nor-
malismus, der Fels, auf den wir die Kathedralen unserer Moderni-
tät gebaut haben, fossile Brennstoffe sind, Petro-ModerneVgl. Amitav Ghosh, »Petrofiction. The Oil Encounter and the Novel”, in: New Republic 206.2 (1992). 29–34; ders., The Great Derangement. Climate Change and the Unthinkable, Chicago/London 2016. Vgl. auch Stephanie LeMenager, Living Oil – Petroleum Culture in the American Century, Oxford u.a. 2014. gleich
Petro-Normalismus, und genau deswegen ist das historisch absolut
abnormal, aber selbst wenn man sich das klar macht, ist das Ende
dieses Ausnahmezustands wirklich vorstellbar?
Jared Diamond nennt zwei Faktoren, die
Gesellschaften vor dem ökologischen Kollaps bewahrt haben:
langfriste Planung und die Fähigkeit, ihre Kernwerte in Frage zu
stellen.Jared Diamon, Collapse. How societies Choose to Fail or Survive, London u.a.: Penguin 2011, 522f.
Ist das alles, was ihm nach 500 Seiten einfällt,
denkt man erst einmal, aber es ist enorm viel, wenn es darum geht,
das zu verwirklichen. Weil es nicht auf der Ebene individueller Ent-
scheidungen stehen bleiben kann, sondern auf politischen Entschei-
dungen beruht, die das Leben aller in vielen Bereichen einschnei-
dend betreffen und verändern, was natürlich in heutigen modernen
Gesellschaften als massiver Eingriff und als Einschränkung emp-
funden wird. Und dann kann man nicht, natürlich nicht, von allen
Maßnahmen im Voraus wissen, wie sie sich tatsächlich auswirken,
vielleicht erweist sich eine vermeintliche Verbesserung als kont-
raproduktiv – also Langfristigkeit in der Ungewissheit mit ständi-
ger Notwendigkeit zur Korrektur – Planen für das Nichtplane und
Nichtplanierbare, also gerade nicht modern planen, sondern für eine
gefaltete Zukunft, also für eine, die nicht nur mannigfaltig ist, son-
dern unübersichtlich, von der wir nicht wissen, wie sie sich ausfaltet –
Wissenschaft als Affirmation ihrer Grenzen, als Unge-Wissenschaft.
Eine neue, alte Zuversicht braucht es. Zuversicht heißt ursprünglich
›Vorausschau‹, wie in ›sich mit einer Sache versehen‹ – aber dabei
eben akzeptieren, dass man sich immer auch versehen kann, dass das
Versehen dazugehört, ohne dass gleich das Empörungsgeheul in den
asozialen Medien anschwillt.
Und dann schaue ich auf Covid-19 und frage
mich, ob mich das jetzt zuversichtlich stimmen soll? Statt zu kapie-
ren, dass Wissenschaft angesichts von etwas Unbekanntem immer
science in the making ist, dass Covid-19 ein epistemisches Objekt ist,
das konstruiert werden muss, um real zu sein – Entrüstung, dass
nicht alles schon fertig im Schrank steht:Vgl. hierzu Bruno Latour, Science in Action. How to follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge: Harvard University Press 1987. Die Wissenschafts-
mythen fressen ihre eigenen Kinder. In welchen hysterischen
Wahnzustand haben sich viele angesichts vergleichsweise modera-
ter Einschränkungen hineingesteigert? Klar, das war immer noch
eine – immer weiterwachsende – Minderheit, aber a) war immer der
Deal, dass alles wieder werden soll wie vorher, und dann ging es
b) jedem selbst und den Seinen ja potentiell ganz direkt an und in den
eigenen Leib.
Was passiert, wenn a) und b) nicht gegeben
sind? Hat Covid-19 vielleicht nur an der Oberfläche gekratzt? Und dann haben wir uns alle doch insgeheim darüber gefreut, dass der Klimawandel da ist und wir im November im Freien mit Freunden
zusammensitzen konnten. Da denken und fühlen wir wieder nur
mit unserem Körper, der sich über die warme Sonne freut oder
über die Blumen, die noch auf dem Balkon blühen. Und das reicht
eben nicht.Hier geht es offenbar um doppeltes Problem: Zum einen, dass Klima und Klimawandel nicht mit unseren körperlichen Sinnen erfassbar sind. Was natürlich nicht heißt, dass sie nicht in einer Referenzkette technischer Mediationen sichtbar gemacht werden könnten. Latour hat das so formuliert: »Pour la croyance ›en Dieu‹, on ne possède pas le réseau d’instruments, de laboratoires, de satellites, qui permettrait d’obtenir, de compiler et de modéliser les données dont on dispose pour le climat [...] le réchauffement global est exactement aussi invisible à l’œil nu, à l’œil non équipé par les sciences...« – im Gegensatz zu Gott kann die Erderwärmung sehr wohl sichtbar gemacht werden, also kognitiv erfassbar. Dies reicht aber nicht: Was Simondon für die Technik konstatiert hat, nämlich das gestörte affektive Verhältnis im Umgang mit dieser, gilt [... siehe PDF].
Was aber ist mit unseren Gewohnheiten als
Wissenschaftler*innen? Das eine ist ja, dass in unserer Branche das
Renommee im Gleichschritt mit den Bonusmeilen für Überseeflüge
anwächst und ganze Lebensentwürfe darauf beruhen, dass man
wöchentlich mit dem Flugzeug vom Wohnort zum Arbeitsplatz ›pen-
delt‹. Aber das war nicht mal das Erste, woran ich gedacht habe, als
mir vorhin das Bild von der Bohrinsel durch den Kopf schoss. Eher
an den oil peak. Lange bevor der Begriff in Zeitungsartikeln die
Runde machte, hat Michel Serres schon auf das Phänomen des ste-
tig abnehmenden Ertrags in der Wissenschaft hingewiesen.Michel Serres: Le Parasite [1980], Paris: Hachette 1997, 41ff. Immer
mehr Equipment, um immer tiefer zu bohren für die letzten Trop-
fen. Wenn man danach geht, dann ist unsere industria längst in der
Phase des Fracking angekommen – und das soll nicht heißen, dass
nicht ständig Spannendes passiert und es nicht auch Innovation gibt.
Was ich meine, ist etwas anderes: die Illusion, dass man ›Innovation‹
zum Standard erklären kann. Die Fiktion, dass man permanent ver-
lässlich, auf Bestellung und mit Methode das Neue und Innovative
produzieren kann und muss. Und das nicht nur mit gleichbleiben-
dem Output, sondern mit ständig wachsender Förderleistung! Wir
überschwemmen den Markt mit ständig neuen Publikationen und
Projekten, in der Hoffnung, große Wellen zu machen im neoliberalen
Verdrängungswettbewerb.
Während Schriftsteller*innen oder Kompo-
nist*innen längst die Prätention, total originell sein zu können und
das völlig Neue zu schaffen, abgelegt haben, geben wir die Hard-
core-Modernen, und je länger je lieber, je mehr wir die hard sciences
nachäffen, die unbeirrt nach der Avantgarde-Logik der Modernen
funktioniert und so ständig die Monokultur der linearen Zeit repro-
duzieren, von der Boaventura de Sousa Santos spricht.Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide [2014], Oxon und New York: Routledge 2016, 173 und (zum Gegenmodell einer Ökologie der Zeitlichkeiten) 176f.
Und, nicht ganz nebenbei bemerkt: Eine
Gefahr von Covid-19 ist doch, dass dabei auch die Vormachtstellung
dieser hard sciences noch unangreifbarer wird und in Bausch und
Bogen alles, also auch jedes nicht-moderne Wissen, als irrationaler
Hokuspokus verdammt wird, was nicht einer sehr engen Vorstellung
von westlicher Wissenschaft entspricht: Man ist ja sogar zu arrogant,
um das Wissen asiatischer Wissenschaftler*innen anzunehmenHierzu aktuell der Essay von Jürgen Gerhards und Michael Zürn, »Corona offenbart die westliche Arroganz. Dass Deutschland in Sachen [... siehe PDF] –
so, wie man sich wochenlang starrsinnig dagegen gewehrt hat, die
Wirksamkeit von Masken anzuerkennen.Vgl. das Interview mit George Gao, das am 31. März 2020 in Le Monde vom 31.März 2020 erschienen ist, während RKI und WHO Masken – auf welcher Basis? – für nutzlos erklärten;
exemplarisch für die späte Einsicht: Christian Baars, Markus Grill und Frederik Jötten, »Masken gegen Corona. ›Hätten Todesfälle verhindern können‹« (11.2.2021).
Und natürlich hängt das eine mit dem ande-
ren zusammen: Die Ideologie des Neuen ist ein probates Mittel, um
sich im wissensökonomischen Wettbewerb – gerne auch als mora-
lisch überlegen – zu positionieren, und deswegen deklariert man
ständig Positionen, Denkweisen, etc. als gänzlich überholt, um sie
exkludieren zu können. Und selbst wenn wir uns für nicht-modernes
Wissen interessieren, dann müssen wir aufpassen, dass wir es nicht
als Brennstoff für unsere (persönlichen) Avantgardemaschinen miss-
brauchen. Aber links zu sein, kann wirklich nicht mehr heißen, die-
sen elitären, oft auch totalitären Gestus zu reproduzieren.
Klar, ja, im Grunde glauben ohnehin nicht
mehr allzu viele von uns an dieses Neue, aber wenn es ernst wird,
wenn es um Karriere und Gelder geht, dann spielen wir alle brav
weiter nach diesen Regeln. Und haben nicht nur unsere Moden, son-
dern rufen auch so schnell einen turn nach dem anderen aus, bis uns
schwindlig genug ist, dass wir vergessen, wie oft wir uns im Kreis
gedreht haben und, dass wir doch wieder das gleiche Öl in neue Fäs-
ser (und manchmal auch denselben Bull in neue Dosen) abgefüllt
haben. Warum also nicht die Regeln ändern?
Ich weiß, klingt alles nach performativem
Selbstwiderspruch: Weg mit der Religion des Neuen, etwas Neues
muss her – und das ausgerechnet jetzt, wo es doch neue Denkweisen
und Lösungen braucht für nie dagewesene Probleme? Aber anstatt
weiter zu glauben, dass das Rad ganz neu erfunden werden muss
(was natürlich großartige business opportunities eröffnet), kann man
ja, da sage ich nichts Neues und will es auch gar nicht, von dem
lernen, was andere schon besser und klüger machen oder gemacht
haben. Ich weiß, das Bild ist auch schief, aber erst mal faute de mieux,
könnten wir uns nicht eher als Korallenbauern und -gärtnerinnen
verstehen, denn als Ölarbeiter?
Ok, ich glaube, hier muss mal langsam jemand
anderes übernehmen, vielleicht kann ja doch jemand was damit
anfangen, wie aleatorisch auch immer der Auslöser war .... Aber
um was es wohl geht, in einem Satz: Können wir uns eine Ökologie
unserer Gewohnheiten und Praktiken vorstellen – nicht allein ein
Wissen um Ökologien, sondern eine Ökologie des Wissens anstelle
unserer Wissensökonomie, die doch auf derselben Fiktion von stän-digem Wachstum, auf der Akkumulation von Kapital, auf Obsoleszenz, Externalisierung und Exklusion beruht wie die kapitalistische
Ökonomie tout court?