Bilder von zerstörten Stadtlandschaften und Ruinen, auf denen Comic- und Kinderbuchmotive aus der europäischen, US-amerikanischen und der post-sowjetischen Popkultur zu finden sind. Es herrscht ein starker Kontrast zwischen der Unschuld und der grenzüberschreitenden Bedeutung dieser Motive und den Zeugnissen eines brutalen Krieges in Syrien, in dem das Regime von Assad massiv von russischen Kampfliegern und Bomben unterstützt wurde.

Kreativität und Medienhandeln Making is Connecting? 

Diese Bilder, deren Leid, Brutalität und Hoffnung, die sie zum Ausdruck bringen, uns nah sein sollten, die aber durch den Krieg gegen die Ukraine uns noch näher gerückt sind, sind im Zusammenhang mit einem studentischen Projekt von Viktoriia Korsun am Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. »Wir machen was mit Medien. Formen und Diskurse des Tuns in alten und neuen Medien« war ein Seminar im ersten Lockdown-Semester ohne Präsenzunterricht. Das Ziel dieses Seminars, das ich schon einmal angeboten hatte, war das Nachdenken über Aktivität im Zusammenhang mit Medientechnologien. Es bezog sich auf ein relativ unkritisches Buch von David Gauntlett, eines von vielen Werken, dass die Ermächtigung und die Entfaltung von
Kreativität durch neue Medien und das Internet herausstellt. Making is Connecting (Gauntlett 2011) bietet eine sehr interessante Geschichte der theoretischen und literarischen Wurzeln der Arts and Crafts-Bewegung im utopischen Sozialismus der englischen Romantik (John Ruskin und William Morris), die als Grundlage für das Entstehen einer DIY-Kultur im 20. Jahrhundert betrachtet wird und die ihre Fortsetzung in den Sozialen Medien und im Internet findet. Kreativität, so eine der Thesen dieses Buches, hat eine soziale und kommunikative Komponente, aber auch eine sinnlich-kognitive Dimension, sie kann Ausdruck von Protest sein und Menschen zusammenführen, dem Leben Form geben.

Theorien des Handelns 

Ein Grund für dieses Seminar ist der tief gehegte Verdacht gegen diese Rhetorik der Aktivierung von Menschen durch Neue Medien, ausgehend von dem Gefühl, dass Soziale Medien eher ein emsiges Tun um des Tun willens auslösen, sie sind daher direkter Effekt der technologischen Angebote und der Anpassung an diese, und eingebunden in den festen und engen Rahmen von Programmen und Protokollen zu verstehen. Ich muss dabei immer an die Doozers in der TV-Kinderserie Die Fraggles (Jim Henson, USA 1983 – 87) denken, ameisenhafte Wesen mit Bauhelmen, die ständig Gerüste konstruieren, deren Sinn die mit ihnen koexistierenden Fraggles nie verstehen konnten (und wir wissen auch nicht, ob es die Doozers verstehen). In dem Seminar wurde versucht, das Verständnis von Handeln und Kreativität, das Gauntlett formuliert, mit philosophischen Vorstellungen von Handeln zu kontrastieren, etwa mit Hannah Arendts Verständnis von Handeln in Vita Activa (Arendt 1981 [1958]), ein Tätigsein, das auf radikale Weise Öffentlichkeit herstellt und niemals zweckgebunden sein darf. Gerade dieser Begriff stellt jede Form von Passivität und daher auch Medienrezeption in Frage. Diese Ansicht lässt sich nicht nur mit der Vorstellung von aktiver Zuschauer:innenschaft bei John Fiske Hier vor allem der Begriff der ›active audience‹ (Fiske 1987; Falero 2016), den Cultural Studies oder mit de Certeaus (De Certeau 1999) Mikropolitiken eines widerständigen Alltagshandelns kontrastieren, sondern auch mit anderen philosophischen Vorstellungen, die Ben Highmore mit Rückgriff auf Dewey oder William James nachzeichnet und die gerade die besonderen Dimensionen halbbewussten Handelns und von Routinen herausstellen. (Vgl. Highmore 2011; 2012: 118 und 124f)

Online-Seminar als Versuchsfeld des Medienhandelns 

Das Seminar selbst war Ausdruck von Praxen und Diskursen des Handelns und der Kreativität, notwendig durch das Ausprobieren neuer Interfaces wie Zoom oder der von der Uni angebotenen Chatfunktion und der Lehroberfläche. Diese wurden davor fast ausschließlich für das Bereitstellen von Seminartexten genutzt und wurden plötzlich ein Raum des Austausches von Kommentaren, kreativen Beiträgen und Links. Corona und die Suche nach Alternativen zum Präsenzunterricht boten hier ein Versuchsfeld für Medienhandeln, das für die Auseinandersetzung mit dem Seminarthema genutzt werden konnte, aber an die Theorien zurückgebunden wurde. Da viele Seminarinhalte aus Beiträgen der Studierenden bestanden, die sie auf der Lehrplattform hochladen konnten, war immer auch eine Reflexion darüber möglich, was und wie diese genutzt wurden, was Medienhandeln in von ihnen ausgewählten Beispielen bedeutet und wie sich dies mit Theorie verbinden lässt. Das als Tool angebotene (chao-tisch organisierte) Online-Forum der Seminarplattform wurde so zu einem Raum des Medienhandelns, ähnlich den Webseiten und Online-Lehrexperimenten, die David Gauntlett parallel zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten etabliert und anhand derer er darüber reflektiert, welche Erfahrung (des Tuns und seiner Prozessualität, der Befriedigung über die Ergebnisse, des Vollendens und in Form bringen etc.) ihm dieses digitale Medienhandeln geliefert habe. Es geht hier um simple Dinge, wie zum Beispiel Kommentare, die die Studierenden machen sollten, mit Youtube-Clips zu illustrieren und damit darüber hinauszugehen, nur Texte zusammenzufassen. Dies in meinen Reaktionen auf die Kommentare als Einladung zu begreifen, selbst Videos zu verlinken und die darin zu findenden Handlungsbegriffe mit den Texten abzugleichen, sollte aus dem Forum ein Feld des Dialogs und der Kreativität machen. Zugleich sollte dies auch die Grenzen dieser Kreativität deutlich machen, wenn etwa einzelne Youtube-Clips als eben dieses emsige Tun erschienen, dass sich allein dem von diesem Medium gesetzten Rahmen verdankt und irgendwie im Nichts verläuft. Diese Ratlosigkeit hinterlässt zum Beispiel das von einem Studenten gepostete Video 72 Days in Jungle and Underground Building (Mr. Heang Update 2019), das einen Mann im Dschungel zeigt, der aus Lehm ein riesiges Gebäude schafft (für wen macht er das? Womöglich nur für den Blick der von Prozessen faszinierten Youtube-Zuschauenden, die sich auf ähnliche Weise Zubereitung von Gerichten anschauen, die sie niemals essen werden?).

Kreativität und Hausarbeit 

Ein Effekt dieser erzwungenen Nutzung von Medientechnologien war das Angebot, statt Hausarbeiten kreative Projekte (was immer das sein mag) einzureichen und dabei über das eigene Handeln zu reflektieren und mit den Theorien des Seminars abzugleichen. Den Rahmen einer Hausarbeit (wirklich) zu verlassen, ist dabei auf unterschiedliche Weise gelungen. Es sind tatsächlich eine Reihe sehr interessanter Projekte entstanden, etwa eine Kurzfilmversion von Jeanne Dielmann, 23 qui du Commerces, 1080 Bruxelles (Chantal Akerman, USA 1975) als Julie, 23, in der Yulia Drahan ihre eigene Version eines von Routinen, langen Einstellungen (und mittlerweile auch von Corona) bestimmten Alltags im Stil des Films von Chantal
Akerman erzählte. Es gab Dokumentationen von DIY Handarbeitsprojekten in der Form eines Tagebuchs, in dem Rosemarie Paul ihr Projekt des Baus einer Garderobe verfolgte, eine Instagram Story von Sophie Irl zu dem perfekten Gnocchi-Rezept, Veronika Obermaier gestaltete die erste und einzige Ausgabe einer Art Life-Style-Magazins Navada mit Artikeln zu unterschiedlichen Formen und Bedeutungen von Routinen, die immer wieder Bezüge zu den Theorien des Seminars herstellten, es gab einen Podcast von Annabel
Mainhardt zum Handeln in Sozialen Medien, kleine Videodokumentationen von Nele Graf zu Ausstellungen von Amateur-Künstler:innen, ein Filmessay von Laura Lazar zum Thema Routinen im Film Joker (Todd Phillips, USA 2019). Während diese Projekt von einem erläuternden Essay begleitet wurden, gab es auch ›traditionelle‹ Hausarbeiten wie unter anderem die von Matthias Ernst zur digitalen Ausbeutung und den Theorien von Christian Fuchs und Marc Andrejevic, zu Arbeit im Computerspiel von Theresa Völtl oder zur DIY-Kommune Kliemansland von Patricia Thum.
Das Seminar hat (zum Teil unbewusst) einen Rahmen gesetzt, der in buchstäblichen ›Haus‹arbeiten und einem Tun Ausdruck gefunden hat und die den Input des Seminars und des kommunikativen und kreativen Feldes, das dort geschaffen werden sollte, in weitere Formen des Handelns überträgt, die in begleitenden Texten und Essays (nicht immer erfolgreich und produktiv) reflektiert werden sollten.

Childhood Elements als (maßloses) Hausarbeitsprojekt 

Es ist wichtig, hier zu betonen, dass der Rahmen von mir auch aus der Not heraus und zum Teil unbewusst gesetzt wurde, dass es keine vollständige Kontrolle darüber geben konnte und sollte, was in den Arbeiten passiert. Das Seminar konnte auch nicht die Frage klären, ob eine digitale Kreativität an die DIY-Kultur der vergangenen Jahrhunderte anschließt oder die aktuelle eine kontaminierte Kreativität als Effekt von Sozialen Medien ist.

Als mir Viktoriia Korsun ihre Idee für eine Hauarbeit erläuterte, geschah ähnliches wie das, was sie in ihrem Text schildert. Ich reagierte mit Erstaunen auf das interessante Projekt, über Motive der Kindheit nachzudenken, dabei der Vorstellung einer universellen Bedeutung zu folgen und diese Universalität dann aber durch die Partikularität und kulturelle Gebundenheit an bestimmte Kontexte auf ironische Weise wieder zu hintertreiben. Dass die Motive auf Ruinen in Syrien als Wandgemälde gemalt werden sollten, fand ich sehr interessant, aber ich war mir sicher, dass es bei diesem Projekt eher darum gehen würde, darüber nachzudenken sich etwas sehr Komplexes vorzunehmen und es dann doch nicht zu realisieren. Noch erstaunter war ich allerdings, als ich eine kleine Dokumentation ihres Projektes, den damit verbundenen Vorstellungen und den Bildern aus Idlib in Syrien in den Händen hielt. Das Erstaunen darüber, dass es wirklich geklappt hat, beschreibt ja auch Viktoriia Korsun in ihrem Text zu den Bildern, die sie in Auftrag gegeben hat.

Umsetzung/Tun 

Auf den ersten Blick wirkt es fast willkürlich und übertrieben aktionistisch und es hätte tatsächlich schnell ein Projekt der Art werden können, Friedensbotschaften auf Trümmer zu schreiben und damit einen diffus universellen Pazifismus zu vertreten, der sich immer wieder an konkreten Wirklichkeiten erschöpft. Das Projekt macht aber etwas anderes. Es probiert aus, geht Umwege, spielt mit den Symbolen, es spielt auch mit den Möglichkeiten, die Neue Medien bieten, sich mit anderen Orten zu verbinden und dort Menschen zu finden, die zum Handeln überredet werden können und etwas ausführen, was sie vielleicht nicht gänzlich so verstehen, wie die Initiatorin es im Sinn hatte.

Formen und Motive 

Die Auswahl der Motive ist sehr eigensinnig und scheint auf eine hintergründige Weise das Unpassende statt das Universelle zu betonen. Aber genau damit wird deutlich, wie universell Motive der Kindheit gerade deswegen sind, weil sie approbiert und transformiert wurden, weil sie Verbindungen zu diversen Vergangenheiten herstellen, der Kalte Krieg bei Werner mit der Bedrohung durch eine unbestimmte Macht ›der Russen‹, der für die russische und ukrainische Kinderbuchkultur angeeignete Carlson (der auf dem Dach von Bomben getötet wird) oder Winnie-the-Pooh, die jeweils eine eigene Ikonografie hervorbringen, die universelle Aggressivität von Rick and Morty sowie die ›Freundlichkeit‹ von Mary Poppins und deren symbolische Mütterlichkeit als Hoffnung und Versprechen für eine andere Welt. Diese Motive wurden endlos rekontextualisiert und sind das Produkt von Rekontextualisierungen. Sie in den Kontext der zerstörten Stadt Idlib in Syrien zu versetzen ist mehr als eigensinnig: Es ist eine Zumutung, es ist ein Zuviel an Kreativität und Kommunikation, es produziert einen nicht einholbaren Überschuss an Bedeutung, der nicht nur Fragen an die Kinder stellt, die sich auf einer der Fotografien (ratlos?) das Motiv eines Werner-Comics anschauen, dessen diffuse Angst vor ›den Russen‹ zu einer real erlebten Bedrohung in ihrem täglichen Umfeld geworden ist. Das Zuviel dieses Projektes schließt hier auch ein, dass es durchaus auch als imperiale Geste verstanden werden kann, europäische und sowjetische und US-amerikanische Ikonen auf Kriegstrümmer zu malen. Dies ist insbesondere dann ambivalent zu betrachten, wenn der kulturelle Kontext dieser Bilder unbekannt ist. Der Künstler Aziz Alasmar sieht das Bemalen der Trümmer weniger als Übermalen, sondern versteht es als Geste des Erfreuens für die Kinder in Idlib an: »We were glad to paint on the destroyed wall of our city Idlib, Syria. The homes that got destroyed by the savage dictator Bashar al-Assad. Painting those characters, which are loved by children in Europe and all over the world, gave our children a pause from the harsh reality of war and its atrocities. We try to minimise the damage by colours and art. We wish peace for all, safety for our kids and future generations.”

Zumutungen und die Ethik der kreativen Seminararbeit 

Dieses Mehr und Zuviel an Bedeutung, die die Übertragungen von Motiven erzeugen, ist auch eine Zumutung für eine Lehre, die sich plötzlich mit Projekten konfrontiert sieht, die tatsächlich nicht mehr als Arbeiten funktionieren, die bewertet und durch die isolierte Situation einer Lektüre und Bewertung im Lehrbetrieb auch immer de facto vernichtet werden. Hier bewahrheitet sich der Titel von Gauntletts Buch, Making is Connecting, dann doch irgendwie als Anspruch, diese isolierte Wahrnehmung aufzulösen und etwas gegen die Inkongruenz von der Reichweite dieses Projektes und den Ansprüchen einer wissenschaftlichen, studentischen Arbeit zu machen. Allerdings ist dieser Versuch, die Arbeit öffentlich zu machen, immer wieder an Desinteresse und der eigenen Trägheit gescheitert. Am Ende muss auch ein gewisses methodisches Scheitern attestiert werden, dass medienlogische Ursachen hat: Medien haben ein faszinierendes, aber auch verstörendes Projekt ermöglicht, das sich nicht mehr akkurat in den Lehrbetrieb einordnen lässt oder vielleicht sogar deutlich macht, wie häufig Hausarbeiten vergeudete theoretische Energie darstellen, wenn sie nur von denen gelesen werden, die sie bewerten müssen. In diesem Sinne ist die Arbeit auch eine Infragestellung dessen, was an der Universität und wie gemacht wird, wie Uniarbeit in gleichmütigen Routinen und Rahmen verläuft.

Von Syrien in die Ukraine: Trümmer als Medien 

Der Krieg gegen die Ukraine hat dieses Projekt 2022 leider wieder aktuell gemacht und lieferte mir neue Gründe, warum es öffentlich gemacht werden sollte. Das Projekt erfordert den Bruch mit den Routinen der Uniarbeit. Im Begleittext von Viktoriia Korsun wird deutlich, wie ihre Auseinandersetzung mit dem Syrienkrieg und ihre Wahl von Idlib von den Kriegsereignissen 2014 in der Ukraine geprägt waren. Ich habe immer das Gefühl, dass dieser Konflikt (auch von mir) zu wenig ernstgenommen wurde. Manchmal bin ich bei Seminardiskussionen über den Krieg (zum Beispiel über Kittlers Krieg), in denen neben Viktoriia Korsun noch andere aus der Ukraine stammende Masterstudentinnen teilnahmen, fast erschrocken, weil Krieg für sie Realität war und eben keine (nur) akademische Diskussion. Im März 2022 gibt es in der Nähe, in Europa, unzählige Trümmer, die mit Gemälden besprüht werden können, es gibt unzählige enttäuschte Hoffnungen und Kinder, die von den Ereignissen traumatisiert werden, die fliehen müssen und nicht einfach Zuflucht finden in den sicheren und grenzüberschreitenden Räumen, die die Populärkultur eigentlich bauen könnte. Es ist richtig, dass diese Motive zwar in fremde Kontexte versetzt werden, dass der Text aber auch auf eine verbundene sowjetische und post-sowjetische Kinder- und Jugendkultur verweist, die die Ukraine und Russland miteinschließt und deren Verbindung gewaltsam getrennt wurden. Die Kindheitserinnerungen bieten keine Zuflucht, aber sie sind Medien, die Verbindungen herstellen und gerade auch dann ihre oder eine Botschaft vermitteln, wenn sie nicht verstanden werden oder in neuen Kontexten anders verstanden werden.

Ergebnis: Medien machen zu viel mit uns 

Diese Medien machen etwas, weil wir etwas mit Medien machen. Sie machen etwas mit den Studierenden, die sich zu kleineren oder größeren Projekten ermutigt sehen, sie machen etwas mit mir, sie schaffen Unkon-trollierbares im Versuch einer Vermittlung, sie überfordern, sie erzeugen einen sinnlichen Überschuss, aber auch eine ethische Verpflichtung, mit den Effekten, die die Medien und Medienhandeln zeitigen, umzugehen. Das Projekt als Medium schafft eine Verbindung zu dem Künstler Aziz Alasmar und dem Fotografen Azaldenalqasem, es mutet auch ihnen viel zu und verpflichtet sie zum kreativen Handeln, ohne zu wissen, was die Motive bedeuten und was dieses Projekt im syrischen Kontext bedeuten wird. Es siedelt sich in einem unübersichtlichen Raum eines Medienhandelns an, zu dem wir verführt werden, das uns führt und über uns hinweggeht und dennoch, mit Donald W. Winnicott gedacht, eine medienkulturelle Sphäre der Vermittlung zwischen Innen und Außen schafft (Vgl. Kuhn 2005: 401–414; Silverstone 1994: 159–178). Annette Kuhn bezieht sich auf D.W. Winnicotts Begriff des ›transitional objects‹ des Kleinkinds zurück, wenn sie Filme als Teil einer von Winnicott beschriebenen kulturellen Sphäre der Vermittlung betrachtet, aber auch Objekte in den Filmen selbst wie Türschwellen findet, die Übergänge symbolisieren als auch nachvollziehen lassen, zum Beispiel in einer immersiven, affektiven Erfahrung wie in dem von ihr beschriebenen Melodrama Mandy (GB 1952). Roger Silverstone weist in dem Kapitel »Television: Ontology and Transitional Object« auf die Definition der Fortsetzung eines transitional objects des Kleinkinds in einer kulturellen Sphäre als ›intermediate sphere‹ oder ›potential space‹ hin und definiert Fernsehen als ein Übergansobjekt, das ontologische Sicherheit und Bindung an die Welt herstellen soll. Diese Sphäre brauchen wir gerade jetzt mehr denn je.

Es war nicht meine Absicht, dass dieses Seminar, welches das Tun durch und mit Medien und die Ermächtigungsdiskurse von Medienapologet:innen in Frage stellen und den Handlungsbegriff medientheoretisch und -philosophisch erkunden wollte, etwas wie dieses Projekt hervorbringt. Aber ich bin froh, dass Viktoriia Korsun mit ihrem Projekt Childhood Elements meinen Skeptizismus dem Medienhandeln gegenüber in Frage gestellt hat.

Literatur

Arendt, Hannah (1981 [1958]): Vita Activa oder vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper.

De Certeau, Michel (1999): »Die Kunst des Handelns. Gehen in der Stadt«, in: Hörning, Rainer/ Winter, Carsten (Hg.) Widerspenstige Kulturen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Gauntlett, David (2011): Making is Connecting. The Social Meaning of Creativity, from DIY and Knitting to YouTube and Web 2.0. Cambridge: Polity Press.

Highmore, Ben (2012): Everyday Life. Critical Concepts in Media and Cultural Studies. London/New York: Routledge.

Highmore, Ben (2011): Ordinary Lives. Studies in the Everyday. London/New York: Routledge

Kuhn, Annette (2005): »Thresholds: film as film and the aesthetic experience«, in Screen 46:4, 401–414.

Silverstone, Roger (1994): »Television. Ontology and the Transitional Object.«, in: Television and Everyday Life. London/New York: Routledge, 159-178

Fiske, John (1987): Television Culture. London/New York: Routledge.

Falero, Sandra M. (2016): »The Industry. A Brief History of Audiences In and Out of Control.«, in: Digital Participatory Culture and the TV Audience. Everyone’s a Critic. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

Filmverzeichnis

72 Days in Jungle and Underground Building (Mr.Heang Update): https://www.youtube.com/watch?... vom 22.11.2019 [letzter Zugriff am 30.03.2022].

Die Fraggles (Jim Henson, USA 1983 – 87)

Jeanne Dielmann, 23 qui du Commerces, 1080 Bruxelles (Chantal Akerman, USA/CA 1975)

Joker (Todd Phillips, USA 2019)

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Childhood Elements

Viktoriia Korsun

Das Fotoprojekt Childhood Elements ist im Rahmen eines medienwissenschaftlichen Seminars über digitales, kreatives Handeln von Herbert Schwaab an der Universität Regensburg im Sommersemester 2020 von Viktoriia Korsum als Studienleistung realisiert worden.

Die Geschichte des Projekts

Die Idee des Projekts wurde von
der vereinigenden Popkultur und
der kollektiven Kreativität inspiriert.

Das Ziel dieses Projektes war, unsere Kindheit darzustellen, in der die Abweichungen minimal und Vorurteile nur ein schwieriges Wort sind, das wir nicht einmal aussprechen können. Ich wählte Figuren aus berühmten Zeichentrickserien aus den Epochen der Nachkriegszeit, des Post-Chaos, des Kommunismus und der Post-Wahrheit. Figuren wie Carlson und Winnie-the-Pooh, die beide die berühmtesten Figuren in den unterschiedlichen Staaten der Sowjetunion waren und in dieser Zeit sogar auf Briefmarken gedruckt wurden [die Version des sowjetischen und post-sowjetischen Raums weicht von den bekannten Illustrationen zu den frühen Ausgaben von Winnie-the-Pooh ab].

Abb. 1 und 2: Junior und Carlson, der auf dem Dach wohnt und Winnie-the-Pooh, zusammen mit dem Zeichen der UDSSR.


Das Ziel war es, diese Figuren auf zerstörte Gebäude zu malen und ihre Fans unabhängig von ihrer politischen Persönlichkeit oder religiösen Erlösung miteinander zu verbinden. Der Grund für die Wahl der Kindheit liegt darin, dass wir uns als Kinder auf der ganzen Welt am nächsten waren. Die Bestandteile unseres täglichen Lebens waren einfach. Wir hatten unsere Lieblingsspielzeuge, Fernsehsendungen und … sonst nichts.

Thomas Hobbes sagte, der Krieg sei der natürliche Zustand der Menschheit. Ist das nicht der schlimmste Albtraum aller Zeiten? Krieg ist das Schlimmste, an das sich ein Mensch anpassen muss. Krieg ist Chaos, Vergessenheit und Tragödie.

Unser Projekt ist die Kombination aus unseren schlimmsten Albträumen und süßesten Kindheitserinnerungen. Unser ›Spielplatz‹ ist Syrien. Das Land hat fast ein Jahrzehnt lang einen brutalen Krieg durchgemacht, der seine Struktur einer zivilisierten Gesellschaft auf allen Ebenen zerrissen hat.

Nachdem ich die Idee entwickelt hatte, sah ich mich mit der Realität konfrontiert, sie zu verwirklichen. In Kriegsgebieten ist die Kommunikation in der Regel nicht zuverlässig. Außerdem spreche ich die Sprache nicht, und ich kenne dort niemanden. Aber mein Freund spricht Arabisch, und er bot an, bei der Übersetzung zu helfen.

Also versuchten wir zunächst, jemanden in der syrischen Hauptstadt Damaskus zu finden. Wir fanden einen Maler, der sich sehr darauf freute, uns zu helfen. Aber als er die Sätze las, die unseren Bildern beigefügt waren, zögerte er und schrieb uns einen klaren Satz: »Das Land ist nicht mehr das, was man denkt«. Er hatte Angst davor, einen solchen Schritt zu machen, denn er hätte für das Malen der Bilder verhaftet werden können.

Abb. 3: The George Floyd Memorial in Syria.

Also suchten wir auf vielen arabischen Websites und Facebook-Seiten nach einem Street-Art-Künstler, und nach vielen Anrufen, E-Mails und falschen Telefonnummern erreichten wir einen Mann in der am stärksten zerstörten Stadt Syriens, Idlib. Er hat unsere Aufmerksamkeit mit seinem großen Gemälde von George Floyd erregt [Abb. 3]. Nachdem er die Details unseres Projekts besprochen hatte, brauchte er nicht einmal eine Minute, um »Ja« zu sagen. In diesem Moment konnte ich sehen, wie meine Idee bereits begonnen hat, Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit miteinander zu verbinden.

Vom ersten Gespräch an erklärte sich der Künstler Aziz Alasmar bereit, alle unsere Charaktere zu malen und nach den richtigen Orten für sie zu suchen. Er kontaktierte sogar seinen Freund aus einer anderen Stadt und bat ihn, 10 km zum Mural zu fahren und kostenlos Fotos und Videos davon zu machen. Wir boten ihnen an, zumindest die Materialien, Pinsel und Farben zu kaufen oder sogar die Busfahrt zum Ort zu bezahlen, aber die beiden wollten weder finanzielle noch materielle Unterstützung annehmen. Sie drohten sogar damit, nicht an dem Projekt teilzunehmen, wenn wir weiterhin Geld anbieten würden. Der Künstler sagte etwas wirklich Bedeutsames: »Solange es in der Botschaft um Menschen und Krieg geht, hat Geld keine Worte«. Zwei Tage nachdem wir die Männer kontaktiert hatten, erhielten wir eine Nachricht von dem Fotografen Azaldenalqasem: »Ich habe ein Auto, ich werde am Samstag fahren und Aziz Alasmar treffen. Ich werde Luftaufnahmen und normale Aufnahmen von den Gemälden machen und sie Ihnen zusammen mit einem Video über die Vorbereitung des Gemäldes senden.«

Ich war einfach sprachlos. Trotz der Entfernung und der Unterschiede taten die beiden alles, was sie konnten, um die Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Sie brauchten drei bis vier Tage, um alles zu erledigen. Es wurden fünf Bildprojekte in Idlib umgesetzt, die ich hier kurz beschreiben möchte.

Abb. 4 und 5: Rick und Morty, Idlib 2020 (Graffiti: Aziz Alasmar Fotos: Azaldenalqasem)

Rick und Morty (Justin Roiland/Dan Harmon, USA) aus der gleichnamigen, seit 2013 produzierten US-Animationsserie, sind die perfekten Protagonisten für den Krieg in Syrien. Der Satz »Wubba lubba dub dub dub« ist für die Fans der Serie ein sehr berühmter Slogan von Rick. Er bedeutet: »Ich habe große Schmerzen, bitte helfen Sie mir.« Rick ist bekannt für seine Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Sein Charakter wird von den Fans als impulsive Person beschrieben, die immer Recht haben muss. In der Realität ist Rick ein rücksichtsloser, narzisstischer Mörder. Aber all die Gräueltaten, die er im Namen selbstsüchtiger Ausdauer begangen hat, sind nichts im Vergleich zu dem, was den Kindern in Syrien geschieht. Morty repräsentiert hier die orientierungslose, mit der Post-Wahrheit konfrontierte öffentliche Meinung.

Abb. 6: Mary Poppins, Idlib 2020 (Graffiti: Aziz Alasmar; Fotos: Azaldenalqasem)

Mary Poppins war die einfachste Option für ein Wandgemälde – eine mächtige Ordnung an einem Ort, wo das Chaos herrscht. Ein Schimmer von Hoffnung. Die grenzenlose Hilfe und der notwendige Sturm. Sie stellt alle Mütter dar, die im Krieg verloren gingen. Mary Poppins ist auch eine Person, die zu gut ist, als dass es wahr sein könnte. Dieses Motiv repräsentiert nichts Geringeres als eine ultimative Freundlichkeit. Sie hat all die harte Arbeit umsonst und mit voller Leidenschaft getan.

Abb. 7: Werner, Idlib 2020 (Graffiti: Aziz Alasmar; Fotos: Azaldenalqasem)

Werner war die witzigste und interessanteste Persönlichkeit unserer Motive. Werner stellt die junge mächtige Generation dar, die einen Krieg überlebt hat. Werner ist die harte Arbeit gemischt mit Bosheit. Er ist der ironische Spott und die Erhabenheit über die letzte Spur des Kommunismus im Nachkriegseuropa. Die Russen in diesem Motiv entstammen einem sarkastischen Witz und der Angst seines Chefs Röhrich vor ›den Russen‹ – als eine typische Form von Alltagsrassismus der 1980er Jahre. Aber diese Angst ist in Syrien aktuell real. Menschen sterben aufgrund der russischen ›Intervention‹ in Syrien. Und wenn man uns vorwirft, unseren Kindheitshelden politische Botschaften einzupflanzen, sagen wir einfach: »Nein, das tun wir nicht, Werner hat die Russen immer gesucht«.



Abb. 8 und 9: Junior aus Carlson vom Dach, Idlib 2020 (Graffiti: Aziz Alasmar; Fotos: Azaldenalqasem)

Carlson ist ursprünglich eine literarische Figur, die von der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren erfunden wurde und deren Geschichten verfilmt wurden. Carlson lebt in einem kleinen Haus auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses in Stockholm, in derselben Gegend, in der auch Astrid Lindgren selbst wohnte. Sein bester Freund ist ein siebenjähriger Junge mit dem Spitznamen Junior. Carlson kann fliegen. Er hat einen Propeller auf dem Rücken, der mit einem Knopf auf seinem Bauch an- oder ausgeschaltet wird.

In der schwedischen Version wird Carlson als kleiner, dicker, selbstbewusster Mann beschrieben und ist ein ziemlich egoistisches Wesen. Der sowjetische Carlson ist jedoch das genaue Gegenteil des schwedischen. Der Charakter ist recht selbstbewusst und hat seine eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, die sich zwar von konventionellen Ansichten unterscheiden mögen, aber dennoch in ihrer Grundlage wahr sind. Die russische Übersetzung von Lillian Lungina spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines solchen neuen Carlson-Bildes. Auf unserem Bild haben wir in der Originalsprache geschrieben: »Когта-то Карлсон жил на крише«, was soviel bedeutet wie »Als Carlson auf dem Dach lebte«. Wir stellten ihn als denjenigen dar, der auf dem Dach bei russischen Luftangriffen ums Leben kam. Carlson starb und die Träume tausender Kinder starben mit ihm.

Abb. 10 und 11: Winnie-the-Pooh, Idlib 2020 (Graffiti: Aziz Alasmar; Fotos: Azaldenalqasem)

Diese Version von Winnie-
the-Pooh ist eine Figur aus einer Serie von drei sowjetischen handgezeichneten Zeichentrickfilmen, die auf
dem gleichnamigen Märchen von Alan Milne basieren. Der sowjetische Winnie-the-Pooh wurde von dem Übersetzer Boris Zakhoder geschaffen. Hier ist Winnie-the-Pooh naiv und gutmütig. Seine Lieblingsbeschäftigungen sind Gedichte erfinden und Honig essen. Pooh hat »Angst vor langen Worten«, er ist vergesslich, aber oft kommen ihm brillante Ideen. Die Figur des Pooh, der unter ›Mangel an Vernunft‹ leidet, gleichzeitig aber ›der große naive Weise‹ ist, wird auch mit Archetypen der Weltliteratur in Verbindung gebracht. Boris Zakhoder vergleicht ihn mit den Charakteren von Don Quijote, Hamlet und des braven Soldaten Schwejk des Antikriegsromans von Jaroslav Hasek.

Auf unserem Gemälde schaut Winnie-the-Pooh auf den Schwanz seines Freundes Esel, mit einem Band, das mit den Farben der syrischen Flagge bemalt ist. Es ist unser Versuch, die vollständige Kapitulation der syrischen Regierung vor der modernen russischen Invasion zu zeigen.

Postscript Die Gemälde befinden sich in einem Kriegsgebiet. Die liebsten Erinnerungen und besten Momente, die Menschen mit diesen Figuren erlebt haben, sind auf einer kalten, staubigen Wand in Idlib, Syrien festgehalten. Kinder werden an unseren Gemälden vorbeigehen und wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, die Worte auszusprechen. Eine ganze Generation wurde geboren und hat nie eine Schule gesehen oder die kalten Oberflächen einer Klassenbank gefühlt. Unsere Figuren werden nicht in gemütlichen Häusern mit Kaminen gemalt. Der Krieg wird weitergehen, und die farbenfrohen Erinnerungen werden sich einem Stück von Francis Bacon zuwenden. Die Aussetzung ist nichts anderes als die Zeit, die reglos vergeht.

In einer Mail vom Juni 2022 hat sich der Künstler Aziz Alasmar zu dem Projekt geäußert: »We were glad to paint on the destroyed wall of our city Idlib, Syria. The homes that got destroyed by the savage dictator Bashar alAssad. Painting those characters, which are loved by children in Europe and all over the world, gave our children a pause from the harsh reality of war and its atrocities. We try to minimise the damage by colours and art. We wish peace for all, safety to our kids and future generations.«

Diese Bilder sollen eine freundliche Geste aussenden. Um etwas zu verbreiten, das viele Menschen in Europa, den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und den USA kennen. Vielleicht machen wir keinen großen Unterschied, aber wir haben sicherlich eine farbenfrohe Veränderung erreicht. Wenigstens haben wir eine bunte Wand in einem sehr dunklen Krieg hergestellt.

Weitere Fotos und Videos mit dem Prozess des Zeichnens aller Charaktere können unter diesem Link angesehen werden: https://drive.google.com/drive...

Bildnachweise

Abb. 1: Mohammad Jamalo: The George Floyd memorial in Syria. (2020). A George Floyd Memorial Has Been Unveiled in Syria. In: Vogue. URL: https://en.vogue.me/culture/ge... _Zugriff: 3.06.2020.

Abb. 2: Junior und Carlson, der auf dem Dach wohnt. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. URL https://ru.wikipedia.org/wiki/... E%D0%BD _Zugriff: 24.06.2019.

Abb. 3: Das Zeichen der UdSSR. Winnie-the-Pooh. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/...() _Zugriff: 21.01.2006.

Abb. 4–11: Wandgemälde/Graffiti: Aziz Alasmar; Fotos: Azaldenalqasem, Idlib 2020.

Fussnoten