HOW TO


1. Finde eine Aktivität, die du analysieren möchtest.


2. Gehe in einen Schreibwarenladen und kaufe einen Beutel Kulleraugen. Klebe die Kulleraugen auf Dinge, die du in der Aktivität (1.) benutzen wirst.

3. Beginne die Aktivität aus Schritt 1. (gemeinsam mit den kulleräugigen Dingen!).

Stell dir vor, die Dinge …

… tun etwas mit dir zusammen (Der Stift schreibt z. B. nicht ohne dich, aber du auch nicht ohne den Stift, ihr arbeitet zusammen)

… sind in einem stillen Austausch mit dir: Was lassen sie dich wissen? Was möchten sie? Was schlagen sie vor? Und: Wie antwortest du? Welche Vorschläge nimmst du an, welche ignorierst du? Wie helfen dir die Dinge, wie hindern sie dich?

4. Schreibe auf, was ihr – du und die Dinge – getan habt.

Hinweis: Das Experiment lässt sich einzeln oder in einer Gruppe durchführen.


Diskussion

Das Experiment entstand aus einem Interesse an Akteur-Netzwerk-Theorie und symmetrischer Behandlung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen: Was, wenn Dinge nicht als passiv gedacht werden, sondern auch handeln, stören, helfen?

Ein Beispiel für diese Denkweise findet sich in Michel Callons Some elements of a sociology of translation: domestication of the scallops and the fishermen of St Brieuc Bay (1984). Callon schreibt über Verhandlungen zwischen Muscheln, Wissenschaftler:innen und Fischer:innen und den Wunsch, diese Gruppen zur Zusammenarbeit zu bewegen. Menschen und Muscheln werden dabei mit denselben Worten beschrieben: Beide haben Interessen, beide verhandeln miteinander.

Der theoretische Hintergrund dieser Methode ist in Bruno Latours Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft erklärt (2010: 184). Sein Text weist darauf hin, dass ein Ziel der Akteur-Netzwerk-Theorie darin besteht, »die relative Widerstandsfähigkeit der Grenzen zu testen, die der gesunde Menschenverstand glaubt ziehen zu müssen«, hier also, dass man Dinge und Menschen nicht mit demselben Vokabular beschreiben sollte; dass beide getrennten Welten angehören sollten.

Die Kulleraugen kommen leider nicht aus akademischen Publikationen. Ich weiß auch nicht mehr, wie mir das eingefallen ist, aber der Anthropologe Ryan Gomes-James zeigt einen kulleräugigen Türschließer in seinem zweiminütigen Video zur Akteur-Netzwerk-
Theorie (2021). Damit bezieht er sich auf Latours Türschließer-Text (1988), in dem die Zusammenarbeit von Menschen und Nicht-Menschen anhand einer Alltagskrise diskutiert wird: Der Türschließmechanismus ist kaputt und »streikt«. Dieser störrisch handelnde Türschließer hat in Gomes-James Video Kulleraugen – als Hinweis auf seinen Stand als Akteur.

Das Experiment kann als ein »Soziologischer Trick« (Becker/Hoebel 2021) funktionieren: Was kann ich alles entdecken, wenn ich annehme, dass Dinge handeln, dass sie mit mir in einem Austausch sind? Das Experiment ist hier eine Anleitung der Aufmerksamkeit im Sinne Ingolds (2017). Das führt auch dazu, dass die Anleitung selbst vermutlich kaum in der zu analysierenden Tätigkeit zu Rate gezogen wird, sondern eher eine Vorbereitung und Einstimmung sein soll. Es wäre auch eher hinderlich, wenn man während der zu analysierenden Aktivität immer noch mal reinschauen muss: »Oh, was war noch gleich der nächste Schritt?«. Die Kulleraugen machen dabei etwas Ähnliches wie die Anleitung – sie lenken die Aufmerksamkeit auf mögliche Handlungen oder Denkweisen – aber anders als die Anleitung sind sie einfach Teil der Aktivität.

Statt Kulleraugen könnte auch eine andere in die Situation eingebettete Erinnerung für den Akteur-Status der Dinge genutzt werden, wie z. B. Hände oder Ohren. Der Grund, Kulleraugen zu benutzen, ist vor allem, dass sich diese in Schreibwaren- und Bastelgeschäften einfach kaufen lassen und sich (manchmal schon selbstklebend!) leicht an Gegenständen befestigen lassen.

Ich habe die Übung in einem Seminar eingesetzt, um über Akteur-Netzwerk-Theorie zu sprechen, und sie ist durch Akteur-Netzwerk-Theorie inspiriert. Aber auch wenn Latour in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie Dingen explizit keine Intentionen zuschreibt (2010: 123), ist es in der Übung vollkommen legitim und interessant zu sagen, dass die Haarbürste etwas will, nicht nur, dass sie etwas tut. Die Übung könnte auch genutzt werden, um über Animismus oder Metapersonen 
(Sahlins/Henry 2022) zu sprechen, ist aber auch dort keine direkte Widerspiegelung der Theorie. Mein Interesse liegt weniger darin, die Ansichten einer bestimmten Theorie in dem Experiment zu spiegeln, sondern vor allem darin, mit den Studierenden neue Denkweisen auszuprobieren und zu schauen, wohin diese führen.

Das Befestigen von Kulleraugen an Gegenständen überschreitet eine der von Latour erwähnten Grenzen des »gesunden Menschenverstandes«: Es ist unvernünftig und nicht erwachsen. Das kann im Experiment sowohl befreiend als auch befremdlich wirken: Als ich die Übung mit Studierenden ausprobierte, hat sich gezeigt, dass die Idee der handelnden Dinge so unvernünftig sein kann, dass die Übung gar nicht gemacht wird, oder zumindest vor Mitbewohner:innen oder der Familie versteckt. Andere begeisterten sich für die Übung und traten in lange Dialoge mit den Dingen:

Eine Studentin beschrieb, wie Haarbürste, Glätteisen und Haarklammer für glatte, glänzende Haare zusammenarbeiten und ihre eigenen Aufgaben dabei besonders wichtig finden. Ein Student erzählte, wie beim Umtopfen der Zimmerpflanzen die Schaufel dazu drängt, eine große Menge Erde zu nehmen und durch kratzende Geräusche erinnert, beim Umtopfen vorsichtiger zu sein.

Die durch die Übung vorgeschlagene Denkweise und die Kulleraugen mögen für manche Menschen befremdlich sein. Das liegt vielleicht auch daran, dass es das Privileg des Erwachsenseins untergräbt, denn Kinder z.B. dürfen Dinge als belebt behandeln und es gibt passend dazu auch eine Menge Dinge mit Augen für Kinder zu kaufen oder als Film anzuschauen. In den meisten Medien spielt die Zusammenarbeit der Dinge mit Menschen keine große Rolle, die Dinge handeln praktisch wie Menschen. Es gibt aber interessante Ausnahmen, z.B. Michel Weinbergs Washer and Dryer’s Big Job (2021), ein Kinderbuch über die »großen Aufgaben«, die eine Waschmaschine und ein Trockner haben und woraus diese Aufgaben bestehen und, am Rande, auch, was die Menschen tun müssen (Waschmittel einfüllen, Knöpfe drücken, etc.). Das Gimmick des Buches sind die großen Kulleraugen der Geräte.

Außerhalb von Medien und Gegenständen für Kinder finden sich Kulleraugen leider selten, eine Ausnahme ist der Film Everything Everywhere All at Once (Kwan/Scheinert 2022). Wenn auch für Erwachsene gedacht, ist vieles in dem Film ebenfalls unvernünftig: Evelyn Wang, Besitzerin eines strauchelnden Waschsalons, kämpft mit dem Finanzamt und gegen die Zerstörung des Multiversums durch einen nihilistischen Bagel. Ihr Ehemann Waymond scheint nicht besonders hilfreich zu sein: Er backt Plätzchen und klebt den Wäschesäcken Kulleraugen auf. Doch Waymonds Empathie und Aufmerksamkeit für Mitmenschen und -dinge stellen sich als wichtig für die Rettung des Multiversums und die Steuererklärung heraus.

Trotz Kulleraugen wird die Übung vermutlich nicht das 
Multiversum retten, manchmal lernt man auch nichts über über Akteur-Netzwerk-Theorie, Animismus oder Metapersonen. In dem Fall hat man vielleicht auch einfach Spaß daran, seine Handlungen und die Dinge darin neu kennenzulernen.

Literatur

Becker, Howard Saul, und Thomas Hoebel (2021): 
»Soziologische Tricks: wie wir über 
Forschung nachdenken können.« Übersetzt von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann. 1. Auflage. Hamburg: 
Hamburger Edition.

Callon, Michel (1984):
»Some elements of a sociology of 
translation: domestication of the scallops and the fishermen of St Brieuc Bay«. The Sociological Review 32 (1_suppl): 196–233.

Ingold, Tim (2017):

»Anthropology and/as Education« 
Abingdon, Oxon ; New York, NY: Routledge.

James, Ryan, Reg (2021):
»ACTOR-NETWORK THEORY explained 
in two minutes.« https://www.youtube.com/watch?....

Johnson, Jim/ Latour, Bruno (1988):
»Mixing Humans and Nonhumans« Together: The Sociology of a Door-Closer. Social Problems 35 (3): 298–310.

Latour, Bruno (2010):
»Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.« Übersetzt von Gustav Roßler. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Sahlins, Marshall/ Henry, Frederick B. (2022):
»The New Science of the Enchanted 
Universe: An Anthropology of Most 
of Humanity« Princeton (N.J.): 
Princeton University Press.

Weinberg, Steven. 2021:
»Washer and Dryer’s Big Job.« New York: Roaring Brook Press.