HOW TO
Protokolle
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Wir haben die folgenden 13 Protokolle als Methodik entwickelt, die als Orientierungshilfe bei der Entstehung unserer Workshops und Interventionen dient. Sie sind Work-in-Progress:
I. Leiste Arbeit, die Freude bereitet und noch für die skeptischste Person im Raum transformativ sein kann.
Ein zugeknöpfter, professoral aussehender Typ geht während der Amateur Drag Night in eine Bar. Er will einen Drink, um seine verhärteten Gefühle von Versagen und Traurigkeit zu verflüssigen, damit er in den hinteren Teil des Raumes verschwinden kann. Seine Arme sind verschränkt und seine Skepsis umgibt ihn mit einem dichten Nebel, dem sich niemand um ihn herum nähern kann. Obwohl die Queens sich von ihm fernhalten wollen, ist er die Person, die heute Abend eine Verwandlung benötigt, selbst wenn er alle Versuche, ihn aus seinem Elend zu befreien, bekämpfen wird. Das ist deine Chance, etwas zu riskieren.
II. Es darf lustig sein, aber es ist niemals ein Scherz
Bist du jemals vom Gespenst der totalen Möglichkeit gekitzelt worden? Hat dich die Vorstellung einer gewaltsamen Revolution jemals mit einer jubilierenden und ängstlichen Energie zum Kichern gebracht? Solche Dinge zu diskutieren (Revolution, Vergeltung, Befreiung) ist das Gegenteil davon, einen Witz zu erzählen. Aber es ist auf merkwürdige Weise lustig, sich der Wahrheit zu nähern oder in Kontakt mit seinen verschiedenen gesellschaftszerrüttenden Wünschen zu kommen.
III. Sei gerissen, nicht clever. Sei gegenwärtig,
nicht »zeitgemäß«
Wer clever ist, ist wie ein Pfau: Das Köpfchen ist allein dazu da, Federn zu tragen. Bei ihrer Cleverness geht es darum, für die eigenen Dienstleistungen zu werben und die Aufmerksamkeit erneut auf ihren eigenen kleinen Schwanz zu lenken. Gerissen zu sein bedeutet, ein wandelndes Schweizer Armeemesser zu sein: eine unerwartete Anzahl von scharfen Fähigkeiten, Ideen und Energien zu haben, um auf das ständige Bedürfnis zu reagieren, die Isonomie zu schützen und herbeizuführen. Es bedeutet weiter, in der Lage zu sein, jede Situation für alle Anwesenden im gegenwärtigen Moment zu verbessern, ohne dabei einer theoretischen Vorstellung des »Zeitgenössischen« entsprechen zu wollen. Letztere ist immer durch Historiker*innen definiert, die versuchen, subtile Lügen über die Geschichte zu erzählen.
IV. Arbeite aus dem Zorn darüber, was wir aus uns gemacht haben. Hab Vertrauen in das, was aus uns werden könnte.
Liebe, was möglich ist, und tue dies mit einer Rate von mindestens 65 %, verglichen mit einem Maximum von 35 % Enttäuschung, gebrochenem Vertrauen oder bösem Blut. #Loveflowsup
V. Gib dich nie mit dem Spektakel allein zufrieden
Wir gehen davon aus, dass das Spektakel mit dem Symbolischen verbunden ist, während der radikale Wille in der materiellen Welt in Transformationen umgesetzt werden kann und sollte. Künstler*innen lernen, dass ihre Arbeit für die praktische Anwendung zu radikal sein sollte, obwohl unsere aktuellen Krisen radikale Lösungen mit großen psychischen, imaginären und theoretisch komplexen Grundlagen verlangen.
VI. Nutze temporäre Kraft, um nachhaltige, wenn auch unmessbare Transformationen zu bewirken
Wenn Menschen oder Institutionen dir ihr Vertrauen schenken, ob du nun Servicemitarbeiter*in, Performance-Künstler*in, Praktikant*in oder Sekretär*in bist, solltest du deine Position ausnutzen, um deine eigenen Bedingungen zu verändern, und somit die Bedingungen derer, die denken oder handeln, als besäßen sie Macht über dich.
VII. Hol dir die Verzauberungsmittel zurück
Du wurdest reingelegt. Wie das Fast Food, das uns mit seinem Salz und Fett quält, führt uns der Kapitalismus hinters Licht, indem er uns dazu bringt, nach Nahrung zu suchen, während er uns von innen heraus tötet. Die mystische Realität, die wir zu lieben gelernt haben und nach der wir süchtig sind, sagt uns, dass dir, solange du gehorsam bist, die Macht fürchtest und die Regeln nie in Frage stellst, wahrscheinlich eine Chance gegeben wird, eine unmögliche Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu überleben. Deine Aufgabe ist es hingegen, Momente zu schaffen, in denen Menschen natürlich vorkommende menschliche Kräfte der Zusammenarbeit erfahren können, die das Gegenteil der Magie der zentralisierten Macht sind, die immer süchtig machend und endlos sind. Wähle Tiere.
VIII. Verbinde soziale Intuition mit rigoroser Forschung
Unsere Erkenntnisweisen wurden durch die Metastruktur der »Universität« kommodifiziert und durch Schulden, Hierarchie und Rassismus gegen uns gewendet. Deine Intuition ist kostenlos und du kannst den Universitätsabschluss immer noch retten, indem du deine Forschungsmethoden nutzt, um deine Intuition zu stärken. Sie ist eine Macht, die dich immer dabei unterstützt, repressive Formen der Macht zu untergraben.
IX. Schlag immer nach »oben«; attackiere die Macht, nicht die Symptome
Jede*r, die*den du kennst, hat die schlimmsten Aspekte des Kapitalismus, des Patriarchats, der weißen Vorherrschaft und des Ökozids verinnerlicht. Es ist schwer, sie oder dich nicht schlagen zu wollen. Du solltest dich jedoch nicht verwirren lassen. Es ist deine Aufgabe, diejenigen zu schlagen, die die Kontrolle haben, die leichtfertige Entscheidungen getroffen haben, die uns in eine Lage der Hilflosigkeit bringen, während der Planet brennt.
X. Wenn es kein Risiko gibt, lohnt es sich nicht, es zu tun.
Als Subjekt, das die Finanzialisierung überlebt hat, wurdest du dazu gebracht, bei allem, was du tust, den Tiefseedruck eines unkontrollierbaren Risikos zu spüren. Diese Risiken wurden nicht nur geschaffen, damit manche Drecksäcke viel Geld verdienen, sondern um sicherzustellen, dass du nicht zu einer Bedrohung für die Normativität wirst. Um dich auf die Veränderungen vorzubereiten, die für das Überleben der Spezies notwendig sind, musst du zu Erfahrungen übergehen, die dein Nervensystem herausfordern, deine Fähigkeiten testen und dich über deine natürlich auftretende Resilienz unterrichten.
XI. Mache die Würde zu einer Waffe
Jede Person hat Würde und weder Roboter noch Unternehmen werden jemals eine haben. Deine Aufgabe ist es, jedes Lebewesen darin zu unterstützen, dies in Bezug auf sich selbst und andere zu verstehen. Wenn du das als Leitlinie an die Spitze deines Post-Work-Lebenslaufes stellst, wirst du alle Momente sabotieren, in denen du Zeug*in wirst, wie deine oder die Würde eines anderen Lebewesens in Frage gestellt wird.
XII. Finde das »Wir«, das ganz offen versteckt ist
Du wurdest dazu gebracht, zu glauben, dass du ein besonderes Individuum bist, und dass deine Rolle zu mindestens 50 % aus Wettbewerb und Marktforschung besteht, um sicherzustellen, dass du bei deinem sehr spezialisierten Spiel in Bestform agierst. Der # 1 US -Dichter* sagt etwas, dem wir zustimmen, du kannst dich also entspannen: »Jeder ist für ein bestimmtes Werk geschaffen, und der Wunsch nach diesem Werk wurde in jedes Herz gelegt.« Wenn du weißt, dass du und jedes andere Wesen auch einen Platz auf dem Planeten und in der Gesellschaft hat, wie lassen sich dann neue Wege der Zusammenarbeit finden, obwohl dir beigebracht wurde, mit anderen zu konkurrieren?
XIII. Das einzig mögliche Verhältnis zu {X} ist ein kriminelles: alle Macht den Undercommons
Es ist wichtig, dass du dich selbst und deine Energie als Teil eines massiven Wiederauflebens von unten siehst. Jede mächtige Institution nimmt an der Errichtung des kriminellen Wertesystems teil, dem wir uns jetzt widersetzen. Dieses hat die weiße Vorherrschaft und eine grausame und strafende Finanzstruktur unterstützt, die zu unserer gegenwärtigen Situation geführt hat, in der die meisten Menschen aufgrund von Armut, Krankheit, vergiftetem Wasser, Krieg, Depression oder Völkermord nicht überleben. Wenn du »ihre« Macht benutzt, um deine Macht zu verstärken oder zu erweitern, reproduzierst du die Systeme, die dich zu einem elenden, isolierten Individuum auf einem Planeten machen, der will, dass du verschwindest. Wenn von dir verlangt wird, dich mit einer mächtigen Institution zu identifizieren oder innerhalb dieser zu arbeiten, musst du dich daran erinnern, dass du da bist, um sie zu zerschlagen. Du wirst nie mit den Mächtigen sympathisieren.
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S Z E N A R I E N
1. Der unsterbliche Fremde (Sevilla)
Die Herausforderung
Ende 2016 wurde die UotP von Flo6x8 nach Sevilla eingeladen,
einem Guerilla-Flamenco-Tanzkollektiv, das während
der Krise in der Eurozone mit kühnen, koordinierten
Tanznummern bekannt geworden war, bei denen
Banken besetzt und vorübergehend geschlossen worden
waren. Allerdings schien diese Strategie aus mehreren
Gründen nicht mehr angemessen auf zwei wichtige
Faktoren zu reagieren. Vor kurzem hatte die spanische
Regierung ein strafendes »Knebelgesetz« (Gag Law) verabschiedet,
das protestierende Aktivist*innen mit harten
Bußgeldern bestrafte. Unterdessen waren die Geister
durch jahrelange Kämpfe an der Basis geschwächt,
die nur zu einer tieferen Verankerung der Austerität
geführt haben. Zweitens wünschten sich die Organisator*
innen eine größere Reichweite ihrer Arbeit –
wie konnte das Spektakel in etwas verwandelt werden,
das stärker in bestehende oder neue soziale Bewegungen
integriert ist? Die Herausforderung bestand darin,
mit lokalen Aktivist*innen in Sevilla, darunter Flo6x8
und Mitglieder der militanten Wohnungsrechtsorganisation
Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH),
zusammenzuarbeiten und neue Ideen zu entwickeln,
wie sich die extraktive Schuldenwirtschaft mit den
Taktiken, Werkzeugen und Fähigkeiten stören
ließe, die FLo6x8 bereits in Spanien entwickelt
und erfolgreich umgesetzt hat.





Unser Ansatz
Unsere Programmgestaltung in Sevilla bestand aus zwei
Komponenten. Zunächst entwickelten wir mit der
lokalen PAH-Gruppe einen Workshop für Flo6x8-
Organisator*innen, Tänzer*innen und Aktivist*innen,
von denen sich die meisten mit Zwangsräumung
oder Wohnungsschulden konfrontiert sahen. Bereits
seit einigen Jahren hat die University of the Phoenix
mit einem Problemstudenten zu tun: dem Geist von
Christoph Kolumbus. Hier waren wir in seiner Heimatstadt!
Wir nutzten die Gelegenheit, um unseren Workshop
für Aktivist*innen so zu gestalten, dass die verschiedenen
Weisen im Mittelpunkt standen, in denen
das extraktive Strafregime der Austerität präsent ist,
wie das Erbe des gewalttätigen Kolonialismus, repräsentiert
durch Kolumbus.
Der Workshop begann mit einem partizipativen Vortrag,
der skizzierte, auf welche Weise das Austeritätsregime
einer kolonialen Logik gehorcht, die auf der Kontrolle
von Körpern und Bewegung basiert. Wir stellten die
neoliberale Ordnung, die dem freien globalen Kapitalverkehr
Priorität einräumt, der Art und Weise entgegen,
wie diese Ordnung durch die Beschränkung und
Gestaltung der Bewegungen von Individuen und auch
unserer kollektiven und kooperativen Bewegung aufrechterhalten
wird. Auf der einen Seite nutzt der Kapitalismus
die sanktionierende Macht des Geldes, um zu
modellieren, wie wir uns in der Welt bewegen, weshalb
wir die Teilnehmer*innen baten, durch kreative Bewegungsübungen
zu ›fühlen‹, wie Schulden in ihrem Körper
verankert werden. Wir untersuchten auch, wie der
Kapitalismus davon abhängt, wie wir unsere gemeinsame
Bewegung gestalten, wie wir bei der Reproduktion
der Welt durch unsere Beziehungen und unsere Arbeit
zusammenarbeiten.
Als nächstes führten wir eine meditative und
kreative Übung mit dem Titel »Dead in my
Pocket« durch, bei der lebende Teilnehmer*innen eine
Verbindung zu den toten Absolvent*innen der Universi-
ty of the Phoenix herstellten. Die Lebenden meditierten
intensiv über die verkörperte Erfahrung, von Schulden,
finanzieller Isolation und Angst gefangen oder einge-
schränkt zu sein, und hießen dann in diesem Raum den
Geist einer Person (historisch, fiktiv oder persönlich)
willkommen, die sie inspiriert und gestärkt hat. Sie bau-
ten eine dauerhafte Beziehung zu ihr auf, indem sie die
tote Person fragten, was sie im Austausch für ihre Unter-
stützung haben wolle. Um diese Beziehung zu bekräfti-
gen, unterschrieben die Lebenden einen Vertrag mit den
Toten, den die lebende Person in ihrer Brieftasche mit
sich führen konnte. Der Vertrag wurde auf diese Weise
zu einer leicht zugänglichen Erinnerung, gleich in der
Nähe ihrer Geld- und Kreditkarten, die die Lebenden in
der Zukunft beschützen würde.
Auf diese Weise vorbereitet, wurde der letzte Teil des Work-
shops von der Flo6x8-Aktivistin Niña Ninja, einer pro-
minenten Flamenco-Performerin und Lehrerin, geleitet.
Sie arbeitete eng mit lebenden Teilnehmer*innen und
ihren toten Partner*innen zusammen, um eine kollek-
tive Flamenco-Intervention für ihren nächsten Angriff
auf die Banken zu choreographieren. Diese Choreogra-
phie brachte mutige, leidenschaftliche Bewegungen von
Rebellion, Trauer und Protest hervor, die aus der verkör-
perten Aufführung von Krankheit, Schwäche und Angst
heraus entstanden, die der Finanzterrorismus dem Kör-
per einflößt.
Diese choreographierte Nummer war Teil einer späteren
Intervention von Flo6x8, die Anfang 2017 in einer Fili-
ale der Caixa Bank stattfand und auf einem Video fest-
gehalten wurde.↗flo6x8.com/content/flo6x8-do%C3%B1ana-y-el-tulip%C3%A1n-africano-sole%C3%A1↙
Diese Intervention legte den Schwerpunkt auf die Verurtei-
lung der Bank für ihre Unterstützung eines Forschungs-
projekts, das mit Hilfe von Fracking-Techniken Erdgas
in einem nahegelegenen Naturschutzgebiet fördern soll.
Die von Flo6x8 für diese Intervention entwickelte
Flamenco Song- und Tanznummer, stellte den
Zusammenhang zwischen dieser Form des rücksichts-
losen, spekulativen Extraktivismus und der Extraktion-
durch-Schulden, unter der PAH und andere Gruppen zu
leiden haben, sowie dem Kontinuum mit den Gespens-
tern des Kolonialismus her.
Nach der Intervention in der Bankfiliale (die schnell erfolgte,
um der Ankunft der Behörden und der Verwundbarkeit
durch das »Knebelgesetz« (Gag Law) zu entgehen) zogen
die versammelten Tänzer*innen und Aktivist*innen zu
einem kürzlich errichteten Wolkenkratzer am Rande der
Innenstadt von Sevilla weiter, einem vielgehassten Bau-
projekt, in das die Caixa Bank stark involviert war. Dort
intensivierten die Tänzer*innen ihre Bewegung und
ihren Gesang und verfluchten das Hochhaus, die Bank
und die von ihnen repräsentierte Ordnung der Austeri-
tät. Ihre Performance gipfelte im Wurf von Samenbom-
ben auf das Hochhaus, welche den Unsterblichen Frem-
den – den Präsidenten der University of the Phoenix, ein
mächtiger blühender Baum – enthielten. Das Video, das
nach der Intervention produziert wurde, untersucht die
Fantasie / alternative Realität, in der der Baum Rache an
dem Hochhaus nimmt und es von innen zerstört.
Vokabular, das man sich merken sollte: Rache-Consulting Kolonialismus Intervention Schulden Extraktivismus »Knebelgesetz« (Gag Law)
Schlüsselpersonen: The PAH Flo6x8 Der unsterbliche Fremde
2. Ghostmachine (Berlin)
Die Herausforderung
3. Geister gegen die Grenze kotzen (Wien)
Die Herausforderung
Die University of the Phoenix hatte die Ehre mit einem
Beitrag zum bahnbrechenden Microperformativity Sum-
mit eingeladen zu werden. Dabei handelt es sich um
ein Treffen von Wissenschaftler*innen, Künstler*innen
und Theoretiker*innen, das die Verbindung von drei
Themen untersucht: performative Kunst, Öko-
nomie und Mikrobiologie. Dieses Treffen wurde
teils durch das wachsende kapitalistische Interesse
an Mikroben für patentierte medizinische Behandlun-
gen, industrielle Anwendungen und Biopiraterie sowie
durch das überschäumende neue Denken zu mensch-
licher und mehr-als-menschlicher Zusammenarbeit
und Verwandtschaftsbildung inspiriert. Mikroben
haben, ähnlich wie Geister, einen massiven Einfluss
auf die lebenden menschlichen Subjekte, die sie in
ihren Eingeweiden, auf ihrer Haut und anderswo in und
auf ihrem Körper tragen. Bedenkt man, dass über die
Hälfte der Zellen ›in‹ einem menschlichen Körper nicht
›menschlich‹ sind und schätzungsweise 30 % unserer
Körpermasse aus nicht-menschlichen Zellen besteht,
ist es angebracht, den ›Menschen‹ als ein Gemein-
schaftsprojekt vieler verschiedener Lebensformen
zu verstehen. Unserer Einladung lag der Wunsch der
Organisator*innen zugrunde, die Verbindung zwischen
unseren bakteriellen Lehnsherr*innen (des Menschen)
und dem globalen Finanzsystem herzustellen.
Unser Ansatz
Das Gipfeltreffen sollte in Wien stattfinden, der Hauptstadt
einer Nation, deren Anti-Migrant*innenpolitik internati-
onal bekannt geworden ist, in der aber auch heftige Pro-
teste gegen diese Maßnahmen stattfinden. Als wir uns
daransetzten, von einer Zusammenarbeit zwischen den
Geistern der Toten und den Mikroben zu träumen, wur-
de schnell klar, dass beide ungeduldig und sogar anta-
gonistisch gegenüber dem künstlichen und imaginären
Aufzwingen von Grenzen sind, welche sowohl von Geis-
tern als auch Mikroben fast vollständig ignoriert wer-
den. Die Grenze wurde hier nicht nur als geografische
Grenze zwischen Nationalstaaten gefasst, sondern als
eine Art Metamethodik der Macht, die aus der Geschich-
te des Imperialismus, der extraktiven Technowissen-
schaften und des weiß-suprematistischen kapitalisti-
schen Patriarchats geboren wurde: Das Beharren auf
festen und kategorischen Trennungen trotzt
der poetischen Aktualität der Welt.
Wie immer begannen unsere Aktivitäten, die am zweiten
Abend des Gipfels stattfanden, mit einem partizipati-
ven Vortrag, der den Rahmen skizzierte: Die Grenze
ist ein böser Geist, eine spektrale und spukende Prä-
senz, die unsere Vorstellungen zunehmend dominiert,
Bewegungen, Beziehungen und die Ökonomien des
Austauschs mit katastrophalen Folgen kontrolliert und
verzerrt. Der Vortrag fand in einem Raum statt, der in
zwei lange Reihen von sechs Sitzplätzen umgestaltet
wurde, die von einem Gang getrennt wurden, der an
ein Flugzeug erinnerte. Mit bedrohlich aussehenden
Charakteren (Flugbegleiter*innen / Sicherheitsbediens-
tete), die die Teilnehmer*innen von der Vorderseite des
Raumes aus anstarrten, erschien der Raum als eine Art
Alptraumflug. Ein Effekt, der durch die Unterbrechung
des Vortrags in mehreren Intervallen durch ein »Pre-
Flight-Sicherheitsvideo« auf nahegelegenen Bildschir-
men verstärkt wurde. Diese Videos gipfelten in dem ins-
pirierenden Handy-Video einer jungen Schwedin (Elin
Ersson), die sich vor einigen Monaten beim Start eines
Fluges, bei dem auch mehrere Menschen an Bord waren,
die aus Stockholm abgeschoben und dem wahrschein-
lichen Tod in Pakistan ausgesetzt werden sollten, mit
einer geplanten Aktion geweigert hatte, sich hinzuset-
zen. ↗
↙ Nachdem der
Vortrag mit dem Argument beendet worden war, dass
wir als kollaborative Organismen daran arbeiten müs-
sen, die Grenze und das Konzept der Grenzen (politisch,
ideologisch, wirtschaftlich) abzuschaffen, begannen
die Flugbegleiter*innen / Sicherheitsbediensteten im
Anschluss an das Video, »Passagiere« schroff auszu-
wählen und mit ihnen aus dem Raum zu marschieren.
In der zweiten Phase des Rituals stieg der Großteil der Pas-
sagiere in den Keller der Anlage hinab, um sich denen
anzuschließen, die von den Wachen ergriffen worden
waren. Dort nahmen alle an einer Art zirkulärem Ritu-
al der militanten, wohlwollenden Befragung teil. Alle
Teilnehmer*innenerhielteneineReihevonAnweisungen,
wie sie mit den Mikroben in ihrem Bauch zusam-
menarbeiten können, um auf diese Simulation der
Routinebefragung, mit der wir alle an der Grenze kon-
frontiert sind, zu reagieren und auf sie zu antworten:
Das Krankwerden im richtigen Moment würde es einer
Person erlauben, ein Spektakel zu schaffen, das die
unfreiwillige Grenzsicherung irritiert, oder sogar auf
teure und empfindliche biometrische Grenzsicherungs-
technologien zu erbrechen, was sie unwirksam macht.
Nach Abschluss dieses sehr intensiven und anstrengen-
den Trainings betraten die Teilnehmer*innen dann
einen dunklen Raum, in dem sie sich niederließen
und sich bereit erklärten, mit einem unserer Absol-
venten in Kontakt zu treten: einem Geist, der in ihren
Körper eindringen würde, um mit den Mikroben zu
verschmelzen, damit alle Parteien in Zukunft durch
direkte Aktionen gegen Grenzen zusammenarbeiten
konnten. Am Ende dieses Teils des Rituals öffnete sich
eine geheime Tür und es gab eine Prozession durch die
verschneiten Wiener Straßen vom Veranstaltungsort zu
einem unbestimmten Gebäude in der Innenstadt, dem
Hauptsitz des International Center for Migration Policy
Development (ICMPD) – einer großen Denkfabrik, die die
Politik und Einrichtungen für das Offshore-Manage-
ment von potenziellen Migrant*innen entwickelt. Mit
Internierungslagern in Ländern wie Georgien, Molda-
wien, Algerien, Äthiopien und der Türkei ist die ICMPD
führend bei der Verhinderung von Migration und der
Erweiterung der Grenze zu einem Netzwerk von Über-
wachungs- und Gefängnistechnologien, die letztlich mit
dem Tod Handel treiben. In ihrem Hauptquartier riefen
die Teilnehmer*innen die Zusammenarbeit von Geis-
tern und Mikroben auf, die sie früher am Abend in ihrem
Körper willkommen geheißen hatten, und benutzten sie,
um auf das Gebäude zu erbrechen, indem sie die Samen
des Unsterblichen Fremden ausstießen (und es so
befruchteten), in der Hoffnung, dass er gerechte Rache
nehmen würde.
Vokabular, das man sich merken sollte: Grenzsicherung Erbrochenes
Schlüsselpersonen: International Center for Migration Policy Development Institute for Applied Microperformativity Lucy Streicher Wien Bakterien Kata Mach